I. Das deutsche Dilemma
In London, Prag, Berlin und Atlanta sind die Hüte aus dem Straßenbild verschwunden, es leben immer weniger Personen in Familien, die Wahlbeteiligung ist gesunken, und man fährt lieber silberfarbene als rote Autos. Und überall machen sich viele Menschen Sorgen um Umweltverschmutzung und Migration. Demonstrationen gegen Atomkraftwerke sehen in England genauso aus wie in Japan oder Connecticut. Diese Ähnlichkeiten sind zudem keine Neuheit: Fotos und Filmaufnahmen der Studentenrevolte der sechziger und siebziger Jahre und die Proteste gegen den Vietnamkrieg in Berkeley, Paris oder Frankfurt am Main sind nur bei genauerer Betrachtung voneinander zu unterscheiden. Nicht nur Kleidung, Frisur und Durchschnittsalter der Beteiligten sind sehr ähnlich, auch die Inhalte und Ziele der politischen Aktivitäten sind fast identisch. Slogans auf Transparenten und Schildern bringen an verschiedenen Orten die gleichen Forderungen zum Ausdruck. Das gilt für die Hausbesetzer der siebziger Jahre genauso wie für derzeitige Parteitage der Christdemokraten in verschiedenen europäischen Ländern.
Wo mehr oder weniger ähnliche politische Themen in den Vordergrund treten - wie der Vietnamkrieg, die Umweltverschmutzung oder die Wohnungsnot -, sind ähnliche Aktionen und Reaktionen zwar nicht zwangsläufig, allerdings kaum überraschend. Das Gleiche trifft auch für die Konsequenzen von abstrakteren Phänomenen wie Regierungs- oder Legitimitätskrisen oder die Bedeutung von gesellschaftlichen Konfliktlinien zu. Ähnliche politische Problemlagen werden zunächst ähnliche Reaktionen auslösen. Anders sieht es jedoch aus, wenn sich die Reaktionen in Frankfurt am Main gegen eine Erweiterung des Flughafens, in Paris gegen Präsident de Gaulle und in Berkeley gegen die Wehrpflicht richten. Warum sollten diese Aktionen (und die Beteiligten) dann so viele Ähnlichkeiten aufweisen? Gibt es vielleicht doch ein latentes gemeinsames Thema wie z. B. die Bekämpfung des Spätkapitalismus oder die Dominanz der Vereinigten Staaten, das die augenscheinlich so unterschiedlichen Aktionen verbindet? Oder sind die Ähnlichkeiten eher zufällig, und es handelt sich hierbei eigentlich nur um den unbedeutenderen Ausdruck eines modischen Lebensstils neuerer Generationen?
Insbesondere in Deutschland stößt der Gedanke an allgemeine, d. h. nicht typisch deutsche Erklärungen für soziale und politische Entwicklungen immer wieder auf Ablehnung. Ein gutes Beispiel dieser Neigung bietet die Diskussion um Joschka Fischers revolutionäre Vergangenheit. Nachdem im Frühjahr 2001 bekannt wurde, dass sich der Außenminister vor 25 Jahren während Demonstrationen in Frankfurt am Main an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei beteiligt hatte, erschienen sofort Hinweise auf die "unverarbeitete deutsche Vergangenheit" als Erklärung für den Protest der sechziger und siebziger Jahre. Offenbar ist die Tatsache, dass zur gleichen Zeit ähnliche politische Aktionen in fast allen westlichen Ländern stattfanden, weniger relevant als die Frage, wie die Väter der deutschen Studenten ihre nationalsozialistische Vergangenheit zu diesem Zeitpunkt bewältigt hatten. Natürlich sind für spezifisch deutsche Phänomene wie die Rote Armee Fraktion (RAF) spezifisch deutsche Erklärungen erforderlich. Allerdings sind die Gemeinsamkeiten zwischen Amsterdam, Frankfurt am Main und Berkeley so evident, dass allgemeinere Erklärungen der Ereignisse mindestens so plausibel erscheinen wie Hinweise auf die späten Konsequenzen des deutschen Sonderwegs in den letzten hundert Jahren.
Die Wertewandelforschung ist somit in Deutschland mit einem eindeutigen Dilemma konfrontiert. Einerseits erheben die meisten Vertreter dieser Ansätze Anspruch auf universelle Gültigkeit ihrer individualisierungstheoretischen Erklärungen
In den letzten Jahrzehnten sind mehrere empirische Studien durchgeführt worden, welche einen Vergleich des Wertewandelprozesses in verschiedenen Ländern ermöglichen. Unterstützen diese Studien die Erwartung ähnlicher Entwicklungen unter unterschiedlichen Umständen? Ist Deutschland die Ausnahme, welche die universellen Ansprüche der individualisierungstheoretischen Wertewandelforscher widerlegt? Gibt es, mit anderen Worten, noch immer Hinweise auf einen deutschen Sonderweg?
II. Eine "Republik zweier Generationen"
Etwa in der Mitte seines umfangreichen Buches über die Geschichte Deutschlands von 1945 bis 1990 zieht Peter Graf Kielmansegg eine wichtige Schlussfolgerung für die siebziger und achtziger Jahre:
Mit seiner Theorie der "Stillen Revolution" hat der amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart die international vergleichende Wertewandelforschung seit Anfang der siebziger Jahre maßgeblich geprägt. Seine Theorie basiert auf einer Kombination der so genannten Mangelhypothese und der Sozialisationshypothese - die erste bringt zum Ausdruck, dass Menschen Dinge bevorzugen, welche nicht ausreichend vorhanden sind, und die zweite, dass im Jugendalter gebildete Orientierungen später schwierig zu ändern sind. Obwohl spezifische historische Umstände und Ereignisse natürlich eine Rolle spielen, ist eine allgemein gültige Prognose aus den kombinierten Hypothesen einfach abzuleiten: Mit der Zunahme sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit seit dem Zweiten Weltkrieg legen neue Generationen allmählich mehr Wert auf postmaterialistische Ziele wie Gleichberechtigung, Demokratisierung und Umweltschutz als auf materialistische Ziele wie Gewinn, wirtschaftliches Wachstum und Anerkennung von Autoritäten (Mangelhypothese). Der kontinuierliche Prozess der Generationsablösung resultiert in einem ebenso kontinuierlichen Anstieg der Postmaterialisten unter der Gesamtbevölkerung, wenn die alten, überwiegend materialistischen Generationen durch jüngere, eher postmaterialistische Generationen ersetzt werden (Sozialisationshypothese)
Die früheren Erwartungen bezüglich eines deutschen Sonderwegs sind von der empirischen Sozialforschung in den letzten Jahrzehnten nur teilweise bestätigt worden. Zunächst ist klar, dass in Deutschland Anfang der siebziger Jahre die jüngere Generation tatsächlich stark von postmaterialistischen Wertorientierungen geprägt ist
Die Entwicklung des Postmaterialismus in einigen europäischen Ländern während der letzten drei Jahrzehnte ist Abbildung 1 zu entnehmen
Damit die Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Entwicklung des Postmaterialismus in mehreren Ländern sichtbar werden, sind die empirischen Befunde in Abbildung 2 auf etwas andere Weise zusammengefasst. Aus dieser Darstellung geht hervor, dass die Trends über 25 Jahre fast identisch sind: In allen Ländern steigt der Anteil der Postmaterialisten in den Jahren 1973 bis 1990, und in allen Ländern geht dieser Anteil während der letzten zehn Jahre zurück. Nur in Frankreich ändert sich der Anteil der Postmaterialisten kaum. Unterschiede zeigen sich in den untersuchten Ländern fast ausschließlich bezüglich des Niveaus des Postmaterialismus. Auch in den neuen Bundesländern ist der Trend mit anderen Ländern vergleichbar
Die langen Zeitreihen, welche für die postmaterialistische Wertorientierung zur Verfügung stehen, zeigen, dass Deutschland keine Ausnahmeposition beanspruchen kann. Seit Anfang der siebziger Jahre unterscheiden sich weder das Niveau noch der Trend des Postmaterialismus von den Entwicklungen in anderen Ländern. Mit dem allmählichen Verschwinden der Generationen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist auch der relativ große Generationsunterschied in Deutschland zurückgegangen. Somit kann auch in diesem Sinne schon lange nicht mehr von einer "Republik zweier Generationen" die Rede sein.
III. Modernisierung und Postmodernisierung
Obwohl der Aufstieg des Postmaterialismus ohne Frage sehr bedeutsam, und die Nutzung der Indikatoren dieser Wertorientierung in der empirischen Sozialforschung seit Jahrzehnten weit verbreitet ist, umfassen die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse natürlich viel mehr Aspekte als eine Verschiebung des Niveaus des Materialismus und des Postmaterialismus unter der Bevölkerung. Umfangreiche international vergleichende Untersuchungen richten sich deswegen nicht nur auf den Postmaterialismus, sondern fügen beispielsweise auch Orientierungen wie "Links-Rechts-Materialismus" und "Säkular-Religiöse Orientierungen" hinzu
Zur Beantwortung dieser Frage hat sich in den letzten Jahrzehnten insbesondere die so genannte World Values Survey-Gruppe bemüht, bezüglich vieler Aspekte des Wertewandels empirische Daten zu erheben und zu analysieren
In Abbildung 3 sind die Positionen von 40 Gesellschaften für die Jahre 1981, 1990 und 1995 - 1997 dargestellt
Die Wertewandelprozesse in West- und Ostdeutschland in den letzten zwei Jahrzehnten entsprechen den Änderungsprozessen in vergleichbaren Ländern. Für Westdeutschland finden wir einen klaren Trend sowohl in Richtung Selbstentfaltung als auch Säkularisierung. Fast identische Entwicklungen zeichnen sich in der gleichen Periode in Schweden, Norwegen, Belgien, Japan und Australien ab. Dagegen weisen die Änderungen in Ostdeutschland auf eine Konsolidierung auf der Selbstentfaltungsdimension hin sowie auf eine weitergehende "Enttraditionalisierung" auf der Säkularisierungsdimension. Ähnliche Entwicklungen treffen wir nur in Polen an. Mit anderen Worten: Die gesellschaftlichen Änderungen in Ost- und Westdeutschland zeigen in Richtung weitergehende Säkularisierung deutlich ähnliche Entwicklungen wie in anderen Ländern; die Entwicklung in Richtung einer stärkeren Betonung der Selbstentfaltung ist in Deutschland jedoch auf den Westen beschränkt. Diese Trends haben dazu geführt, dass beide Landesteile mittlerweile zwar zu den säkularisiertesten Gesellschaften der Welt gehören (zusammen mit Japan und Schweden), aber deutlich unterschiedliche Positionen in Bezug auf die Selbstentfaltungsdimension einnehmen.
Auf dieser letzten Dimension befindet sich Westdeutschland 1995-1997 in einer Gruppe mit Norwegen, Schweden, der Schweiz und den Vereinigten Staaten, während Ostdeutschland zur gleichen Zeit auf dieser Dimension jenes Niveau erreicht, das Frankreich und Italien fast ein Jahrzehnt früher kennzeichnete. Inwieweit es sich hier um eine Art "Verzögerung" handelt, welche in den kommenden Jahren allmählich mit der weitergehenden sozioökonomischen Entwicklung der neuen Bundesländer verschwinden wird, ist heute schwer zu beurteilen. Die Ergebnisse entsprechen allerdings eindeutig den bereits auf der Basis des viel einfacher zu fassenden Trends des Postmaterialismus dargestellten Positionen und Entwicklungen der beiden Landesteile: Der Wertewandelprozess führte zu Unterschieden, welche insbesondere innerdeutsche Differenzen betreffen und viel weniger Konsequenzen für die Position Deutschlands im internationalen Vergleich haben
IV. Eine "Republik zweier Kulturen"
Zu den Ritualen der Kulturforschung gehören Hinweise auf einen deutschen "Sonderweg". Die deutsche Vergangenheit wirft ihre Schatten auf fast alle politischen und sozialen Debatten, und das Land beansprucht offensichtlich eine Ausnahmeposition in der international vergleichenden Forschung. Mehr als ein halbes Jahrhundert Erfahrung mit einem demokratischen Staat auf deutschem Boden haben nur wenig an dieser (Selbst-)Einstufung ändern können
Der Aufstieg des Postmaterialismus, die weitergehende Säkularisierung und die wachsende Bedeutung von Selbstentfaltungswerten fanden in Deutschland auf fast identische Weise statt wie in vielen anderen Ländern. Ist Deutschland deswegen jetzt endlich ein "normales" Land geworden? Diese Frage lenkt die Aufmerksamkeit in die falsche Richtung. Denn dadurch wird suggeriert, dass Deutschland, bedingt durch den Wertewandel, seine Ausnahmeposition allmählich verloren hätte. Tatsächlich konnte sich dieser Prozess in den letzten 25 Jahren durchsetzen, weil sich Deutschland spätestens seit den sechziger Jahren sowohl im politischen als auch im sozioökonomischen Sinne bereits zu einem "normalen" Land entwickelt hatte. Den Aufstieg des Postmaterialismus und die damit verbundene Welle politischer Proteste um 1970 finden wir in allen westlichen Ländern. Seitdem sind die Änderungsprozesse in Deutschland kaum von den Entwicklungen im Rest der Welt zu unterscheiden. Vielmehr hat das Verschwinden der älteren deutschen Generationen mit ihrer relativ starken Betonung materialistischer und traditioneller Wertorientierungen zu einer "Normalisierung" der deutschen Position geführt und nicht etwa ein außergewöhnlicher Erfolg neuer Wertorientierungen. Die Erblasten der deutschen Vergangenheit - insbesondere der immer wieder auftauchende "braune Schatten" - sind mit dem Verschwinden der "Alten" beseitigt. Nicht beseitigt sind jedoch die Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung. Auch mehr als ein Jahrzehnt nach der "Wende" sind die kulturellen Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern noch immer nachweisbar. Damit hat ein neuer deutscher "Sonderweg" begonnen, der die Probleme der "Republik zweier Generationen" durch die Probleme einer "Republik zweier Kulturen" ersetzt.
Internetverweise zum Thema:
http://Europa.eu.int/comm/dg10/epo/eb.html
http://www.isr.umich.edu