Einleitung
Fast schon regelmäßig treffen sich mittlerweile die sozialdemokratischen Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten, um über das so genannte "moderne Regieren" unter wohlfahrtsstaatlichen Aspekten zu debattieren. Viel wurde darüber diskutiert, wie die Auseinandersetzung zwischen Politik und Markt inhaltlich zu gewinnen ist
Wie die Staats- und Regierungschefs der USA, Großbritanniens und Deutschlands typische Muster der Entscheidungsfindung zur jeweiligen Problembewältigung ausbilden, wird nachfolgend als Regierungsstil definiert und dargestellt
Zur Beantwortung der Frage, wie Staats- und Regierungschefs regieren, d. h., wie sie die politische Koordination, die Leitung und Lenkung des politischen Entscheidungsmanagements betreiben, wurden drei unterschiedliche Zugänge gewählt:
Systemtypologische Zugänge
Politisches Entscheiden wird dabei nach Typologien differenziert. Der klassische Institutionalismus unterscheidet politische Systeme üblicherweise anhand einer für wesentlich gehaltenen institutionellen Variablen. Die wichtigsten Beispiele für dieses Vorgehen sind die Typologisierung parlamentarischer und präsidentieller Systeme als zwei verschiedene Modi der Organisation des Verhältnisses von Exekutive und Legislative: Nicht nur die Legitimation der Macht ist in beiden Systemen unterschiedlich, sondern auch das Regierungshandeln
Machtzentrierte Zugänge
Politisches Entscheiden wird hier nach der verfassungsmäßigen Stellung der Staats- und Regierungschefs unterschieden: Wer ist mächtiger? Ist der amerikanische Präsident mächtiger als der britische Premier?
Zugänge aus dem Bereich der politischen Führung
Politisches Entscheiden nach Kriterien der "political leadership" stehen hier im Blickfeld
Alle drei genannten Zugänge zum Rahmenthema des Regierungshandelns, also der systemtypologische, der machtzentrierte oder der Führungsstil-Zugang, liefern nur begrenzte Antworten auf die Frage nach den Kennzeichen des modernen Regierens. Nachfolgend soll es daher nicht um die Charakterisierung der Gesamtsysteme in ihrem Entscheidungsverhalten gehen, auch nicht um den persönlichen Führungsstil eines Präsidenten oder eines Kanzlers, sondern nur um einen Ausschnitt des Regierungshandelns - konkret um die politische Entscheidungsfindung der Präsidenten, Premiers, Kanzler, also um den Regierungsstil in den Ländern Großbritannien, USA und Deutschland. Es wird gefragt, welche Instrumente des Regierungshandelns sich aus der Perspektive des Staats- und Regierungschefs herausfiltern lassen. Welche typischen Muster des politischen Entscheidens wählten sie? Dazu ist in zwei Richtungen das Thema zu entfalten: Was ist der aktuelle wissenschaftliche Befund zum Prozess des politischen Entscheidens in den drei genannten Ländern? Welche Entscheidungsmuster wählten die Staats- und Regierungschefs, um ihr Regierungsmanagement zu betreiben?
I. Der wissenschaftliche Befund: Politisches Entscheiden in den USA, Großbritannien und Deutschland
Um eine zusammenfassende Analyse von Akteurshandeln und institutionellen Prägungen bemüht sich der so genannte "Akteurszentrierte Institutionalismus"
Deutschland
Das politische System der Bundesrepublik Deutschland kann als Mischform charakterisiert werden: eine Kombination von parlamentarischen Strukturen und Verhandlungssystemen
Die Eigentümlichkeit des politischen Entscheidens im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland kommt besonders prägnant zum Ausdruck, wenn man das politische System als parlamentarisches Regierungssystem mit Kanzlerhegemonie bezeichnet. Parlamentarische Systeme kennzeichnet die Möglichkeit zur Abberufbarkeit der Regierung durch das Parlament. Der Handlungsverbund zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit wird durch ein verfassungsrechtlich geschütztes starkes Kanzlersystem profiliert.
USA
Formal ist in Mehrheitsdemokratien wie den USA - noch dazu als Präsidialsystem - die Entscheidungsfindung transparenter und eindeutig auf den Präsidenten zugeschnitten. Die Exekutivstruktur (der Präsident ist Staats- und Regierungschef in Personalunion - core executive) ist um den Präsidenten herum gruppiert
Da keine zentralistisch organisierten Parteien im europäischen Sinne existieren und keine Partei- und Fraktionsdisziplin besteht, muss der Präsident im System von checks und balances für jedes politische Vorhaben Ad-hoc-Majoritäten suchen. Das gewaltenteilige System der USA trennt die Exekutive strikt vom Kongress und regelt deren Beziehungen zueinander. Wie wenig eine Mehrheit der gleichen Partei im Kongress für den Erfolg des Präsidenten bedeutet, haben die ersten beiden Jahre der Clinton-Administration gezeigt. Diese Konstellation ist zudem eine Ausnahme geworden. "Divided government", also die unterschiedliche parteipolitische Zugehörigkeit des Präsidenten und der Mehrheit im Kongress, ist zur Regel geworden.
Großbritannien
Auch Großbritannien zählt zu den Mehrheitsdemokratien. Verstärkt durch das Mehrheitswahlrecht entsteht eine mit satter Mehrheit ausgestattete Regierung, die von einer Partei getragen wird. Der Premierminister ist im britischen Zweiparteiensystem keinen Koalitionszwängen ausgesetzt, sein Handlungsspielraum ist nicht durch eine an Kompetenzen dem Bundesrat vergleichbare zweite Kammer eingeschränkt, er hat durch den in Großbritannien fehlenden Föderalismus ein deutlich breiteres Aktionsfeld als der deutsche Bundeskanzler, er muss nicht die Kassierung politischer Entscheidungen durch ein Verfassungsgericht einkalkulieren und er kann ein ihm widerstrebendes Parlament ohne die dem deutschen Bundeskanzler vom Grundgesetz angelegten Fesseln auflösen
Schon im Begriff des "prime ministerial government" - der Premierminister-Regierung - steckt die unterstellte Machtfülle des britischen Premiers: Er kann schalten und walten, solange er die Mehrheit im Unterhaus hinter sich eint. Die sprichwörtliche Parlamentssouveränität im Westminster-Modell lässt keine "Gegenregierungen" zu. Doch selbst die eindeutigen Mehrheitsverhältnisse erleichtern nicht von vornherein die politische Entscheidungsfindung für den Premier. Als Parteivorsitzender, als Regierungschef (mit Ernennungs- wie Entlassungskompetenz), als zentrale Führungs- wie Koordinierungsinstanz innerhalb des Kabinetts, schließlich als das Regierungsmitglied, welches im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht, besitzt der britische Premier ganz außerordentliche strategische Vorteile gegenüber seinen Kollegen. Allerdings ist die Stellung des Regierungs-Kabinetts im britischen System stärker ausgebaut als im präsidentiellen. Im amerikanischen Fall ermöglicht die geringe Abhängigkeit dem Präsidenten die Formulierung eigener Politikziele, keinesfalls aber immer deren Durchsetzung. Im britischen Fall kann sich je nach politischer Konstellation die größere Abhängigkeit machtverstärkend oder auch in starkem Maße machthemmend auswirken
Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die systembedingten Unterschiede in der Stellung der Staats- und Regierungschefs zu sehr unterschiedlichen Entscheidungsspielräumen führen. Außerdem grenzen die "elastischen Wände" den Handlungskorridor für den deutschen Bundeskanzler eindeutig mehr ein, als es für den britischen Premier oder den amerikanischen Präsidenten ermittelt werden kann.
II. Das Regierungshandeln aus Akteursperspektive
Es bleibt im nächsten Schritt zu prüfen, wie die jeweiligen Staats- und Regierungschefs - konkret Clinton, Blair, Schröder - das politische Entscheidungsmanagement bisher betrieben. Lassen sich bestimmte Entscheidungsstile analysieren, die alle für ihr Regierungshandeln nutzten? Dazu ist es hilfreich, einen spezifischen Zugang zu wählen, der den jeweiligen Handlungskorridor der Staats- und Regierungschefs stärker berücksichtigt, sozusagen einen "Präsidenten-, Premier-, Kanzlerzugang" zur Steuerungsproblematik: Wie konnten sie den Handlungskorridor offen halten? Die nachfolgend skizzierten sieben Varianten von Regierungshandeln sind Ausdruck von modernen Techniken des Regierens.
1. Machtzentralisierung
Im Mittelpunkt des Regierungsmanagements steht zunächst die Machtzentralisierung. Clinton, Blair und Schröder erhalten - bzw. erhielten - ihre Macht durch tägliche Einflusssicherung, weniger durch Herrschaft. Denn die Herrschaft im Sinne einer hierarchischen Ordnung, z. B. als gewählter Vorsitzender einer Partei, stabilisiert aus dem Amt heraus keinen Machtanspruch. Selbst wenn der Machterwerb zu klaren Mehrheitsverhältnissen führte: Diese ersetzen nie die mühsame Tagesarbeit, nämlich die Machtstabilisierung durch den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Kommunikationsnetzwerken. Erst diese Ressourcen sichern Regierungsarbeit und Machterhalt.
Welche Ressourcen sind das? Welche strategische Nutzung der vorhandenen Institutionen wurde bevorzugt? Steuerungsleistungen im Sinne der hierarchischen Machtzentralisierung versuchten in Deutschland alle Kanzler mit unterschiedlichem Geschick über den Ausbau des Kanzleramtes und die Machtnahme der Partei auszuüben
Das politische System der USA will Machtzentralisierung verhindern. Auf der systemischen Ebene gibt es für den Präsidenten nur geringe Möglichkeiten, um Machtanhäufung - z. B. durch Schaffung neuer Institutionen - voranzutreiben. Ihm bleibt eher die Ausdifferenzierung bestehender Institutionen. Der Präsident ist Chef der Exekutive. In der Verfassung wird die Exekutivgewalt mit knappen Worten dem Präsidenten, nicht etwa einer Regierung als Kollegialorgan übertragen. Aber seine Hausmacht kann der Präsident weder von den Parteistrukturen noch aus dem unüberschaubaren Regierungsapparat ableiten. Machtzentren sind schwer auszumachen, der politische Prozess ist vielfältig fragmentiert
Umso wichtiger ist es, Machtzentralisierung zu betreiben, um die Hauptfunktion des Präsidenten, die Prioritätensetzung sowie die Kontrolle der Kongress-Initiativen, überhaupt betreiben zu können. Machtzentralisierung kann er nur eingeschränkt über personalpolitische Strategien bei der Bestellung des Spitzenpersonals erreichen. Denn die Leiter des viel verzweigten Regierungsapparates werden in der Regel mit Zustimmung des Senats berufen. Größeren Einfluss kann der Präsident auf das "White House Office" - seinen persönlichen Stab - geltend machen. Das "kitchen cabinett", das eigentliche Team des Präsidenten innerhalb des "White House Office", ist die zentrale Agentur der Politikgestaltung. Es ist die für jeden Präsidenten neu zu bestimmende Institution der Machtzentralisierung. Andere Machtquellen müssen eingebunden oder ausbalanciert werden, wie sich an Clintons Umgang sowohl mit dem Kabinett
Sehr viel eindeutiger sind die Chancen zur Machtkonzentration im britischen System ausgeprägt
Blair hat jedoch das traditionelle Westminster-Modell ausgehebelt, weil er zur Politiksteuerung eine extreme, persönlich geprägte Machtfülle förderte. Er konzentrierte die Regierungsmacht in Downing Street No. 10 und machte das Unterhaus zum Erfüllungsgehilfen
2. "Stilles Regieren"
Handlungskorridore werden beim so genannten "Stillen Regieren" nicht durch Prozesse der Hierarchisierung oder eine Neuinterpretation von Institutionen erweitert - wie bei der Machtzentralisierung -, sondern durch Informalisierung. Staatliche Steuerung kann nicht mehr über hierarchisch-staatliche Entscheidungen erfolgen, sie muss sich weiterer Techniken bedienen: verhandeln, positive Anreize bieten, moderieren. Ausdruck dieser weicheren Techniken als Kompensation von Steuerungsverlusten ist das "Stille Regieren".
Es lässt sich nachweisen, wie eine institutionelle Stabilisierung der deutschen Koalitionsdemokratie gerade durch die Prozesse der Informalisierung und Parteipolitisierung erfolgte
Bundeskanzler Schröder startete anfänglich zunächst Versuche einer neuen Formgebung: Der institutionalisierte Regierungsapparat sollte seine traditionelle Funktion zurückerhalten. Die informellen, wenig transparenten Entscheidungsorgane, die im personalisierten und extrem auf die parteipolitischen Abstimmungsmechanismen ausgerichteten System Kohl eine wichtige Rolle spielten, sollten an Einfluss verlieren. Nicht mehr die Koalitionsrunde, sondern das Kabinett wollte Schröder zur Diskussion und Beschlussfassung nutzen. Der Praxisschock des Regierungsalltags und die Kritik am Koordinationschaos führte jedoch sehr schnell dazu, dass Schröder auch die so verpönten "Kungelrunden" als Horte des "Stillen Regierens" aktivierte und neue Koordinationsgremien schuf
Für Clinton war es systembedingt schwierig, eine formale Hierarchie herzustellen: Machtzentralisierung soll gerade verhindert werden. In der präsidentiellen Demokratie konnte er durch Informalisierung den Machtteilungen und Fragmentierungen des politischen Prozesses entgegenwirken. Stilles Regieren hat in den USA nicht den Beigeschmack von "Kungelrunden", sondern wird als notwendig erachtet, um strategische Allianzen knüpfen zu können. Es lässt sich belegen, wie unter Clinton noch stärker als zuvor in informellen Zirkeln die Abstimmungen zu wichtigen politischen Fragen getroffen wurden. In den letzten Jahren bedurfte es hierbei eines besonders ausgeprägten Geschicks, denn es bildete sich die Tendenz heraus, "Pakete" - so genannte "Omnibus legislation" - auf die Tagesordnung des Kongresses zu bringen
Informalisierung der Entscheidungsstrukturen ist auch unter Blair festzustellen. Es gilt also auch für ein System, in dem keine Notwendigkeit zur Etablierung koalitionsinterner Abstimmungsmechanismen besteht. Die Verlagerung aus dem Kabinett in informell arbeitende Kabinettsausschüsse oder in handverlesene Treffen in Downing Street No. 10 gehört zu einem besonderen Stilmerkmal Blairs. Man kann von "sofa government"
3. Netzwerk-Pflege
Ausdruck pragmatischer Moderation bei der internen Entscheidungsfindung ist die Netzwerk-Pflege. Gemeint ist eine Steuerung durch Integration von Interessengruppen und Konsens der Beteiligten. In Deutschland kommt die Netzwerk-Pflege im Gewand des Neokorporatismus daher; in den USA und Großbritannien als verhandlungsdemokratisches Arrangement. Durch Netzwerk-Pflege sollen Entscheidungsblockaden verhindert werden. Die Hauptakteure haben sich damit neue "Institutionen" zur Entscheidungssteuerung geschaffen. Die informellen Netzwerke verbinden unterschiedliche Entscheidungsarenen. Die freiwillige Koordination erfolgt häufig im "Schatten der Hierarchie und Mehrheit" (Scharpf). Dieser Regierungsstil beruht auf dem Konsens der Beteiligten. Wer diesen Konsens zustande bringt - in der Regel einen Konsens, der ihm auch selbst nicht gerade schadet -, der übt seine Macht auf sanfte Weise aus.
Mit dem Versprechen, den Runden Tisch - also Bündnisse oder Solidarpakte - zur Dauereinrichtung werden zu lassen, pflegt Schröder den korporatistischen Führungsstil von Kohl. Je schwieriger es für die Kanzler wurde, Akzeptanz für Entscheidungen zu erzielen, umso sorgfältiger mussten die Reaktionen der Adressaten von Entscheidungen im Entscheidungsprozess antizipiert bzw. die Adressaten von vornherein in den Entscheidungsprozess selbst integriert werden. Das institutionelle Ergebnis dieser korporatistischen Stile ist ein ausgeprägtes Konkordanzsystem von auch gut TV-mäßig visualisierbaren Kompromiss- und Konsensrunden: den so genannten Kanzlerrunden. Es gibt kaum eine wichtige Entscheidung, die nicht vorbereitend begleitet wird vom Gespräch am Runden Tisch. Schröder bevorzugt dabei fast im Stile Konrad Adenauers Treffen mit Lobbyisten, ohne den zuständigen Fachressort-Minister am Gespräch zu beteiligen. Der Kanzler kann sich - natürlich auch mit Risiko behaftet - als Moderator der gegensätzlichen Interessen im Lande profilieren. Er nutzt den Wunsch in der Bevölkerung nach dem Konsens der Mächtigen, der zu organisieren ist: Konsens mithilfe toleranter Umarmung
Der Präsident der USA ist Führungs- und Integrationsfigur in einem. Die "power to lead" nutzt wenig, wenn nicht die Fähigkeiten zum bargaining hinzukommen. Dieses gradualistische Ausbalancieren verläuft sehr häufig über so genannte "issue networks"
Großbritannien verfügt über keinerlei Tradition von Konsensdemokratie. Bündnispolitik und Netzwerk-Pflege sind auf den ersten Blick in einem System klarer zentralistischer Mehrheitsverhältnisse in der Einparteien-Regierung unüblich. Dennoch favorisiert gerade Blair die Netzwerk-Pflege. Er signalisiert damit Sensibilität für zunehmende Konsensbedürfnisse in modernen demokratischen Gesellschaften. Unablässig arbeitet Blair daran, das breite Bündnis zusammenzuhalten, auf das sich New Labour stützt: Unternehmer, City, Medienkonzerne, reformwillige Gewerkschaften und Mittelschichten
4. Chefsachen-Mythos
Indem ein politischer Sachverhalt zur Chefsache erklärt wird, versuchen die Akteure, die Entscheidungskompetenz und die Steuerungspotentiale zurückzuholen bzw. zu betonen. Die Chefsache macht Hierarchie wieder möglich und sprengt die Zwänge der Politikverflechtung, verschafft somit Optionen, um den Handlungskorridor offen zu halten
Man kann den Eindruck gewinnen, dass an die Stelle der verfassungsmäßigen, aber für den Kanzler weitgehend unbrauchbaren Richtlinienkompetenz die Entdeckung der Chefsache getreten ist. Solange man die Richtlinienkompetenz besitzt, muss man sich nicht auf sie berufen. Jede öffentliche Demonstration von Führungsstärke mittels einer formalen Richtlinienkompetenz ist ein Anzeichen von Führungsschwäche. Die Konstruktion von Chefsachen-Zuständigkeiten ist wesentlich wirkungsvoller. Es suggeriert gegenüber dem Publikum: Nun wird es ernst, der Chef packt selber mit an. Der Chefsachen-Mythos setzt mittels öffentlicher Artikulation und Inszenierung auf Kompetenz- und Steuerungszuwachs. Vom Regierungschef werden beständig "Machtworte" und entschiedenes Durchgreifen verlangt. In dieser Situation ist es für jeden Amtsinhaber eine große Versuchung, durch plakative Einzelaktionen diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Wenigstens für einen Moment fallen öffentliche Erwartungen und reale Möglichkeiten des Amtes zusammen.
Das Präsidentenamt lebt in den USA schon immer vom Chefsachen-Mythos. Die "State of the union-message" bietet rituell die anschauliche Plattform dieses Stils von Regierungshandeln. Der Präsident symbolisiert die nationale Einheit. Die US-Amerikaner idealisieren deshalb vielfach die Person des Amtsinhabers und schaffen durch Klischees mythische Figuren. Unterstützt wurde diese Aura durch ein Macher-Image von Clinton, das durch seinen habituellen Optimismus allen neuen Herausforderungen trotzte
Tony Blair benutzt gerne die Bezeichnung: "joined up government"
5. Telepolitik
Telepolitik bedeutet Regieren in der Publikumsgesellschaft. Bürger und Medien verlangen von den Regierungen eine Politik der Kohärenz. Komplizierte Aushandlungsdemokratie wird dabei scheinbar durch Telepolitik ersetzt. Da politische Entscheidungen kommunikationsabhängiger geworden sind, wird mittels Telepolitik versucht, Entscheidungskompetenz zurückzugewinnen
Schröder sucht plebiszitäre Formen der Abstimmung oder "going public"-Ankündigungen in dem Maße, wie er der Unterstützung seiner eigenen Partei nicht sicher sein kann. Dadurch kann man die eigenen Imagewerte verbessern und die Parteigremien vor vollendete Tatsachen stellen. So gelang dies Schröder einige Male. Die Grenzen dieses Politikstils, der seine Legitimation aus dem telegenen Schwung ableitet, der das Fernsehen als Kommunikationsorgan bevorzugt, werden schnell sichtbar, wenn diese Medienprominenz nicht in innerparteiliche Zustimmung umgewandelt wird.
"Going public" wendet sich in den USA an die Gesamtöffenlichkeit, zielt jedoch im Blick auf Entscheidungsfindung konkret auf die Verhandlungsbereitschaft des Kongresses. Wie sehr "going public" die Grenzen zwischen Wahlkampf und Regieren verwischt, wurde unter Clinton besonders augenfällig. "Campaining to Govern"
Blair lebt die Einheit von Partei, Projekt und Person vor. Ihn kennzeichnet ein direkter Dialog mit den Wählern durch Plebiszite. Er favorisiert focus groups. Das sind Keimzellen von jeweils zehn bis zwölf Wählern aus "Middle England", denen in langen Tiefeninterviews Ansichten über Politik und Gesellschaft entlockt werden. Diese Keimzellen spiegeln ganz bewusst keine repräsentative Wählermeinung wider. Sie sind auch methodisch umstritten, jedoch politisch wirkungsvolle Instrumente des "going public". Keine Gesetzesinitiative, keine Politikentwürfe, keine Problemlösungen, die nicht zuvor durch focus groups getestet werden. Die legendären spindoctors, die Medienmanipulatoren, bearbeiten nicht nur systematisch die Medienlandschaft, sondern auch alle Minister, damit die Telepolitik aus einem Guss ist. Die Grenzen dieser Stilmuster sind jedoch auch in Großbritannien sichtbarer geworden. Zuletzt kämpfte Blair gegen seinen Imageverlust, indem er in einem Geheimpapier medienwirksame Aktionen vorschlug, mit denen der Bevölkerung wieder das Gefühl gegeben werden sollte, dass die Regierung "auf der Seite des einfachen Mannes" sei: Darstellungspolitik sollte Entscheidungspolitik ersetzen
6. Der Charme der Ressource Außenpolitik
Die Entscheidungsdynamik und die Entscheidungskompetenz sind im Bereich der Außenpolitik in allen politischen Systemen personenzentriert auf die Staats- und Regierungschefs ausgerichtet. In den USA ist dieser Anspruch sogar verfassungsrechtlich gesichert; der Präsident ist zugleich Oberkommandierender der Streitkräfte. Auch daraus hat sich eine Doktrin präsidentieller Vorherrschaft in der Außenpolitik entwickelt.
Die Außenpolitik gehorcht grundsätzlich anderen Regelmäßigkeiten, da sie weniger in die checks and balances der Innenpolitik eingebunden ist. Sie ist in weit höherem Maße von internationalen Rahmenbedingungen geprägt, noch dazu als Reservat der Exekutive
Die Außenpolitik ermöglicht öffentlichkeitswirksame Darstellung und eine Distanzierung vom täglichen bürokratischen Politikgeschäft. Im Rampenlicht steht der Staats- bzw. Regierungschef, was auch eine Mobilisierung der öffentlichen Zustimmung durch das Inszenieren von Krisen und Zuspitzungen ermöglicht. Meistens entdeckten die Chefs diese Ressource erst, nachdem innenpolitische Schwächen sichtbar wurden. Clinton suchte das außenpolitische Terrain, nachdem sich sozialpolitische Reformen nicht verwirklichen ließen. Seine Außenpolitik avancierte zur umfassenden "Economic Diplomacy"
Gerhard Schröder startete das Amt des Bundeskanzlers ebenso wie sein Vorgänger Kohl als Innenpolitiker. Internationale Kontakte und Erfahrungen mussten erst erarbeitet werden. In der Startphase der Regierung Schröder/Fischer konnte die EU-Präsidentschaft und der Krieg im Kosovo vom innenpolitischen Koordinationschaos ablenken. Der neue Kanzler agierte öffentlichkeitswirksam, staatstragend und in der verlässlichen Kontinuität der Vorgängerregierung
Die Konzentration auf die Außenpolitik verringert die Angriffsflächen der Amtsführung in allen politischen Systemen, womit keinesfalls behauptet werden soll, dass Außenpolitik wahlentscheidend wäre - ganz im Gegenteil
7. Ideen-Management
Ideen, Wertvorstellungen und Überzeugungen kommt in der Politik eine gestaltende Kraft zu. Mittlerweile ist in einigen Politikfeldern nachgewiesen worden, welche problemlösende Kraft den Ideen - und eben nicht nur den Interessen - in Verhandlungssituationen zukommt. Ideen reduzieren die Komplexität der gesellschaftlichen Wirklichkeit; das gilt auch für Entscheidungsfindungen in Verhandlungssituationen
III. Angleichungen der präsidentiellen und parlamentarischen Systeme?
Sieben unterschiedliche Muster des Regierungshandelns konnten vorgestellt werden. Sie charakterisieren Formen des modernen Regierens. Diese spezifischen Strategien des Entscheidungsmanagements verschaffen den Staats- und Regierungschefs Optionen, um ihren jeweiligen Handlungskorridor zu erweitern. Wie, also in welchem Mischungsverhältnis, sie jeweils diese sieben Varianten nutzen, kann als der persönliche Regierungsstil des Amtsinhabers charakterisiert werden.
Nicht alle sieben Typen des Regierungshandelns sind permanent gleichgewichtig im Einsatz. Das Regierungsmanagement bedient sich in unterschiedlichen Phasen situativ dieser Instrumente. Die vorgestellten Entscheidungskonstellationen charakterisieren Handlungsmöglichkeiten angesichts der Veränderung von Steuerungspotentialen in einem Staat, der über keine klassisch-nationalstaatliche Souveränität mehr verfügt. Regieren spielt sich häufig in vernetzten Gesellschaften im Verhandlungsmarathon mit vielfältigen Akteuren ab. Trotz unterschiedlicher Systembedingungen finden sich die sieben Typen in jedem der charakterisierten politischen Systeme.
Mit dem theoretischen Ansatz des Akteurszentrierten Institutionalismus lässt sich aus der Perspektive der Staats- und Regierungschefs die Wechselwirkung zwischen dem jeweiligen Systemkontext und der Akteurskonstellation zeigen. Auf der Entscheidungsebene sind die Staats- und Regierungschefs die zentralen Akteure, welche die Institutionen für sich strategisch instrumentalisieren oder gegebenenfalls neue Institutionen schaffen, um politische Optionen zu beeinflussen. Andererseits spinnen die Staats- und Regierungschefs Akteursnetze um Institutionen, die sie nicht unmittelbar für sich instrumentalisieren können (z. B. den Kongress in den USA), um Informationsvorsprung zu gewinnen oder um für sie negative Vorentscheidungen zu verhindern.
Durch die vergleichende Methode konnte diese Wechselwirkung zwischen dem Systemkontext und der Akteurskonstellation auch zwischen den drei verschiedenen politischen Systemen anschaulich gemacht werden. So belegen die systembedingten Faktoren beispielsweise, dass es für den US-Präsidenten wesentlich schwieriger ist, durch institutionelle Arrangements eine notwendige Machtzentralisierung zu erreichen als beim britischen Premier. Andererseits war Telepolitik für Clinton einfacher zu nutzen, da ihn dabei systembedingte Parteienherrschaft nicht begrenzte. Die akteursbedingten Faktoren - also die Entscheidungsarrangements der Hauptakteure - dokumentieren in der Mehrzahl ihrerseits, wie sich die Staats- und Regierungschefs ihrer begrenzten Rolle bei der Entscheidungsfindung bewusst sind. In den vielfältig verflochtenen Verhandlungsdemokratien bietet die Vorliebe für high politics und symbolische Politikdarstellung eine der wenigen Möglichkeiten für die politischen Akteure überhaupt, noch sichtbar zu bleiben. Hier zeigte sich, dass auch Regierungschefs in parlamentarischen Demokratien zu Entscheidungsstilen greifen, die eher Präsidenten zugedacht sind, wie beispielsweise "Chefsachen-Mythos" oder "Telepolitik".
Die unterschiedlichen Typen des Regierungshandelns sind nicht risikolos. Sie enthalten zwar handlungsermöglichende Ressourcen; bei einseitiger Überdehnung einzelner Varianten stellen sich jedoch rasch auch Restriktionen ein. Modernes Regieren in spezifischen institutionellen Kontexten bietet somit keinesfalls einen Freibrief für immer währendes Regieren.