I. Einleitung
Der Sieg der rot-grünen Koalition war denkbar knapp, und der Auftrag an sie, die Regierung weiterzuführen, war gleichzeitig gespickt mit deutlicher Kritik einzelner Wählergruppen. Eine Mehrheit, wenn auch eine kleine, legitimiert zur Macht. Aber die Regierung ist gut beraten, die Kritik, die sich im Wahlergebnis ausdrückt, ernst zu nehmen. Vier Sitze über der so genannten Kanzlermehrheit
Den Ergebnissen der Meinungsumfragen aus den letzten zwei Monaten vor der Wahl konnte entnommen werden, dass es zu einem sehr knappen Resultat kommen würde. Aber auch zuvor musste aus den Stimmungsmessungen geschlossen werden, dass die Wahl keineswegs frühzeitig entschieden war. Denn die Mobilisierungsphasen für die jeweilige Klientel der Parteien, insbesondere für die beiden großen, verliefen sehr unterschiedlich.
Während die Unionsparteien ihre Stammwählerschaft schon sehr frühzeitig, unmittelbar nach der Nominierung ihres Kanzlerkandidaten, auf sich einstimmen und diese ohne Probleme auch bis zur Wahl halten konnten und bereits im Frühsommer auf dieser guten Ausgangsbasis zusätzliche Wähler aus dem großen und immer noch wachsenden Anteil parteilich Ungebundener gewannen, hatte die SPD lange Zeit große Schwierigkeiten, ihre Kernklientel zu mobilisieren. Das hatte sowohl mit eigenen Problemen wie dem Finanzskandal in Nordrhein-Westfalen zu tun als auch mit dem bis dahin erfolgreichen Wirtschaftswahlkampf der Union und dem doch sehr gemäßigten Auftreten von Edmund Stoiber, der als Person und auch mit seinen Aussagen kaum Angriffsflächen für die SPD bot. Erst in der heißen Phase des Wahlkampfes konnte die SPD mithilfe von Ereignissen, die dem Kanzler und der Regierung die Chance boten, Führungsfähigkeit zu zeigen, zusätzlich zu ihrer dann doch gut mobilisierten Stammwählerschaft die notwendige Unterstützung aus dem Kreis der mobilen Wähler gewinnen und zur Union aufschließen.
Auch in den Bundestagswahljahren 1994 und 1998 zeigte sich, dass ein deutlicher Umfragevorsprung der Oppositionsparteien bis über die Jahresmitte hinaus keineswegs eine Garantie für einen eindeutigen Wahlerfolg darstellt. Die gouvernementale Grundstimmung in der Wählerschaft, die man auch als einen grundsätzlichen Mangel an Wechselbereitschaft bezeichnen kann, verhinderte in der Schlussphase von Wahlkämpfen meistens den zuvor "sicheren" Sieg der Opposition. 1998 hatte sich der Vorsprung von Rot-Grün in den letzten beiden Monaten dramatisch verringert, und nach dem Erfolg der CSU in Bayern zwei Wochen vor dem Bundestagswahltermin 1998 schöpfte die Union durchaus die Hoffnung, auch diese Wahl - wie schon 1994 - im Endspurt gewinnen zu können. Allerdings herrschte im gesamten Wahljahr 1998 eine Wechselstimmung zugunsten der Opposition, die sich zwar zum Ende der Legislaturperiode etwas abschwächte, aber immer noch dominant blieb. Dagegen gewann das Gefühl, dass die Regierung abgewirtschaftet hatte, im Jahre 2002 nie wirklich die Überhand.
Bei einem Drittel der Wahlberechtigten ohne mittel- oder längerfristige Bindungen an Parteien, die das immer größer werdende Potenzial des Wechsels bilden und sich erfahrungsgemäß spät entscheiden, sind Prognosen mehrere Monate vor der Wahl kaum vertretbar. Zudem haben veränderte Wahlkampfstrategien der Parteien, die diesem Phänomen Rechnung tragen und sich sehr stark auf die heiße Phase des Wahlkampfs konzentrieren, in Verbindung mit der auch durch die TV-Duelle verstärkten Personalisierung die Volatilität der Wähler noch weiter vergrößert. Solche Entwicklungen erfordern auch von der Wahlforschung moderne und zeitnahe Instrumente der Wählerbeobachtung, welche die Meinungsbildungsprozesse gerade in Abhängigkeit von den jeweiligen Ereignissen realitätsnah nachzeichnen können.
II. Ausgangslage
Die abgelaufene Legislaturperiode ist von einem Auf und Ab der Leistungsbeurteilung von Regierung und Opposition gekennzeichnet, das seinesgleichen sucht (vgl. Abb.1,s. PDF-Version). Bei hohen Erwartungen an die Problemlösungsfähigkeit der neuen Regierung entstanden massive Enttäuschungen bereits im ersten Jahr, die sich sowohl in großen Verlusten der Regierungsparteien bei Landtagswahlen als auch in ständig schlechteren Bewertungen der Regierungsarbeit zeigten.
Dies war im Vergleich zu anderen Legislaturperioden eher "normal". Allerdings gab es zwei Ereignisse, die zu großen Veränderungen in der Beurteilung der Parteien führten. Innenpolitisch war dies die CDU-Spendenaffäre zur Jahreswende 1999/2000 und außenpolitisch waren es die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001. Diese außerordentlichen Ereignisse veränderten alles, was wir bisher über den Ablauf der Zufriedenheit mit Regierung und Opposition wussten.
Am Anfang der Regierung Schröder stand das Versprechen, "nicht vieles anders, aber vieles besser zu machen". Dies betraf sowohl den so genannten Reformstau in den Bereichen Steuern, Renten und Gesundheit als auch die Verbesserung der Arbeitsmarktlage, die sich am ehesten bei verbesserten Konjunkturdaten abzuzeichnen schien. Die Ungeduld insbesondere der Medien, aber auch der neu gewonnen Wähler der SPD aus dem Bereich der Wechselbereiten war im ersten Regierungsjahr groß. Die erste Landtagswahl nach der erfolgreichen Bundestagswahl (Hessen am 7. Februar 1999) ging für Rot-Grün verloren. "Doppelpass" und Zuwanderung waren für viele SPD-Wähler Themen, bei denen sie der Regierung nicht unbedingt folgten. Dagegen erreichte die CDU damit eine Mobilisierung ihrer Klientel, die ihr - zusammen mit der gerade mal über die Fünf-Prozent-Hürde gelangten FDP - einen äußerst knappen Sieg in Hessen verschaffte.
Die Debatten um den Atomausstieg und personelle Querelen in der SPD, die schließlich zum Rücktritt von Oskar Lafontaine als Parteivorsitzender und Finanzminister führten, waren die nächsten Belastungen für die SPD auf Bundesebene. Die Reformvorschläge für Renten und Steuern fanden keineswegs ungeteilte Zustimmung; dies galt insbesondere auch für eine Neuregelung der 630-DM-Jobs. Das Sparpaket des neuen Finanzministers Hans Eichel war in der öffentlichen Wahrnehmung der einzige Pluspunkt, aber es verhinderte nicht den steilen Rückgang der Zufriedenheitswerte für die Regierung bei nur kurzen Unterbrechungen bis zum September 1999. In dieser Zeit hatten die Regierungsparteien aber weitere fünf Landtagswahlen zu bestehen, die sie allesamt nur mit erheblichen Einbußen überstanden. Im Saarland wechselte die Regierung, in Brandenburg kam es zu einer großen Koalition. Die Ausnahme war Bremen, dort verloren die Grünen zwar kräftig, aber die SPD profitierte deutlich von der weitgehenden Auflösung der lokalen Partei AFB (Arbeit für Bremen und Bremerhaven). Insgesamt war das Jahr 1999 zumindest bis zum Herbst sowohl für die SPD als auch für die Grünen ein Debakel.
Die Union profitierte von dieser Entwicklung in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Bereits im Juni war sie bei Stimmungswerten, die sie seit der Wiedervereinigung nicht mehr erreicht hatte; im September 1999, ein Jahr nach der Wahl, wurde sie bei einem absoluten Stimmungshoch von 56% gemessen. Die SPD war in einem fast historischen Tief. Gerade Wähler, welche die SPD bei der Bundestagswahl 1998 zum ersten Mal gewonnen hatte, wandten sich enttäuscht von ihr ab. In dieser für die rot-grüne Bundesregierung ziemlich hoffnungslosen Situation platzte die Bombe: die Finanzaffäre der CDU, welche die politische Landschaft fast über Nacht veränderte. Helmut Kohl, bis dahin hoch geschätzter Altkanzler und CDU-Ehrenvorsitzender, hatte über Jahre ein System schwarzer Kassen aufgebaut, mit denen er im Geheimen und ohne jede Kontrolle Parteifreunde und Parteigliederungen förderte. Aber auch in Hessen hatten der ehemalige Bundesinnenminister Manfred Kanther und der Schatzmeister Casimir Prinz zu Sayn-Wittgenstein unter Missachtung des Parteiengesetzes über 20 Millionen Mark in die Schweiz transferiert, um sie mit Gewinn bei Wahlkämpfen wieder einsetzen zu können - wie im Januar 1999 bei der Kampagne der CDU um die doppelte Staatsangehörigkeit auch geschehen. Die Union hatte nun ihren Finanzskandal, und die Partei fiel ins Bodenlose. Von einem Ausgangswert von 55% in der politischen Stimmung im November 1999 sank die CDU/CSU innerhalb von nur drei Monaten auf unter 30%, in der Leistungsbeurteilung auf der +5/-5-Skala verlor sie 2,6 Skalenpunkte - Veränderungen in Umfragewerten, wie sie bis dato im Politbarometer noch nie gemessen worden waren.
Die SPD war ohne eigenes Zutun wieder vorne. Die Union rang um eine politische Erneuerung. Unter den Wahlberechtigten gab es den höchsten Anteil von Distanzierten, die nicht mehr zur Wahl gehen wollten, und alle Parteien bekamen schlechte Noten. Angela Merkel wurde neue CDU-Vorsitzende, nachdem auch Wolfgang Schäuble wegen einer dubiosen Parteispende als Unionschef zurückgetreten war. Sie startete mit vielen Vorschusslorbeeren: jung, Frau, aus dem Osten, unbelastet. Die Medien liebten sie und die Bevölkerung schließlich auch, sie verteilte Bestwerte an Angela Merkel. Die Union gewann wieder an Boden. Aber der erste Fehler bei der Abstimmung zur Steuerreform im Bundesrat, von der neuen Unionsspitze zur Machtfrage erhoben, warf sie wieder zurück: Die von großen Koalitionen regierten Stadtstaaten Berlin und Bremen und das Land Brandenburg hatten für den rot-grünen Vorschlag gestimmt. Edmund Stoiber sprach vom "Stimmenkauf", aber die Regierung hatte aus Sicht der Medien und auch der Wähler einen Sieg errungen, obwohl die Reform selbst keinesfalls auf ungeteilte Zustimmung traf.
Das Jahr 2000 und die erste Hälfte des Jahres 2001 verliefen für die Sozialdemokraten befriedigend. Zu keinem Zeitpunkt konnte die Union der SPD die Führungsrolle streitig machen. Auch behielt die SPD bei den anstehenden Landtagswahlen die Regierungsverantwortung, gewann bei der Wahl in Schleswig-Holstein, wo die CDU allerdings noch im Schatten der Spendenaffäre stand, hinzu (+ 3,3 Prozentpunkte). In Nordrhein-Westfalen hatte sie ihre eigene (Flug-) Affäre, verlor bei niedriger Wahlbeteiligung deutlich (- 3,2), ohne die Regierungsverantwortung abgeben zu müssen. Bei den Frühjahrswahlen im Jahre 2001 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewann die SPD sowohl aus der Opposition (Baden-Württemberg + 8,2) als auch aus der Regierungsverantwortung (Rheinland-Pfalz + 4,9) heraus.
Um die Jahreswende 2001 bemühte die Union erneut die Themen Zuwanderung und Ausländer in der so genannten "Leitkultur"-Debatte. Sie stieß dabei weitgehend auf Ablehnung und verschaffte der SPD Vorteile in der Kompetenz zur Lösung dieses Problems. Die folgende BSE-Krise hat der Regierung nicht geschadet, aber sie führte zu einem Ministeraustausch, von dem die Grünen profitierten. Renate Künast wurde Ministerin eines neu benannten Ministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Als erste für Landwirtschaft zuständige Ministerin hat sie es geschafft, auf Anhieb in die Top Ten des Politbarometers zu kommen. Zwei Grüne unter den führenden Politikern und Politikerinnen: Das ist viel für eine Partei, die der Prominenz in den eigenen Reihen immer eher misstrauisch gegenüberstand.
Eigentlich hätte die Bestätigung der Bundesregierung nach der Finanzaffäre der CDU und der daraus resultierenden Beschäftigung der Union mit sich selbst, die jegliche überzeugende Oppositionsarbeit vermissen ließ, außer Frage stehen müssen. Dies sah offensichtlich auch die Regierung so, die immer weniger Reformvorhaben anpackte und scheinbar möglichst geräuschlos den Wahlsieg 2002 erringen wollte. Deshalb war die - im Frühjahr 2001 zunehmend an Bedeutung gewinnende - Frage in der Union lange Zeit, wer den aussichtslosen "Job" des Kanzlerkandidaten auf sich nehmen würde. In den Medien war diese Diskussion besonders beliebt. Edmund Stoiber lehnte die Kanzlerkandidatur offiziell bis Ende 2001 ab, ließ sich jedoch gerne die Favoritenrolle zuordnen. Nur zu Beginn der Kandidatendiskussion wollte eine kleine Mehrheit der Deutschen Angela Merkel als Herausforderin für den Bundeskanzler sehen. Ab der Mitte des Jahres 2001 war die Mehrheit für Stoiber, dies noch früher und klarer in der Anhängerschaft der Union. Die Auseinandersetzung erinnerte an das Kanzlerkandidatenspiel der SPD 1997/98, das die Sozialdemokraten lange Zeit davor bewahrte, inhaltliche Angaben über ihr Programm bei einem Wahlsieg machen zu müssen. Auch die Unionsführung hatte einen ähnlichen Zeitplan, den sie jedoch nicht einhalten konnte; die Partei drängte auf eine Entscheidung.
Die mangelnde Unterstützung für das rot-grüne Koalitionsmodell und die schlechter werdenden ökonomischen Aussichten ließen bereits im Frühsommer 2001 die Finanzaffäre und die dadurch bedingte Formschwäche der Union stärker in den Hintergrund treten und brachten der SPD schlechtere Umfragedaten. Im August 2001 fiel die Partei erstmals wieder leicht hinter die Union zurück. Die Terroranschläge vom 11. September und der dadurch ausgelöste weltweite Schock veränderten die politische Stimmungslage in der Bundesrepublik deutlich. In Zeiten der Krise stützen die Menschen die Regierung. Die Werte für die SPD und noch stärker für den Kanzler gingen nach oben und hielten sich bis zum Jahresende auf dieser Höhe. Erst danach wurde die Regierung von den alten ungelösten Problemen wieder eingeholt: der schlechten wirtschaftlichen Lage und stetig steigenden Arbeitslosenzahlen. Die Zeit für Edmund Stoiber war gekommen. Er galt als erfolgreicher Problemlöser in wirtschaftlichen Fragen. Die Union sah eine Chance, die Regierung mit einem Wirtschaftswahlkampf in die Knie zu zwingen. Nach dem viel beschriebenen "Wolfratshausener Frühstück" im Hause Stoiber verzichtetete Angela Merkel auf ihren Anspruch, Kanzlerkandidatin zu werden; es hatte sich abgezeichnet, dass auch große Teile der CDU eine Kandidatur von Stoiber präferierten. Obwohl Merkel hoch gepokert und verloren hatte, wurde ihr der nicht ganz freiwillige Verzicht positiv angerechnet und sie gewann an Profil und Ansehen.
Mit der offiziellen Nominierung Edmund Stoibers zum Kanzlerkandidaten der Union begann in Stufen der Wahlkampf zur Bundestagswahl. Die Christdemokraten übten sich in Eintracht, alles sollte abgestimmt werden, und ein gemeinsames Wahlkampfteam wurde gebildet. Die hohe Arbeitslosigkeit eignete sich - wie 1998 unter umgekehrten politischen Vorzeichen - hervorragend, um die Regierung vorzuführen. Die Union reicherte das Thema um den Vorwurf "Deutschland, das Schlusslicht in Europa" an, und der Wahlkampf lief lange Zeit bestens. Dem Kandidaten wurde, ähnlich wie Angela Merkel beim Parteivorsitz, ein großer Vorauskredit gewährt, den er allerdings im Laufe des Jahres in mehreren Bereichen verspielte. Vorteile blieben ihm bis zuletzt in Fragen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkompetenz. Die guten Ausgangswerte bei den weicheren, aber nicht unbedeutenden politischen Attributen wie Glaubwürdigkeit, Tatkraft und Siegertyp gingen mit zunehmender Nähe zum Wahltermin wieder an den Amtsinhaber Schröder verloren.
Die Unionswerte stiegen im Laufe des Frühjahrs, und zeitweise lagen CDU/CSU und FDP - als mögliche und aus der Sicht der Wählerschaft auch wahrscheinlichste Koalitionspartner - in der politischen Stimmung bis zu 15 Prozentpunkte vor den Regierungsparteien; in der Projektion waren es immerhin 8 Prozentpunkte (z.B. Politbarometer vom Mai 2002). Der SPD war es nicht gelungen, Stoiber als rechten Frontmann darzustellen und anzugreifen. Der Kandidat entzog sich möglichen Attacken mit ganz anderen Auftritten als den gewohnten; dies führte zeitweise auch in den eigenen Reihen zu Kritik am "weich gespülten", "zu Tode koordinierten" Kandidaten. Zwar kam Edmund Stoiber in den Popularitätswerten nie wirklich an den Kanzler heran, und bei der Kanzlerfrage zeigten sich im Osten und Norden bereits früh Defizite. Doch dies alles schien von minderer Bedeutung, denn die Partei lag in den Umfragen vorne. Auch die Idee der zeitlich verteilten Vorstellung einzelner Mitglieder des Kompetenzteams und insbesondere die Berufung von Lothar Späth als Superminister für Wirtschaft und Arbeit in das Schattenkabinett riefen zunächst große Beachtung in den Medien und durchaus positive Reaktionen in der Wählerschaft hervor. Allerdings zogen sich diese Nominierungen in die Länge, und es wurde erste Kritik an den "alten Gesichtern" laut.
Als die Flutkatastrophe über den Osten hereinbrach, war das naturgemäß nicht nur die Stunde der Regierung, sondern der gesamte Wahlkampf der Union geriet aus dem Tritt. Stoibers Haltung selbst in plötzlich so wichtigen Fragen wie der Finanzierung und Kompensierung der aufgetretenen Schäden war nicht immer klar, und seine Lösungen fanden im Gegensatz zu den Vorschlägen der Regierung keine Mehrheit. Die Argumentation der Union in ökonomischen Fragen basierte darauf, dass durch Steuersenkungen Wachstumskräfte aktiviert werden sollten. Diese Position war angesichts der hohen Verschuldung Deutschlands und der Maastricht-Kriterien schon vor der Flutkatastrophe mehr als problematisch. Nachdem die Flut die letzten finanziellen Spielräume vernichtet hatte, beschädigte das auch die ökonomische Kompetenz der Union und ihres Kanzlerkandidaten. Diese brauchte sie aber, um den Popularitätsvorsprung des Kanzlers zu kompensieren. Die parteiinternen Abstimmungen schienen hier wie auch später bei der Irak-Diskussion nicht oder zumindest zeitlich nicht adäquat zu funktionieren. Die Union hatte auf überraschende Ereignisse keine oder unterschiedliche Antworten. Das Gesetz des Handelns musste voll an die Regierung abgegeben werden, die als Exekutive natürlich im Vorteil war; aber die Sprach- und Hilflosigkeit der Opposition verstärkte deren Position noch.
Bereits kurz vor der Flutkatastrophe begann der Vorsprung von Schwarz-Gelb zu schmelzen. Diese Entwicklung wurde mit dem Bewusstsein über das Ausmaß der Schäden und dem Krisenmanagement durch Regierung und Kanzler deutlich verstärkt. Innerhalb einer Woche verringerte sich der Vorsprung von Union und FDP von 7 Prozentpunkten auf 3 Prozentpunkte und fiel in den beiden folgenden Wochen weiter um jeweils einen Prozentpunkt. Das zweite TV-Duell des Kanzlers mit dem Kandidaten brachte nochmals eine starke Stimmungsverbesserung für die SPD, und auch in der Projektion danach (zehn Tage vor dem Wahltermin) lag Rot-Grün mit 47% vor Union und FDP (37% bzw. 7,5%).
Aber auch bei den kleineren Parteien FDP und Grünen gab es während der vergangenen Legislaturperiode viel Bewegung, zum Teil synchron zu ihren jeweiligen potenziellen Koalitionspartnern, zum Teil in entgegengesetzter Richtung: 1999 war für beide kein Erfolgsjahr. Mit Ausnahme von Hessen, wo die FDP trotz hoher Verluste (- 2,3%) knapp die Fünf-Prozent-Hürde schaffte (5,1%), blieb ihr bei allen Landtagswahlen der Einzug ins Parlament versagt. Für die Grünen gab es in diesem Jahr nur Verluste zu melden: Im Saarland flogen sie aus dem Parlament; bei den drei Landtagswahlen im Osten (Brandenburg, Thüringen und Sachsen) scheiterten sie wie die FDP deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde; in Bremen und Hessen blieben die Grünen zwar im Parlament, allerdings bei hohen Verlusten (- 4,1 Prozentpunkte bzw. - 4,0 Prozentpunkte).
Für die FDP schien nach 1999 der Bann gebrochen, nicht zuletzt, weil sie von der durch die Finanzaffäre bedingten Schwäche der Union profitierte. Sie erzielte Zugewinne in Schleswig-Holstein im Februar 2000 und ein überraschend gutes Ergebnis in Nordrhein-Westfalen im darauf folgenden Mai, das sie zu strategischen Höhenflügen animierte. Im Frühjahr 2001 gab es Verluste in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, obwohl oder gerade weil sie in beiden Regierungen vertreten war. Im Herbst 2001 konnte sie in Berlin und im April 2002 in Sachsen-Anhalt hohe Zugewinne verzeichnen. In Berlin ist die FDP nach sechs Jahren wieder im Parlament, in Sachsen-Anhalt wurde sie sogar Regierungspartei.
Die Grünen litten nicht nur 1999, sondern hatten über die gesamte Legislaturperiode hinweg bei allen Landtagswahlen Verluste. Auf der Bundesebene war die politische Stimmung für die Grünen relativ konstant, in der Regel lagen sie etwas über 5%. Ab Frühjahr 2002 verbesserten sie sich auf 6% bis 7%. Die FDP wurde in der politischen Stimmung bis Anfang 2000 eher unter der 5%-Hürde gemessen, danach hatte sie nach gewonnenen Landtagswahlen auch auf der Bundesebene Höhenflüge, die aber nie lange anhielten.
So einträchtig wie die Schlussphase des Wahlkampfs 2002 und die nachfolgenden Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen verliefen, war die vorausgegangene Legislaturperiode keineswegs gewesen. Sowohl am Anfang der gemeinsamen Regierungszeit als auch im November 2001, als der Bundeskanzler im Zusammenhang mit dem Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan die Vertrauensfrage stellte, gab es zwischen beiden Koalitionspartnern Spannungen vor allem in der Sicherheitspolitik. Joschka Fischer musste mehrmals große Überzeugungsleistungen gegenüber seiner Partei erbringen. Ökologische Modernisierung und die Förderung regenerativer Energien waren weniger starke Streitpunkte, weil sie auch bei der Bevölkerung inzwischen Unterstützung fanden. Spannungen erzeugte nach wie vor die Diskussion um die Ökosteuer, und das wird wohl auch anhalten. In einigen Fragen der Arbeitsmarktregelung und der Sozial- und Arbeitslosenhilfe waren die Grünen zeitweise näher bei Unionsvorstellungen als bei denen des Regierungspartners. Insgesamt haben die Grünen aber einige Vorhaben - wenn auch mit Abstrichen - erreicht oder zumindest in Gang gesetzt, vor allem auch den "Einstieg in den Ausstieg" bei der Atomkraft.
Die FDP tat sich nach 1998 nicht leicht in der ungewohnten Rolle als Oppositionspartei. Ein eigenes Profil war schwer zu entwickeln, die Partei hatte den Nimbus von Opportunismus. Der Parteivorsitzende Wolfgang Gerhardt setzte sich im eigenen Landesverband nicht durch. Um der Macht willen verblieb die FDP in Hessen in einer Koalition mit einer affärenbelasteten CDU und einem Ministerpräsidenten, der der Lüge überführt wurde. Das Ansehen der FDP als Partei war also gering, aber die Zeit heilt Wunden. Der CDU ging es während der Parteispenden-Affäre noch schlechter als der FDP, und wo sollten die eher konservativen Wähler hin, wollten sie bei Wahlen nicht ganz zu Hause bleiben. Erfolge für die Liberalen waren deshalb vorgezeichnet. In Nordrhein-Westfalen fielen diese so heftig aus, dass selbst der dortige, stark von Jürgen W. Möllemann geprägte Landesverband überrascht wurde. Man war mit dem Ziel angetreten, 9% zu erreichen, hatte aber 9,9% geschafft. In der Folgezeit wurde für ganz Deutschland das Ziel einfach verdoppelt und das kühne Konzept "18" entwickelt. Die FDP wollte bei der Bundestagswahl 2002 die dritte Volkspartei werden: Eine "völlige Erneuerung des Parteiensystems in Deutschland" kündigte der Bundesgeschäftsführer Hans J. Beerfeltz an.
Längst war der Parteivorsitz in "völliger Übereinstimmung" der Beteiligten an Guido Westerwelle übergegangen. Er präsentierte sich wahlweise als Vertreter der Jugend, der "new economy" oder als Staatsmann. Auch vor der Ausrufung eines eigenen Kanzlerkandidaten schreckte die FDP nicht zurück. Die Partei verfolgte als Strategie eine Äquidistanz zu SPD und CDU/CSU, konsequenterweise konnte sie keine Koalitionsaussage machen. Sie bot sich als Alternative zu beiden Parteien an, "um den Machtwechsel herbeizuführen".
In Sachsen-Anhalt, der letzten Landtagswahl vor der Bundestagswahl, schien das Konzept den Test zu bestehen. Das Ergebnis der FDP war zweistellig. Sie konnte als Partei, die ein neues Angebot präsentierte, weit überdurchschnittlich junge Wähler gewinnen. Im Siegestaumel meinten der Vorsitzende und die Generalsekretärin, sie hätten "zwei Drittel des Weges" zum hohen Ziel bei der Bundestagswahl geschafft. Was man nicht ganz beachtet hatte: Sachsen-Anhalt stand nicht für den Osten und mit Sicherheit nicht für die Bundesrepublik als Ganzes. Aber die Stimmung für die Partei stieg erst einmal an. Kurz darauf begann Jürgen W. Möllemann, populistisch mit antiisraelischen Statements zu spielen und antijüdische Ressentiments zu bedienen, wurde zwar zurückgepfiffen, aber der Konflikt schwelte weiter. Viele in der FDP distanzierten sich, manche halbherzig, denn den Wahlkämpfer Möllemann wollte man nicht verlieren, aber der Führungsanspruch Westerwelles hatte Schaden genommen. Die zweite Auflage Möllemannscher Angriffe auf Israel und den stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Michel Friedman, kurz vor der Wahl löste Empörung auch in der FDP-Führung aus, vor allem wegen des unkoordinierten Alleingangs so kurz vor der Abstimmung. Der Konflikt an der Spitze der FDP wurde aber erst nach Schließung der Wahllokale zu lösen versucht. Der Hauptschuldige war schnell gefunden, nachdem noch nicht einmal die Hälfte der angepeilten 18% eingefahren wurde.
Der PDS schien für längere Zeit eine mögliche Schlüsselrolle für die Koalitionsbildung zuzukommen, nicht weil sie als Koalitionspartner zur Verfügung gestanden hätte, sondern weil im Falle ihres Einzugs ins Parlament bei knappen Ergebnissen weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb eine Mehrheit gehabt hätten. Die Partei war aber nach den Umfrageergebnissen bereits lange Zeit vor der Wahl gefährdet, ohne dass über ihre Stärke Gewissheit bestand. In der Vergangenheit war sie kurz vor dem Wahlgang durchaus in der Lage gewesen, generell Unzufriedene für eine Stimmabgabe zu ihren Gunsten zu mobilisieren; zudem hätte mit dem Erreichen von drei Direktmandaten für sie die Fünf-Prozent-Hürde nicht gegolten.
Zu Beginn der Legislaturperiode im Jahre 1999 war die PDS auf Landesebene durchaus erfolgreich, so auch in Berlin elf Monate vor der Bundestagswahl. Seit Beginn des Wahljahres wurde sie in den Umfragen der Forschungsgruppe unter 5% gemessen, bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt kam sie nicht zum erwarteten Erfolg, legte nur 0,8 Prozentpunkte zu und blieb mit 20,4% deutlich unter den Ergebnissen in den anderen neuen Bundesländern. Sie verlor ihren prominentesten Medienstar, Gregor Gysi, in Raten: erst als Fraktionsvorsitzenden und dann kurz vor der Wahl als Senator in Berlin. Als Friedenspartei hatte sie keinen durchschlagenden Erfolg, nachdem der Bundeskanzler sich an die Spitze der Bewegung gegen einen Irak-Krieg gesetzt hatte, und auch bei der Flutkatastrophe wurden die Nöte der Menschen im Osten von der Bundesregierung aufgegriffen. Die von der PDS geliebte Rolle, den Vertreter der Interessen des Ostens zu spielen, schien überflüssig geworden zu sein.
III. Das Ergebnis der Wahl
Mit wenigen tausend Stimmen Vorsprung erreicht die SPD bei der Bundestagswahl 2002 ihr zweitbestes Ergebnis seit der Einheit (38,5%), im Osten ist es mit 39,8% ihr bestes. Das Westergebnis entspricht im längerfristigen Vergleich dem von 1983, als die Grünen zum ersten Mal als Konkurrenz im linken Parteienspektrum auf der Bundesebene erfolgreich waren (5,6%).
Die Union hat nach ihrem schlechten Ergebnis von 1998 zur SPD aufgeschlossen (Edmund Stoiber: "gleiche Augenhöhe"), erreicht aber mit nur 38,5% ihr drittschlechtestes Resultat seit 1949. Vor der Wiedervereinigung lag die CDU/CSU immer über 44%, und auch 1990 kam sie fast auf diesen Wert. Der Abstand zwischen SPD und CDU im Osten ist diesmal zweistellig (11,5 Prozentpunkte), im Westen hat die Union ihr Ziel "40 plus" erreicht (40,8%). Die Ost-West-Unterschiede werden bei der Betrachtung von Gewinnen und Verlusten besonders deutlich: Die SPD verliert im Westen vier Prozentpunkte und gewinnt im Osten 4,7 Prozentpunkte, die Union gewinnt im Westen 3,8 Prozentpunkte und im Osten nur einen Prozentpunkt.
Die Grünen holen ihr Plus gegenüber 1998 vor allem im Westen (2,1 Prozentpunkte), im Osten gewinnen sie nur 0,6 Prozentpunkte hinzu. Umgekehrt sieht es bei der FDP aus: nur 0,6 Prozentpunkte an Zuwachs im Westen, aber 3,1 Prozentpunkte im Osten, d. h. dort eine Verdoppelung des Anteils. Die PDS verliert im Osten 4,6 Prozentpunkte und fällt damit unter ihren Stand von 1994, im Westen gibt es kaum eine Veränderung. Der Anteil der sonstigen Parteien, 21 an der Zahl plus Einzelbewerber, war 1998 mit 6% (insgesamt 25 Parteien) besonders hoch und hat sich jetzt praktisch halbiert. Ein Großteil des Stimmenrückgangs betrifft die Rechtsaußenparteien, sie verlieren 70% ihrer Stimmen von 1998. Auch die Schill-Partei war weder im Westen (0,7%) noch im Osten (1,2%) erfolgreich.
Es gibt aber nicht nur interessante Ost-West-Unterschiede, sondern mindestens so auffallende Differenzen von Nord nach Süd, wobei man sich sinnvollerweise auf den Westteil der Bundesrepublik beschränkt (vgl. Abb. 3, s. PDF Version).
Die SPD kommt im Norden und auch in der Mitte deutlich über 40%, die Union im Süden nahe an die absolute Mehrheit, im Süden ist die SPD noch schwächer (31,4%) als die CDU im Norden (33,5%). Besonders auffällig sind aber die Entwicklungen seit 1998. Je weiter man nach Süden kommt, desto größer werden die SPD-Verluste. Umgekehrt gewinnt die CDU im Norden kaum etwas dazu, im Süden sind die Gewinne mehr als doppelt so hoch wie insgesamt. Allein in Bayern verbessert sich die CSU um 10,9 Prozentpunkte, das sind in absoluten Stimmen 86% aller zusätzlichen Unionsstimmen bei dieser Wahl.
Große Unterschiede bei den Unionsgewinnen gibt es auch mit steigender Bevölkerungsdichte, also dem Verstädterungsgrad. Ausgenommen die Großstädte des Südens (Stuttgart, München, Nürnberg) und Berlin hat die CDU in urbanen Zentren sehr schwache Zuwächse; in Hamburg, Bremen, Hannover, Köln und Leipzig muss sie sogar Verluste gegenüber 1998 hinnehmen. Demgegenüber gewinnt die Union in kleinen und kleinsten Gemeinden im Westen über sechs Prozentpunkte und im Osten etwas überdurchschnittlich dazu. Die Grünen-Zuwächse steigen erwartungsgemäß mit der Bevölkerungsdichte, bei der FDP zeigt sich kein Zusammenhang zwischen ihrem Abschneiden und der Stadt-Land-Variablen.
IV. Die Themen der Wahl
Nicht anders als 1998 gab es vor dieser Wahl ein beherrschendes Thema: die hohe Arbeitslosigkeit. Über vier Millionen Menschen ohne Arbeit, eine Zahl ähnlich wie 1998 und verschärft durch das Versprechen des Bundeskanzlers, die damalige Ausgangssituation entscheidend verbessern zu wollen: "Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosenquote signifikant zu senken, dann haben wir es weder verdient, wieder gewählt zu werden, noch werden wir wieder gewählt." Anders als 1998 wurde jetzt aber auch noch die allgemeine wirtschaftliche Lage sehr schlecht eingeschätzt (vgl. Abb. 4, s. PDF Version), sehr viel schlechter als vor vier Jahren - und im längerfristigen Vergleich ist es sogar der schlechteste Wert seit der Einheit. Dies waren eigentlich Bedingungen, unter denen die Union, der traditionell die größere Kompetenz zur Lösung wirtschaftlicher Probleme zugeschrieben wird, die Wahl hätte gewinnen müssen. Warum gelang ihr das nicht?
Verschlechterungen der wirtschaftlichen Lage setzten aus der Sicht der Bürger zu Beginn des Jahres 2001 ein und zwar stetig. Nach dem 11. September war allen Beteiligten klar, dass die noch nicht einmal besonders hoch gesteckten wirtschaftlichen Ziele nicht mehr zu erreichen waren und die Union mit einem Wirtschaftswahlkampf große Chancen hatte, die Regierung abzulösen, wenn - das war eine nicht unerhebliche Bedingung - keine anderen, noch wichtigeren Ereignisse wie Krieg, Terror oder Katastrophen die prekäre ökonomische Situation überlagern würden.
Die Lösungskompetenzen der Unionsparteien bei Wirtschaftsproblemen lagen zwar seit Beginn des Jahres immer etwa zehn Prozentpunkte über denen der SPD, und beim Arbeitsmarkt war der Vorsprung meist sogar noch etwas größer. Aber die relative Mehrheit - rund 40% aller Wahlberechtigten - hat keiner Partei zugetraut, diese Probleme zu lösen bzw. konnte keine Zuordnung zu einer Partei vornehmen. Diese Situation war jedoch nicht neu. Zudem konnte die SPD den Abstand zur Union in der Schlussphase verringern.
Die Wahlentscheidung hat deutlich gemacht, dass es nicht ausreicht, auf dem Feld der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik einen - zudem eher knappen - relativen Kompetenzvorsprung zu besitzen, um als Wahlsieger hervorzugehen. Damit dieser verhaltenswirksam wird, benötigt man auch eine absolute Lösungskompetenz. Und hier zeigte sich, dass insbesondere auf dem Gebiet der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eigentlich nur sehr wenige Wähler (18 %) an eine Lösung in absehbarer Zeit glaubten (Politbarometer 9/2002). Wenn aber der relative Kompetenzvorsprung bei den zentralen ökonomischen Problemen eher gering ist und die Kompetenz sogar grundsätzlich bestritten wird, dann spielen auch andere, als weniger wichtig wahrgenommene Probleme bei der Wahlentscheidung eine Rolle.
Bei diesen anderen Themen fielen die Kompetenzzuweisungen der Wähler aber zum Teil ganz anders aus als auf dem ökonomischen Feld. Lediglich beim Thema Innere Sicherheit verfügte die Union über einen deutlichen und beim Thema Bildung über einen leichten Kompetenzvorsprung. In fast allen anderen Bereichen lag die SPD zum Zeitpunkt der Wahl zumindest leicht vor der Union (vgl. Tab. 1, s. PDF Version).
Im Vergleich zu 1998 gab es bei der Bekämpfung der Kriminalität keine Veränderungen in den Kompetenzzuordnungen. Bei der Sicherung der Altersrenten büßte die SPD etwas von ihrem Vorsprung ein, bei der Lösung der staatlichen Finanzprobleme lag sie vor vier Jahren 5 Prozentpunkte hinter der Union zurück, jetzt führt sie mit 5 Prozentpunkten. Keiner der beiden großen Parteien wird - ähnlich wie 1998 - die Lösung der Umweltprobleme zugetraut. Hier haben die Grünen aus Sicht der Wähler ihre Lösungskompetenz nochmals deutlich ausgebaut (von 39% auf 53%). Hinsichtlich der Zukunftskompetenz hat sich trotz einer nicht gerade überzeugenden Bilanz der Regierung am Ende der Legislaturperiode der knappe Vorsprung, den die Sozialdemokraten 1998 hatten, nicht verändert. Ein geringer Vorsprung, der auch mit dem knappen Wahlsieg korrespondiert.
Besonders weit liegen die Unionsparteien bei der Familienkompetenz hinter der SPD (43% zu 30%). Bei den jungen Frauen, das sind Frauen unter 35 Jahren, denen dieser Politikbereich besonders am Herzen liegt, sind die Unterschiede außerordentlich hoch (48% zu 22%). Nicht ganz so hoch sind sie bei den gleichaltrigen Männern (46% zu 27%). Aber in keiner Altersgruppe, weder bei Männern noch bei Frauen, kommt die Union, die geglaubt hatte, das umfassendste Familienkonzept vorzulegen, an die SPD heran.
Eine wichtige Veränderung in den Erfolgschancen der Parteien trat mit unvorhergesehenen Problemen wie der Flutkatastrophe im Osten und der Frage der Bewältigung dieser nationalen Krise auf. Ohne Zweifel hat die Exekutive durch entschiedenes Handeln in einer solchen Situation die größeren Chancen, Betroffene und weniger Betroffene zu überzeugen und für sich zu gewinnen. Die Lösung, die von der Regierung zur Schadensfinanzierung vorgeschlagen wurde, nämlich die Verschiebung der Steuerreform, erhielt sofort und auch bis zur Bundestagswahl eine eindeutige Mehrheit. Dagegen fand die Union, die sich einerseits nicht verweigern konnte, aber andererseits auch eine eigene Lösung vorschlagen wollte, für ihre nicht sehr klare Alternative keine Mehrheit. Nach Managementfehlern der Unionsführung in der Krise wurde aber auch der inzwischen gereifte eigene Lösungsvorschlag nicht gutgeheißen. Die Stimmung für die Regierungsparteien, die allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt in einem leichten Aufwärtstrend waren, wurde deutlich besser.
Eine zweite Diskussion, mit der sich die Opposition sehr schwer tat, war die Haltung zu einer Beteiligung Deutschlands an einem möglichen Krieg gegen den Irak. Obwohl man mit großer Sicherheit davon ausgehen kann, dass Bundestagswahlen hauptsächlich mit innenpolitischen Themen verloren oder gewonnen werden (wie in fast allen Demokratien der westlichen Welt), können Fragen der nationalen Sicherheit vorhandene Stimmungen verstärken. Denn sie geben vor allem den Regierenden die Chance, Entschiedenheit, möglichst auch Handlungsfähigkeit zu zeigen. Gerhard Schröder konnte bei seiner ersten Stellungnahme zum Thema Irak von einer überwältigenden Mehrheit ausgehen, die eine deutsche Beteiligung an einem Militäreinsatz im Irak ablehnt (Politbarometer 5. August 2002: 81%). Die modifizierte Frage (auf jeden Fall beteiligen, nur bei UN-Mandat beteiligen, auf keinen Fall beteiligen?) ergab immer noch eine strikte Ablehnung von 46% der Gesamtheit aller erwachsenen Deutschen. Die Ablehnung fiel bei Frauen deutlicher aus als bei Männern und stieg jeweils mit zunehmendem Alter der Befragten. Bei den über 60-jährigen Frauen lehnten fast zwei Drittel eine Beteiligung ab.
Die Thematisierung der Irak-Frage hatte für die SPD drei positive Effekte: Erstens führte sie die politische Debatte ein Stück von den ökonomischen Problemen weg. Sie hatte, zweitens, einen wichtigen Mobilisierungseffekt für die SPD-Anhänger gebracht, wobei durch die Emotionalisierung via Pazifismus auch die konfligierenden Interessen der gewerkschaftlichen Traditionalisten und der alternativ orientierten Linken eingebunden werden konnten. Sie hatte, drittens, insbesondere den älteren Frauen, bei denen der SPD 1998 ein massiver Einbruch gelungen war und die sich der Person des Bundeskanzlers emotional sehr verbunden fühlten, einen politisch rationalen Grund geliefert, bei der SPD zu bleiben.
Insgesamt hat also die politische Agenda der letzten Wochen vor der Wahl und die Behandlung dieser Themen durch den Kanzler und die Regierung ohne Zweifel zu einer Verbesserung der Stimmungslage für die SPD geführt und bereits beschriebene Grundhaltungen, nämlich das Zögern und sogar die Angst vor dem Wechsel, verstärkt. Es bedurfte daher nur noch wenig Überzeugungskraft, Spätentschlossene und Unentschiedene für die Regierungsparteien zu gewinnen.
V. Die Kandidaten
Der Transport all dieser Entscheidungshilfen muss von den Politikern, insbesondere von den Spitzenpolitikern, geleistet werden, wobei zumindest von Regierungsseite versucht wurde, dies auf den Kanzler und den Außenminister zuzuspitzen. Gerhard Schröder hatte in der Kanzlerfrage einen klaren Vorsprung, der sich in der heißen Wahlkampfphase noch deutlich vergrößerte; Joschka Fischer war seit langer Zeit der beliebteste Politiker in Deutschland. Das war Kapital, das sich im Wahlkampf, insbesondere in der Schlussphase, zur Mobilisierung einsetzen ließ. Nachdem sich die SPD ziemlich deutlich auf eine Koalition mit den Grünen festgelegt hatte, stand selbst gemeinsamen Auftritten von Kanzler und Außenminister nichts mehr im Wege. Dies war eine neue Strategie und blieb nicht ohne Probleme für die Parteien. Die Zweitstimmen-Kampagne der Grünen ("Zweitstimme = Joschka-Stimme"), die erst in der Woche vor der Wahl richtig zu greifen begann, hat zwar die Koalition insgesamt nicht geschwächt, wohl aber die SPD. 30% der Grünen-Wähler stellen eigentlich SPD-Sympathisanten dar, weisen also eine längerfristige Bindung an die Sozialdemokraten auf. Dies ist eine Zahl, die in dieser Höhe bisher nie gemessen wurde. Es sind taktische Wähler, die versucht haben, ihr Stimmengewicht zu optimieren. Das heißt, sie wollten eine bestimmte Koalition, nämlich Rot-Grün. Sie wollten insbesondere eine andere mögliche Koalition, nämlich die zwischen SPD und FDP, verhindern.
In der direkten Auseinandersetzung des Kanzlers mit dem Kandidaten der Union waren die oft beschriebenen Tendenzen der Personalisierung (auch Amerikanisierung genannt) zumindest vonseiten der SPD-Strategen überdeutlich: "Ich oder der". Sie wurden von den Medien willig aufgenommen, und die Union hatte keinen Spielraum - sie musste mitmachen. In den eigenen Reihen wurde zwar Edmund Stoiber zeitweise ähnlich stark unterstützt wie Gerhard Schröder von SPD- und Grünen-Anhängern, aber die Geschlossenheit hielt nicht bis zum Ende. In der Woche vor der Wahl wollten immerhin 11% der CDU/CSU-Anhänger lieber Schröder als Bundeskanzler, 82% wollten den CSU-Vorsitzenden, der Rest (7%) konnte sich nicht entscheiden. Unter den SPD-Anhängern wollten 98% Gerhard Schröder und unter den Grünen-Anhängern 96%. Dies ist eine Geschlossenheit, die kaum zu übertreffen ist.
Der Vorteil Schröders wurde auch bei den persönlichen und politischen Führungseigenschaften deutlich, wo er zum Schluss in allen Punkten zum Teil weit vorne lag: nicht nur bei Sympathie (63% zu 17%), Siegertyp (61% zu 13%) und Glaubwürdigkeit (40% zu 20%), sondern auch bei den Fähigkeiten, eine Regierung zu führen (42% zu 22%), deutsche Interessen zu vertreten (52% zu 21%) und die zukünftigen Probleme zu lösen (34% zu 26%) (vgl. Tab. 2 u. 3, s. PDF Version).
Lediglich bei den Fähigkeiten, Arbeitsplätze zu schaffen (18% zu 33%) und die wirtschaftlichen Probleme zu lösen (24% zu 33%), lag der Herausforderer vor dem Bundeskanzler, und dies wenig verändert seit Anfang des Jahres. Stoibers Kompetenzvorsprung bei so wichtigen Themen wurde allerdings etwas dadurch relativiert, dass die jeweilige Mehrheit der Wähler bei beiden Problemen keinen Unterschied zwischen den beiden Kandidaten erkennen konnte.
Insgesamt wollten in der Woche vor der Wahl 58% der Wähler lieber Gerhard Schröder als Bundeskanzler, 34% Edmund Stoiber (vgl. Abb. 6, s. PDF Version). Im Osten war der Vorsprung von Schröder noch deutlicher (65% zu 27%), aber selbst im Süden der Republik lag er noch 13 Prozentpunkte (52% zu 39%) vorne. Bei den Männern betrug der Abstand zwischen Schröder und Stoiber 21 Prozentpunkte, bei den Frauen 27 Prozentpunkte.
Bei solchen Werten und einer so starken Konzentration auf den Kanzler drängt sich die Frage auf, warum die SPD am Ende nur so hauchdünn vor der Union lag. Hatte der eher bescheidene Vorsprung Stoibers in Wirtschaftsfragen alles andere aufgehoben, oder sind womöglich die Personen für die Entscheidungen der Wähler doch nicht so wichtig, wie Medien und Parteien sie sehen wollen? Die bisherigen Erkenntnisse in der politikwissenschaftlichen Forschung
VI. Wechsel im Wahlverhalten
Wenn auch die Salden bei den Veränderungen der Parteianteile 2002 auf einen geringeren Wechsel hindeuten als 1998, haben bereits die regionalen Ergebnisse deutlich gemacht, dass die Politik der abgelaufenen Legislaturperiode wie auch die Ereignisse im Wahlkampf keinesfalls einheitlich beurteilt wurden. Befragungen von Wählern unmittelbar nach Verlassen des Wahllokals (Exit Polls) mit sehr hohen Fallzahlen versetzen uns in die Lage, die Veränderungen im Wahlverhalten einzelner Gruppen viel detaillierter darzustellen und damit auch Hinweise zu erhalten, warum es zu diesem Ergebnis gekommen ist. Als Vergleich ziehen wir eine Befragung von der Bundestagswahl vom 27. September 1998 heran.
Bei der Bewertung und der Lösungsbeurteilung grundlegender Fragen wie z.B. der Bildungs- oder Familienpolitik, aber auch bei aktuellen Themen wie Irak zeigten sich auf der Einstellungsebene deutliche Differenzen zwischen Männern und Frauen, nicht zuletzt auch bei den Kanzlerpräferenzen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Unterschiede im Wahlverhalten und im Wechsel der Parteipräferenzen auftreten.
Bei Frauen liegt die SPD über vier Prozentpunkte vor der Union, entsprechend groß ist der Vorsprung der Unionsparteien vor der SPD bei Männern. 1998 gab es keinerlei Unterschiede im Wahlverhalten der Geschlechter, wenn man die Gesamtheit betrachtete. Das heißt aber, dass die Frauen der SPD treu blieben, die Männer dagegen in Scharen abwanderten (- 5 Prozentpunkte). Bei den Männern gewann die Union knapp 6 Prozentpunkte dazu, bei den Frauen konnte sie jedoch nur bescheiden zulegen. Da aber die Veränderungen im Osten und Westen sehr unterschiedlich ausfielen, ist die Geschlechteraufteilung hier besonders interessant: Nahezu der gesamte Gewinn der SPD kam im Osten von Frauen, der eher bescheidene Zuwachs der CDU von Männern. Im Westen kamen die Unionsgewinne zu drei Vierteln von Männern, während die SPD-Verluste im Westen zu mehr als zwei Drittel auf die Wahlentscheidung von Männern zurückzuführen sind. Insgesamt ist also die Union im Gegensatz zu den fünfziger und sechziger Jahren, wo ihre Wählerschaft stark frauendominiert war, jetzt erstmals männerdominiert (54% Männer, 46% Frauen). Umgekehrt hat die SPD einen größeren Frauenanteil in ihrer Wählerschaft (52% Frauen, 48% Männer). Da das gleiche Muster in der Wählerschaft der Grünen auftaucht (55% Frauen, 45% Männer), wurde diese Koalition vor allem von Frauen wieder gewählt: Rot-Grün hat bei Frauen die absolute Mehrheit von über 50%, bei Männern liegt Rot-Grün jedoch vier Prozentpunkte hinter Schwarz-Gelb zurück.
In allen Altersgruppen kommt die SPD auf etwa das gleiche Ergebnis, d.h., sie hat im Vergleich zu 1998 Verluste nicht so sehr bei den jüngeren Wählern, sondern in den mittleren Altersbereichen, bei den 30- bis 59-Jährigen. Die Union gewinnt in diesen Altersgruppen am meisten dazu, ihre Altersstruktur ändert sich jedoch nicht grundsätzlich: Sie hat bessere Ergebnisse, je älter die Wähler sind. Allerdings konnte sie die hohen Verluste, die sie 1998 bei den über 60-Jährigen verzeichnen musste, bei den Männern nur teilweise, bei den Frauen überhaupt nicht ausgleichen.
Das "Ergrauen" der Grünen setzte sich auch bei dieser Wahl fort. Ihre Zuwächse hat sie hauptsächlich bei den über 45-Jährigen und auch bei den über 60-Jährigen. Dagegen hat sich die Altersstruktur der FDP stark verändert: Sie gewinnt hauptsächlich in den jüngeren Altersgruppen, sie stagniert dagegen bei den über 50-Jährigen und hat sogar Verluste bei den über 60-Jährigen. Damit hat die Altersstruktur der FDP eine völlige Umkehrung erfahren. Die PDS erreicht in allen Altersgruppen dasselbe Ergebnis. Ihr sind am ehesten die über 60-Jährigen treu geblieben, die größten Einbußen hat sie bei den 30- bis 44-Jährigen (vgl. Abb. 7, s. PDF Version).
Die heftigsten Veränderungen im Osten gab es sowohl bei den unter 30-Jährigen - dies betraf vor allem die SPD (+11) und die PDS (- 10) - als auch bei den über 60-jährigen Frauen, wo die SPD Gewinne erzielte (+ 12) und die CDU (- 10) Verluste hinnehmen musste.
Für die Stammwählerschaften der beiden Volksparteien sind Faktoren, die die alten Konflikte Religion und Klasse repräsentieren, noch immer von Bedeutung - wenn auch mit stark abnehmender Tendenz und im Osten mit viel geringerem Gewicht als in den alten Bundesländern. Bei dieser Wahl sind deshalb die Veränderungen bei den Wahlentscheidungen der Arbeiter wieder einmal besonders interessant. Dabei wird die fortschreitende Auflösung des Arbeitermilieus überdeutlich. Betrachtet man die gewerkschaftlich gebundenen Arbeiter, dann ist dies noch offensichtlicher: Im Vergleich zu 1998, als die SPD bei den Arbeitern mit Gewerkschaftsbindung ihre Position überdurchschnittlich verbesserte, haben sich die Verhältnisse dramatisch verändert. Der Vorsprung von 18 Prozentpunkten vor der Union, den die SPD 1998 bei den Arbeitern hatte, verringerte sich nun auf 7 Prozentpunkte, im Westen von 23 auf 6 Prozentpunkte. Aber auch bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern - und hier ist es sinnvoll, wiederum nur den Westen zu betrachten - fiel der Vorsprung der SPD vor der CDU/CSU von 48 Prozentpunkten auf 27 Prozentpunkte. Bei den gewerkschaftlich nicht gebundenen Arbeitern liegt die Union im Westen mit 44% (+ 8) vor der SPD mit 40% (- 6).
Am geringsten sind die Veränderungen in der großen Gruppe der Angestellten, wo die SPD einen Prozentpunkt verlor und die Union drei Prozentpunkte zulegte. Bei den gewerkschaftlich gebundenen Angestellten, in der Größenordnung den Arbeitern mit Gewerkschaftsbindung vergleichbar, hat die SPD 3 Prozentpunkte zugelegt; sie kommt auf 56% und ist damit stärker als bei den Arbeitern insgesamt. Die Union verliert hier einen Prozentpunkt. Bei den Angestellten ohne Gewerkschaftsbindung, eine Gruppe mehr als fünfmal so groß wie die der gewerkschaftlich gebundenen Angestellten, liegen beide Volksparteien gleichauf, die SPD hat 1 Prozentpunkt verloren, die Union 4 Prozentpunkte gewonnen. Man darf also die Frage stellen: Ist die SPD noch die traditionelle Arbeiterpartei? Sind die Gewerkschaften, zumindest was ihre Mitglieder angeht, noch die Vorfeldorganisation der Sozialdemokraten, oder muss man über diese Begriffe neu nachdenken?
Ohne Dramatik sind dagegen die Veränderungen bei der traditionellen Kernklientel der Union im Westen, den Katholiken mit Kirchenbindung. Die Union kommt hier auf 73% (+ 3), die SPD auf 16% (- 4). Bei den Katholiken ohne Bindung an die Kirche, die 1998 mit klarer Mehrheit die SPD bevorzugten (43% SPD, 35% Union), haben sich die Verhältnisse umkehrt: 44% stimmten nun für die CDU/CSU, 37% für die SPD.
In einem längerfristigen Vergleich werden jedoch die strukturellen Veränderungen in den Wählerschaften der beiden großen Parteien erst wirklich deutlich: Während der Anteil der Katholiken am Unionsergebnis 1976 noch 64% betrug, beträgt er jetzt 44%. Die Kernwählerschaft der Union, die Katholiken mit starker Kirchenbindung, stellten vor einem Vierteljahrhundert noch 37% des Unionsanteils, heute machen sie nur noch 11% aus. Für das Ergebnis der SPD 1976 und 2002 waren die Arbeiter etwa gleich wichtig: 35% bzw. 34% stimmten für sie. 1976 machte jedoch die Traditionsklientel der SPD, die gewerkschaftlich gebundenen Arbeiter, 25% des SPD-Anteils aus, jetzt sind es noch 10%.
VII. Fazit
Der Ausgang dieser Wahl hat die Erwartungen einiger Parteien und Politiker enttäuscht. Dazu gehören die CDU, die FDP, die PDS und viele ihrer Repräsentanten und Anhänger. Diese sprechen jetzt gerne von der Zufälligkeit des Wahlergebnisses, von Unvorhergesehenem oder Unvorhersehbarem. Unrecht haben sie damit nur zum Teil, aber Wahlen werden nun einmal an einem genau festgesetzten Termin durchgeführt, und zu diesem Zeitpunkt entscheiden die Wähler. Diese Entscheidung ist in der Regel ein hochdifferenzierter Prozess, der von strukturellen Voraussetzungen und Abhängigkeiten des Einzelnen in seinem Umfeld mitbestimmt wird, von grundlegenden Interessen, von Beurteilungen vergangenen Handelns der Parteien und von Erwartungen in zukünftiges Handeln sowie natürlich auch von aktuellen Einflüssen, die Basisorientierungen verstärken oder auch irritieren können. Zufall allein sind solche Entscheidungen nicht, wie die dargestellten Daten gezeigt haben.
Ohne Zweifel hat die Veränderung der politischen Agenda durch aktuelle Ereignisse in den letzten Wochen vor dem Wahltermin der Regierung geholfen, Handlungsfähigkeit zu zeigen und sich in der Gruppe der bis dahin unentschlossenen, wechselbereiten Wähler die notwendige Mehrheit zu sichern. Und ohne Zweifel haben Gerhard Schröder und zum Schluss auch Joschka Fischer -gestützt auf hohe Sympathiewerte - die Übersetzungsleistung dieser Themen und die Mobilisierung der Zögernden in ihrer Wählerschaft zustande gebracht. Dieser knappe Sieg war jedoch nur möglich, weil trotz hoher und immer noch steigender Wechselbereitschaft vieler Wähler der Schritt zur Alternative nur dann zuverlässig vollzogen wird, wenn bei der Opposition eine überzeugende Lösungskompetenz für die anstehenden Probleme zu erkennen ist. Das war nicht der Fall. Wechseln ist nun mal für viele schwerer, als beim Alten zu bleiben. Die "Stabilität" der Regierungen vor 1998 ist dafür ein eindrucksvoller Beweis.
Bei dieser Wahl wird ein weiteres Mal deutlich, dass die Wähler in den neuen Bundesländern die moderneren, die flexibleren Demokraten sind: Weniger festgelegt in der Vorstellung, überhaupt zur Wahl gehen zu müssen, aber auch weniger festgelegt, welche Partei sie wählen. Diese Wechselbereitschaft ist im Osten bei Frauen wie bei Männern vorhanden, bei Jungen wie bei Älteren, bei ökonomisch Erfolgreichen wie bei wirtschaftlich schlechter Gestellten.
Im Westen ist diese Entwicklung noch etwas gebremst, aber unübersehbar und weiter auf dem Vormarsch. Alte Zuordnungen werden immer weniger verlässlich, das gilt für die strukturellen Zuordnungen und das gilt auch für Regionen. Parteien müssen immer mehr bzw. immer heterogenere Gruppen ansprechen. Die Wahlkämpfe werden länger und schwieriger, aber auch wichtiger. Personen haben im neuen Geflecht sogar eher größere Chancen, aber auch der Absturz vollzieht sich möglicherweise schneller und ist gefährlicher.
Die rot-grüne Koalition ist knapp bestätigt worden, weil die Union - einschließlich ihres Spitzenkandidaten - nicht wirklich als die zwingende Alternative angesehen wurde. Die FDP hat eine unklare Koalitionspolitik betrieben, fehlgeleitet durch eine völlig unrealistische Strategie, und fiel deshalb als verstärkende Oppositionskraft bei der Ablösung der Regierung weitgehend aus. Die PDS ist gescheitert, wohl auf Dauer, weil sie nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist und die Wähler ihr nicht zutrauen, dass sie irgendwelche Probleme lösen könnte.
Die neue Regierung wird es sehr schwer haben, gegen eine gestärkte Opposition insgesamt und gegen die wahrscheinlich anhaltende Mehrheit im Bundesrat anderer Couleur anzukommen. Viel Mut ist gefordert, um begonnene Reformvorhaben gegen eine Vielfalt widersprechender Interessen durchzusetzen. Dazu wären Visionen erforderlich, die aus heutiger Sicht nicht erkennbar sind.