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Ende oder Wandel der Erwerbsarbeit? | "Neue Arbeitswelt" | bpb.de

"Neue Arbeitswelt" Editorial Ende oder Wandel der Erwerbsarbeit? Thesen zur Geschichte und Zukunft der Arbeit Der souveräne Arbeitsgestalter in der zivilen Arbeitsgesellschaft Mögliche Chancen und befürchtete Fallen der "Neuen Tätigkeitsgesellschaft" für Frauen Alte Leitbilder und neue Herausforderungen: Arbeitsmarktpolitik im konservativ- korporatistischen Wohlfahrtsstaat

Ende oder Wandel der Erwerbsarbeit? Die hausgemachte Arbeitslosigkeit

Wolfgang Klauder

/ 12 Minuten zu lesen

Die Arbeit braucht uns auch im Wandel der Arbeitswelt nicht auszugehen. Die anhaltende Krise auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist vorwiegend hausgemacht und somit lösbar.

Einleitung

Seit Mitte der siebziger Jahre ist in der Bundesrepublik - wie in vielen anderen Ländern - die Arbeitslosigkeit enorm gestiegen. Als sie in Deutschland in den neunziger Jahren ein Ausmaß wie um 1950 erreichte, wurde beinahe gängige Meinung, dass die revolutionären Informationstechnologien und die umfassende Globalisierung nunmehr endgültig für einen großen Teil der Arbeitnehmer das Ende der Erwerbsarbeit einläuteten. Seither dürften in Deutschland um die zehn Millionen reguläre und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze fehlen . Zwar besserte der jüngste Konjunkturaufschwung Arbeitsmarktlage und Stimmung. Auch wird wegen des Geburtendefizits verbreitet mit tendenziell schrumpfendem Arbeitskräftepotential und zunehmendem Nachwuchs- und Fachkräftemangel gerechnet. Aber die verbreitete Befürchtung langfristig schwindender Arbeitsplätze besteht nach wie vor. Außerdem könnten steigende Erwerbsbeteiligung und Zuwanderungen den Geburtenrückgang rein quantitativ noch viele Jahre kompensieren.

Zweifellos befinden sich die Industrieländer mitten in einem fundamentalen Strukturwandel der Wirtschafts- und Arbeitswelt von der nationalen Industrie- zur globalen wissensintensiven Informations- und Dienstleistungsgesellschaft, vergleichbar nur mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Dies wird die Beschäftigungsstrukturen und Arbeitsformen von Grund auf verändern. Muss aber deshalb die Erwerbsarbeit schrumpfen?

Jede Prognose ist nur so gut wie die zugrunde liegende Diagnose. Ein Blick in die internationale Statistik müsste die Pessimisten stutzig machen. So hat sich in mehreren OECD-Ländern im letzten Vierteljahrhundert die Beschäftigung kräftig erhöht, in den USA stieg die Zahl der Arbeitnehmer mit über 50 Millionen sogar um zwei Drittel. Heute herrscht dort fast Vollbeschäftigung, obgleich sich das Erwerbspersonenpotenzial doppelt so stark erhöhte wie in der Bundesrepublik. In Europa gelang den Niederländern bereits in den achtziger Jahren eine Trendwende, in den frühen neunziger Jahren folgten Länder wie Dänemark, Großbritannien und Irland. Die Schweiz und - bis vor kurzem - Österreich und Japan konnten ihre Arbeitsmarktprobleme über die gesamte Zeit recht gut meistern. Entgegen den verbreiteten Kassandrarufen erhöhte sich im Übrigen in den meisten Ländern mit relativ hohem Beschäftigungswachstum bemerkenswerterweise auch das Arbeitsvolumen. Lässt man alle Länder Revue passieren, so zeigt sich: Das Beschäftigungsproblem ist im Wesentlichen ein Problem der alten großen kontinentaleuropäischen Industrieländer, insbesondere der Bundesrepublik, die sowohl im längerfristigen wie im kurzfristigen Vergleich zu den Schlusslichtern zählt.

Ausdruck unzureichender Diagnose ist auch der Schluss, den seit den siebziger Jahren zu beobachtenden Anteilsrückgang der Normalarbeitsverhältnisse wie Ulrich Beck als "rapide Ersetzung von Vollarbeitsplätzen durch räumlich, zeitlich und vertraglich flexible Unterbeschäftigung" zu interpretieren. Eine genauere Analyse zeigt nämlich: Die Anzahl unbefristeter Vollzeitarbeitsplätze hat sich gar nicht nennenswert vermindert. Der Anteilsrückgang ist vielmehr vor allem eine Folge der steigenden Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen, die überwiegend Teilzeitarbeit wünschen.

Die Ursachen für den längerfristigen Trend zur Abnahme des Arbeitsvolumens in Deutschland sind außerdem vielfältig. Hinter den beiden Komponenten des Arbeitsvolumens, der Zahl der Beschäftigten und ihrer durchschnittlichen Jahresarbeitszeit, stehen ganz unterschiedliche Bestimmungsfaktoren. Die Beschäftigtenzahl ergibt sich im Verlauf des Wirtschaftsprozesses aus Wirtschaftswachstum, Produktivitätsfortschritt und Strukturwandel, die Arbeitszeit dagegen maßgeblich aus den gesetzlichen und tarifrechtlichen Vorgaben. Sie wurde schrittweise vor allem bewusst verkürzt, um auch den immateriellen Lebensstandard zu heben, tarifvertraglich in Westdeutschland von 1960 bis 1998 immerhin um fast ein Viertel.

Sollte die These schwindender Erwerbsarbeit zutreffen und unsere heutige Arbeitslosigkeit erklären, wäre die Abnahme des Arbeitsvolumens kaum beeinflussbar, sondern schicksalhaft. Abgesehen von Katastrophen kommen hierfür nur zwei Ursachen in Frage:

- Im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt müssten sich die arbeitssparenden Effekte des technischen Fortschritts (miterfasst im Produktivitätsfortschritt) so verstärken, dass sie seine arbeitschaffenden Effekte (über neue Produkte und Dienste) im Trend nachhaltig übertreffen. Davon kann jedoch bisher nirgendwo die Rede sein, auch nicht in der Bundesrepublik . Dazu steht keineswegs im Widerspruch, dass in den einzelnen Tätigkeitsfeldern und Branchen ständig Arbeitsplätze neuen Technologien zum Opfer fallen.

- Als zweite Ursache kämen umfassende Marktsättigungen in Frage, die das Wirtschaftswachstum zum Erliegen bringen. Sättigungsgrenzen gibt es jedoch immer nur für einzelne Produkte und Dienste. Die menschlichen Bedürfnisse insgesamt und der menschliche Erfindungsgeist kennen kaum Grenzen.

Bei allen anderen denkbaren Ursachen handelt es sich dagegen entweder um Herausforderungen, die man bewältigen kann, oder primär um Politikmängel, die prinzipiell behebbar wären.

Auch die viel zitierte Globalisierung kann längerfristige Arbeitslosigkeit nicht erklären. Erstens ist die zunehmende internationale Verflechtung des Wirtschaftens ein jahrhundertealter Trend. Zweitens trifft die Globalisierung alle Länder, müsste also überall zum Jobkiller werden. Drittens ist auch die Weltwirtschaft kein Nullsummenspiel, das Welthandelsvolumen keine feste Größe. Wenn jeder das macht, was er am besten kann, und außerdem dort, wo es am günstigsten ist, können davon letztlich alle nur profitieren. Ökonomisch vertretbar sind daher nur befristete und degressiv gestaltete Übergangsregulierungen und Anpassungshilfen zur sozialverträglichen Abfederung des Strukturwandels. Diese Zusammenhänge gelten auch für den Arbeitsmarkt .

Man muss sich immer wieder vor Augen halten: Die Geschichte der ökonomisch florierenden Gesellschaften und des technischen Fortschritts ist eine Geschichte der fortlaufenden Umwandlung oder Vernichtung alter sowie der Entstehung neuer Produktmärkte und Betätigungsfelder und damit neuer Arbeitsplätze an anderer Stelle. Je schneller und offener dieser Wandel vorangetrieben wird, umso mehr Arbeitsplätze wird es geben.

Ein Handicap für die Akzeptanz einer optimistischen Einschätzung des Strukturwandels ist allerdings, dass man z. B. die Rationalisierungsmöglichkeiten durch neue Technologien ziemlich schnell sieht und nutzt, die neuen Produkte und Dienste aber erst entwickelt, die neuen Märkte und Betätigungsfelder erst entdeckt und erschlossen werden müssen. Das erfordert Zeit. Übergangsprobleme entstehen. Auch wenn wir - natürlich - künftige Produkte und Märkte nicht kennen können, spricht die Fülle an epochalen technischen Neuerungen dafür, dass wir am Beginn einer neuen langen Wachstumswelle stehen, wie sie mehrmals bereits früher von den bedeutenden Erfindungen ausgelöst wurde.

Wo kann und sollte demzufolge eine beschäftigungsorientierte Politik ansetzen? Ein internationaler Vergleich zeigt: Durchgreifende Arbeitsmarkterfolge sind das Ergebnis eines umfassenden Politik-Mix im Sinne einer pragmatischen Synthese aus Angebots- und Nachfragepolitik.

Die drei wichtigsten Erfolgskriterien sind:

- möglichst flexible Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte, die den Strukturwandel erleichtern und die private Initiative fördern;

- eine moderate und differenzierte Lohnentwicklung, die den Rationalisierungsdruck und damit das Tempo des Produktivitätsfortschritts dämpft, sowohl im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt als auch für einfache Arbeiten;

- eine wachstumsfördernde und zugleich tendenziell antizyklische, die private Nachfrage stützende Geld- und Finanzpolitik, bei der Staatsdefizite erst abgebaut werden, wenn ein selbsttragender kräftiger Wirtschaftsaufschwung entstanden ist und auch den Arbeitsmarkt voll erfasst hat, so dass die Sozialausgaben stärker sinken und die Steuerquellen kräftiger sprudeln als sonst.

Diese Kriterien sind in der Bundesrepublik zu selten beachtet worden. Was geschah und geschieht stattdessen? Seit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit stehen in fast allen Gesellschaftsbereichen beharrende, defensive Politikstrategien im Vordergrund. Sie sind geprägt durch die Strukturen und Verhaltensweisen des Industriezeitalters, durch einzelwirtschaftliche Sichtweisen sowie wenig Verständnis für marktwirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche dynamische Zusammenhänge.

Belege für die Behinderung des Strukturwandels sind u. a.: hohe Erhaltungssubventionen für alte Wirtschaftszweige ohne Zukunft (stattdessen Nettoimport moderner Dienstleistungen in Milliardenhöhe); langwieriger bürokratischer Hürdenlauf bei Unternehmensgründungen; zögerliche Lockerung der Abschottung gegenüber ausländischen Arbeitskräften, unbefristete Verlängerung des Entsendegesetzes; unerfüllte Teilzeitwünsche vollzeitbeschäftigter Frauen; bis vor kurzem Vorherrschen schematischer kollektiver Arbeitszeitverkürzungen; die Vorstellung eines festen Arbeitsvolumens, das man durch Verkürzung der Jahres- und Lebensarbeitszeit und Abbau von Überstunden einfach umverteilen könne; misstrauische Behinderung neuer Arbeits- und Erwerbsformen wie Teleheimarbeit, Zeitarbeit, befristete Arbeitsverträge; eine in jüngster Zeit noch weiter vorangetriebene Reglementierung des Arbeitsmarktes, obgleich diese im internationalen Vergleich bereits überdurchschnittlich hoch ist und andere Länder zeigen, dass sich durchaus Flexibilität und hohe soziale Sicherheit miteinander verbinden lassen.

Mitverantwortlich für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit war lange Zeit auch die Lohnpolitik. Zwar fielen die tariflichen Lohnerhöhungen nach den exzessiven Lohnschüben der siebziger Jahre in manchen Jahren durchaus relativ moderat aus. Ausgerechnet in den Boomjahren überstiegen sie jedoch immer wieder bei weitem den Produktivitätsfortschritt, begründet mit dem Recht der Arbeitnehmer auf Inflationsausgleich und Teilhabe an der Gewinnsteigerung.

Diese Begründungen unterliegen jedoch der monetären Illusion. Jede über den realen Produktivitätsfortschritt hinausgehende Erhöhung der Arbeitskosten aus Löhnen und Sozialabgaben steigert die Lohnstückkosten. Diesen Kostenanstieg versuchen dann die Arbeitgeber je nach Markt- und Konjunkturlage über höhere Preise oder Rationalisierung aufzufangen. Wird dadurch die Preisstabilität gefährdet, tritt schließlich die Zentralbank auf die Zinsbremse. Dieser Zusammenhang war eine wesentliche Mitursache für die tiefen Beschäftigungseinbrüche um 1975, 1982 und 1993. Ein zusätzlich zum Produktivitätsfortschritt gewährter Inflationsausgleich zementiert also die Preissteigerung oder führt zu Entlassungen. Beides schadet den Arbeitnehmern. Ebenso ist der Versuch, über Lohnerhöhungen den Arbeitnehmeranteil am Volkseinkommen dauerhaft zu steigern, letztlich zum Scheitern verurteilt. Dieses Ziel lässt sich systemgerecht nur über zusätzliche Kapitaleinkommen durch vermehrte Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand erreichen.

Verständlich, ökonomisch aber von verheerender Wirkung war außerdem die Politik der raschen Lohnangleichung in Ostdeutschland ohne Rücksicht auf die dortige Produktivität. Ebenso verfehlt sind die populären Forderungen nach internationalen Lohnvereinbarungen oder sozialen Mindeststandards auf Basis der Verhältnisse hochentwickelter Länder. Ökonomische Obergrenze für Lohnhöhe und Sozialstandards kann jeweils immer nur die Produktivität sein. Überschreitet man sie, so kostet dies Arbeitsplätze und behindert den Aufholprozess der schwächeren Länder und Regionen.

Zur heutigen Arbeitslosigkeit nicht unerheblich beigetragen haben auch die - gut gemeinten - überproportionalen Anhebungen der unteren Lohn- und Gehaltsgruppen. Außerdem trieben die seit 1960 verdoppelten Sozialabgaben einen immer größeren Keil zwischen Brutto- und Nettolohn. Einfache Arbeit wurde dadurch oft unbezahlbar, so dass sie entweder durch Maschinen oder durch Importe, Eigenarbeit und vor allem Schwarzarbeit ersetzt wurde oder ganz unterblieb. Ferner bilden manche Sozialtransfers de facto eine zu hohe Mindestlohngrenze für legale einfache Arbeit.

Wegen des Trends zu höheren Qualifikationsanforderungen besteht zweifellos die Gefahr wachsender Arbeitslosigkeit gering qualifizierter Arbeitskräfte. Dies ist aber ebenfalls nicht zwangsläufig. Allerdings ist der Königsweg der Qualifizierung nicht für alle gangbar. Unerlässlich wird daher die Schaffung eines umfassenden sozialverträglichen legalen Niedriglohnsektors. Ein effektiver und wohl auch haushaltsneutral zu finanzierender Ansatz hierfür wäre, das heutige Flickwerk des unabgestimmten, kaum noch überschaubaren, bürokratieträchtigen Nebeneinanders der verschiedensten Sozialleistungen durch ein Negativsteuersystem zu ersetzen, das zugleich ein existenzsicherndes Haushaltseinkommen sichert und genügend Arbeitsanreize ausübt. Dieses könnte alle steuerfinanzierten Sozialleistungen zu einem Universaltransfer zusammenfassen, nach objektiven Sozial- und Bedürftigkeitsmerkmalen differenziert sein und degressiv gleitend nahtlos in den progressiven Lohn- und Einkommensteuertarif überleiten. Immerhin haben bereits die USA, Großbritannien und Frankreich begonnen, diesen Weg einzuschlagen. Auf jeden Fall müssen in einer Marktwirtschaft Verteilungs- und Sozialprobleme vor allem über die Steuer-, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik gelöst werden. Regulierungen und die Bruttolöhne sind der falsche Ansatzpunkt.

Im Übrigen sprechen sowohl die Erfahrungen der Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren und anderer Länder als auch theoretische Überlegungen und Simulationsrechnungen dafür, dass es zu einem nachhaltigen Beschäftigungsaufbau dann kommt, wenn bis zum Abbau der Arbeitslosigkeit zugunsten der Einstellung Arbeitsloser auf eine volle Ausschöpfung des Verteilungsspielraums verzichtet wird. Allerdings ist der Erfolg von drei Bedingungen abhängig: Erstens müssen die Unternehmen darauf vertrauen können, dass die Lohnzurückhaltung keine Eintagsfliege ist. Zweitens dauert es einige Jahre, bis der - vor allem über Preise und Investitionen laufende - Anpassungsprozess voll wirksam werden kann. Drittens müssen die Geld- und Finanzpolitik für ein genügend expansives Wirtschaftsklima sorgen, so dass keine Kaufkraftlücke entsteht.

Für die Geldpolitik hat allerdings mit Recht die Wahrung einer weitgehenden Preisstabilität die höchste Priorität, ist diese doch eine zentrale Voraussetzung für die volle Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft. Umso mehr sind - neben der Lohnpolitik - die Wirtschafts- und Finanzpolitik gefordert, wenn bei stabilen Preisen ein hoher Beschäftigungsstand und ein angemessenes Wirtschaftswachstum gleichzeitig erreicht werden sollen. Diesem Erfordernis kam man jedoch seit den siebziger Jahren nur einseitig, halbherzig und inkonsequent nach.

So vernachlässigte die sozial-liberale Regierung der siebziger Jahre die Angebotspolitik, insbesondere die Kostenseite, und versäumte die Rückführung der Neuverschuldung in den Boomjahren. Bereits ab 1976 wurde die expansive Wirkung ihrer zahlreichen - nachfragepolitisch begründeten, aber meist nur gering dimensionierten - Investitions- und Beschäftigungsprogramme durch die "Doppelstrategie" einer gleichzeitigen Sparpolitik unterlaufen. Die liberal-konservative Regierung übersah in der Folgezeit die gesamtwirtschaftlichen Nachfrageeffekte ihrer Ausgaben- und Steuerpolitik, betrieb aber auch nur eine zaghafte Angebotspolitik. Unter beiden Regierungen fehlte außerdem die lohnpolitische Absicherung der expansiven Maßnahmen, sowohl bei den Beschäftigungsprogrammen als auch bei den Steuersenkungen und dem Transferprogramm für Ostdeutschland. Die Folge waren Strohfeuereffekte, da übermäßige Lohnerhöhungen den Preisauftrieb so verstärkten, dass die Bundesbank schließlich nicht nur die Expansion wieder abbremsen, sondern zur Wiederherstellung der Preisstabilität sogar ausgeprägte Rezessionen in Kauf nehmen musste. Überdies begannen beide Regierungen mitten in einer Rezession (1982 bzw. 1993) eine nachfragedämpfende, ausgerechnet vor allem bei den öffentlichen Investitionen ansetzende Politik der Haushaltskonsolidierung. Dies musste die Rezessionen vertiefen und verlängern und dadurch auch den intendierten Abbau des Staatsdefizits verzögern.

Die Finanzpolitik der jetzigen Bundesregierung ist zwar im letzten Jahr mit der Kombination von Steuerreform und mittelfristigem Konsolidierungskurs auf einen Pfad eingeschwenkt, der den wachstums- und konjunkturpolitischen Erfordernissen tendenziell eher entspricht. Doch verhindern offenbar nach wie vor einzelwirtschaftliche Sichtweisen die Erkenntnis, dass ein Staat aus einem Defizit mit offensiven Maßnahmen schneller und leichter herauswachsen kann, als wenn er sich mit defensiven Maßnahmen heraussparen würde. So wurde mit der hausväterlichen Verwendung des gesamten UMTS-Erlöses zur sofortigen Schuldentilgung die große Chance vertan, mit den Erlösen - ohne Aufgabe des Konsolidierungszieles und ohne Verletzung der EU-Kriterien - für einen befristeten Zeitraum zunächst eine nach Umfang und Tempo noch mutigere Steuerreform vorzufinanzieren, um einen nachhaltigen kräftigeren Aufschwung zu initiieren. Die Erfahrungen der Vergangenheit und die inzwischen mancherorts auf zwei bis drei Prozent gesunkenen Arbeitslosenquoten zeigen außerdem, dass sich - entgegen häufigen Erwartungen - bei starker Nachfrage auch eine als strukturell bezeichnete Arbeitslosigkeit zumeist überraschend schnell abbaut. Dies ist also kein Hinderungsgrund. Auch hätte man vor allem in Ostdeutschland umfangreichere Infrastrukturinvestitionen - als sie jetzt möglich sind - anstoßen können, um auf diese Weise insbesondere dort für den dringend benötigten Auftrieb zu sorgen. Eigentlich müsste doch schon die Geschichte gelehrt haben, dass es ökonomisch und politisch kurzsichtig ist, der sofortigen Rückzahlung von Schulden Vorrang einzuräumen, wenn - wie in Ostdeutschland - hohe Arbeitslosigkeit herrscht, wenn Perspektivlosigkeit und Radikalisierung um sich greifen und wenn außerdem sogar trotz enormer Infrastrukturdefizite mangels Nachfrage die Bauwirtschaft schrumpft. Das verbreitete Argument, die ostdeutsche Bauwirtschaft sei im Vergleich zur westdeutschen generell überbesetzt, ist fragwürdig. Maßstab kann jeweils nur der absehbare Baubedarf sein. Übersehen wird auch, wie oft die westdeutsche Bauwirtschaft "Konjunkturlokomotive" war.

Fazit: Die Arbeit braucht uns auch im Wandel der Arbeitswelt nicht auszugehen. Die anhaltende Krise auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist vorwiegend hausgemacht und somit lösbar. Defensive Maßnahmen und das Drehen an einzelnen Stellschrauben führen jedoch nicht weiter. Arbeitslosigkeit kann erfolgreich auf Dauer und ohne Wohlfahrtseinbußen nur offensiv über die generelle Förderung von Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung bekämpft werden. Die Arbeitswelt braucht Freiräume und Bedingungen, die Lust auf Arbeit, auf Märkte, auf Selbstentfaltung schaffen. Dazu bedarf es eines umfassenden Maßnahmenbündels aus sozialverträglichen Reformen und Flexibilisierungen der Rahmenbedingungen, einer längerfristig moderaten und differenzierteren Lohnentwicklung sowie einer mutigen, Angebot und Nachfrage gleichermaßen beachtenden Finanzpolitik, außerdem vermehrter Qualifizierung. Dann ist auch in Deutschland ein neues Wirtschafts- und Beschäftigungswunder möglich .

Fussnoten

Fußnoten

  1. Registrierte Arbeitslose plus Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, der Stillen Reserve sowie dem vorzeitigen Ruhestand zuzüglich der von Subventionen abhängigen Arbeitsplätze. Angesichts dieser Größenordnung des Beschäftigungsproblems ist auch die erneute Diskussion um den Anteil unechter Arbeitsloser müßig. Wenn deren Anteil sehr hoch sein sollte, müssten außerdem bei den enormen regionalen Unterschieden der Arbeitslosenquoten (2 - 30 %) seltsamerweise besonders viele in bestimmten Regionen wohnen.

  2. Hier haben sich die Produktivitätsraten in den letzten Jahrzehnten zeitweilig sogar stärker verlangsamt als das Wirtschaftswachstum und liegen auch heute noch weit unter dem Niveau der fünfziger bis siebziger Jahre.

  3. Wenn etwa eine portugiesische Baufirma wegen ihrer niedrigeren heimischen Lohnkosten Bauleistungen hierzulande billiger anbieten kann als deutsche Firmen, geraten letztere zwar eventuell in Bedrängnis. Für den eingesparten Betrag können jedoch in Deutschland jetzt mehr Häuser und Straßen gebaut oder mehr andere Güter gekauft werden als sonst, während zugleich die Portugiesen mit den höheren Exporterlösen ein höheres Sozialprodukt erzielen und daraus mehr Importe, z. B. von deutschen Maschinen, bestreiten können, was wiederum im deutschen Maschinenbau Einkommen und Beschäftigung erhöht usw. Per Saldo dürften auch in Deutschland Produktion und Beschäftigung sowie der Lebensstandard gestiegen sein. Die deutsche Bauwirtschaft wird jedoch einen ähnlichen Anpassungsprozess vollziehen müssen wie z. B. die deutsche Textilindustrie. Eine Zuwanderung bedarf dagegen sicherlich einer steuernden und integrierenden Einwanderungspolitik, um insbesondere eine Überforderung der hiesigen Bevölkerung zu vermeiden. Die Sorge, Zuwanderer nähmen den Deutschen Arbeitsplätze weg, ist dagegen - zumindest im gesamtwirtschaftlichen Saldo und mittelfristig - unbegründet. Qualifizierte Zuwanderer sichern oder schaffen im Schnitt sogar mehrere zusätzliche Arbeitsplätze.

  4. UMTS = Universal Mobile Telecommunications System.

  5. Eine ausführliche Ursachenanalyse der deutschen Beschäftigungsmisere mit zahlreichen internationalen Vergleichen sowie einem daraus abgeleiteten Politikkonzept enthält: Wolfgang Klauder, Arbeit, Arbeit, Arbeit - Mit offensiven Strategien zu mehr Beschäftigung, Zürich - Osnabrück 1999.

Dr. sc. pol., geb. 1931; bis Ende 1996 Leitender Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg; freier Publizist.

Anschrift: Am Schlehbühl 230, 91349 Egloffstein.

Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Arbeitswelt der Zukunft, Strukturwandel, Technischer Fortschritt, Energiestruktur, Bevölkerung, Zuwanderung, Frauen- und Alterserwerbstätigkeit, Beschäftigungspolitik.