Einleitung
Eines der beeindruckendsten Erlebnisse, das ich im Umgang mit Räumen hatte, die der Politik dienen, war mein erster Besuch bei dem damaligen Minister für Wissenschaft und Forschung und Vizekanzler der Republik Österreich, Erhard Busek. Er hatte die Gäste in seine unweit der barocken Schlossanlage des Belvedere gelegene Wohnung geladen, die neben privaten offenbar auch offiziöse Funktionen zu erfüllen hatte. Entgegen meinen Erwartungen empfing uns der Minister persönlich an der Türe.
Ich beginne meine Überlegungen zu den neuen Regierungsgebäuden der Bundeshauptstadt Berlin - in deren Zentrum das neue Bundeskanzleramt von Axel Schultes und Charlotte Frank stehen wird - mit dieser kleinen Geschichte, weil sie eine Erfahrung mit den Räumen politischer Entscheidungsträger wiedergibt, die in Deutschland selten und, so vermute ich, derart heute unmöglich geworden ist. Was ich anspreche, zielt auf jene Vorstellung einer bürgerorientierten Demokratie, die darauf setzt, dass die Räume der politischen Macht zwar kontrolliert, aber doch weitgehend ohne Restriktionen den Bürgerinnen und Bürgern eines Staates zugänglich sind. Dass den Volksvertreterinnen und -vertretern, den politischen Funktionsträgern bis in die jeweiligen Ministerialbürokratien hinein heute kaum noch zwanglos begegnet werden kann, ohne mehrere Sperrzonen der Kontrolle räumlich durchqueren zu müssen, gehört nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, aber hier besonders, inzwischen zum "Normalverständnis" im Umgang mit Räumen und Gebäuden, die der Politik vorbehalten sind. Nicht zufällig werden wir Bundesbürger zurzeit mit jener Amerikanisierung der Innenpolitik vertraut gemacht, welche die Videoüberwachung öffentlicher Räume zum Bestand ihrer Staatsautorität erklärt und damit zum Funktionsprogramm einer neuen Urbanität macht.
Wie immer man diese Überwachungsmentalität und den Politikerschutz heute zu begründen versucht, ob darin die hysterische Atmosphäre der Bundesrepublik in den siebziger Jahren nachwirkt , als die Räume der Öffentlichkeit in der Tat durch Terroranschläge unsicher wurden, oder mit dem derzeit diskutierten Verständnis einer sicheren Demokratie, die das Recht habe, sich gegen Verbrechen aller Art zu schützen - allemal sind die Räume der politischen Repräsentation Bestandteile des politischen Selbstverständnisses einer Gesellschaft, die sich ihrerseits nicht nur in den architektonischen Codes ihrer Staatsbauten, sondern auch in den Regelungen über deren Verfügbarkeit im Kontext des städtischen Lebens wieder erkennen darf.
Die neuen Regierungsbauten Berlins werden also Gegenstand einer Betrachtung sein, die den Blick nicht nur auf die Oberfläche architektonischer Formationen richten will, also architekturhistorisch argumentiert; vielmehr soll die Aufmerksamkeit dem Kontext dieser Gebäude im weitesten Sinne gelten und deren politische Gebrauchsfähigkeit reflektieren.
I. "Demokratie als Bauherr"
So reichhaltig die Palette der neu- und umgebauten Bundestags-, Bundesratseinrichtungen und Bundesministerien im Laufe der vergangenen Jahre geworden ist, so mannigfaltig in ihren Urteilen zeigte sich auch die sie begleitende Publizistik. Dennoch haben die vergangenen Wochen deutlich werden lassen, dass es vor allem die Gebäude rund um den Reichstag sind, welche die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu binden vermochten. Erstaunlich ist dies nicht, denn an der Nahtstelle zwischen dem ehemaligen Ost- und Westberlin gelegen, im weiten Bereich der ehemaligen Mauer und der alten Grenzanlagen, ist der nach 1945 devastierte Boden, auf dem nun das neue Machtzentrum der Bundesrepublik Deutschland entsteht, geradezu überlagert vom historischen Gewicht der Jahre vor und nach der deutschen Teilung. Als sichtbarer Ort für die Überwindung der Ost-West-Dichotomie ist der Stadtraum zwischen dem "Platz der Republik" und dem "Spreebogen" vom Symbolwert der Wiedervereinigung durchtränkt und doch zugleich ein Ort, der unweigerlich mit den Germania-Planungen dieses Areals durch Albert Speer in den dreißiger Jahren (Nord-Süd-Achse) in Verbindung gebracht wird. Die Bilder jener megalomanischen Weltbeherrschungsarchitektur sind immer noch lebendig und konnten zu Recht in den Debatten über die Hauptstadtarchitektur der neuen Bundesrepublik nicht einfach übergangen werden.
Das heutige Sichtachsengefüge zwischen dem alten Reichstagsgebäude Paul Wallots sowie den Regierungs- und Bundestagsbüros, wie es auf der Grundlage der städtebaulichen Konzeption des Architektenbüros Axel Schultes für das so genannte "Band des Bundes" inzwischen entstanden ist, hat die Frage nach den Modalitäten der Repräsentation der Bundesrepublik Deutschland oder der so genannten Berliner Republik im 21. Jahrhundert virulent werden lassen. Mit dem inzwischen fertig gestellten Bundeskanzleramt (Entwurf Axel Schultes/Charlotte Frank) sowie dem Paul-Löbe-Haus und dem angeschlossenen Marie-Elisabeth-Lüders-Haus nach dem Entwurf des Münchener Architekten Stephan Braunfels ist ein Regierungskomplex entstanden, der in seiner Ost-West-gerichteten Ausdehnung, seinem Maßstab und der jeweiligen Architektursprache neben akklamierender Zustimmung auch harsche Kritik erfahren hat. Vor allem die Polarisierung zwischen dem tragischen Ort des deutschen Parlamentes, dem Reichstag, und dem Bundeskanzleramt mit dem aus den beiden langgestreckten Verwaltungsriegeln herausragenden Kubus des so genannten Leitungsgebäudes hat die Frage nach der politischen Bedeutung der jeweiligen Entscheidungsebenen innerhalb der bundesrepublikanischen Verfassungsstruktur aufkommen lassen. Parlament versus Kanzler? So jedenfalls haben Kritiker des realisierten Entwurfs von Axel Schultes und Charlotte Frank die unübersehbare stadträumliche und gestalterische Dominanz des Kanzleramtes interpretiert und damit auf einen realpolitischen Zusammenhang hingewiesen, der tatsächlich einen Umbau der politischen Macht und ihrer Repräsentation diagnostizierbar macht. Gunter Hofmann hat in der Wochenzeitung Die Zeit jene Bedingungen beschrieben, die unter dem Druck der Medienöffentlichkeit offenbar eine "schleichende Entparlamentarisierung" eingeleitet haben, um mit dem Hinweis auf den Abgeordneten Hermann Scheer festzustellen: "Der Rubikon sei überschritten, so Scheer, ,wenn die Normen der Demokratie aus dem Bewusstsein verschwinden'. Führungs- und Fraktionseffizienz, Fraktionszwang und das Corporate-Identity-Marketing von Parteien in der Mediengesellschaft bedrohten die Substanz des demokratischen Parlamentarismus."
Solche "Normen der Demokratie", von denen Hermann Scheer sprach, hat es auch in der Architektur gegeben. Sie sind vor allem mit einem Namen verbunden, der im Zusammenhang mit der politischen Baukultur der Bundesrepublik Deutschland niemals unerwähnt bleibt. Die Rede ist von Adolf Arndt, dem Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion zwischen 1949 und 1963, der danach als Senator für Wissenschaft und Kunst in Westberlin tätig war. In seiner berühmt gewordenen Rede zur Eröffnung der Berliner Bauwochen 1960, die unter dem Titel "Demokratie als Bauherr" mehrfach publiziert worden ist, hat Arndt einige Prinzipien herausgearbeitet, unter denen das Bauen für die Demokratie zu stehen habe. Noch unter dem Eindruck der totalitären Staatsarchitektur des NS-Regimes stehend, benannte Arndt die Bezugsgrößen für eine demokratische Baukultur, die vor allem im Bereich der öffentlichen Staatsrepräsentation künftig greifen sollten. Denn einer "Unfruchtbarkeit im Bauen", die er in den Gebäuden der "öffentlichen Hand" seiner Zeit gewahrte, deren "Verwaltungsbauten . . . nach außen hin eine ermüdende Fensterwand hochmütig abweisender Gleichgültigkeit zur Schau tragen" , wie er schrieb, stellte er die Notwendigkeit einer selbstbewussten, wenngleich "Mitmenschlichkeit" vermittelnden Architektur gegenüber. "Es hat sich geradezu das Vorurteil festgefressen, daß Demokratie etwas Anonymes, ja geradezu etwas Amusisches sei, unfähig, sich im öffentlichen Bauen darzustellen und im Bauen ihr Ethos sichtbar zu machen." Bestandteil eines solchen demokratischen, "musischen" Ethos war vor allem die Angemessenheit eines architektonischen Formenrepertoires, das im Maßstab sich am Menschen zu orientieren und in der Raumbewältigung die Raumzugänglichkeit "des souveränen Volkes", des wahren Bauherrn der Demokratie, zu gewährleisten hatte. Das richtete sich gegen die "Riesigkeit eines Bauwerkes" ebenso wie gegen das Phänomen der undurchlässigen Bürokratien, deren individualitätszerstörende Machtmechanik Franz Kafka in seinen Romanen und Erzählungen ebenso unnachahmlich wie bedrückend beschrieben hat. Die Folgerung, die Arndt aus diesen Maximen zog, fasste er in einer Frage zusammen: "Sollte es nicht einen Zusammenhang geben zwischen dem Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie und einer äußeren wie inneren Durchsichtigkeit und Zugänglichkeit ihrer öffentlichen Bauwerke?"
Mit der Auffassung, dass "die Form (das) Vehikel des Inhalts" sei, so der Kunsthistoriker Günter Bandmann 1951, hat Adolf Arndt einer Idee zum Durchbruch verholfen, die in der Architektur der Nachkriegszeit eine dominante Rolle spielen sollte. Es war der Gedanke, dass der gebaute, transparente Raum - gemeint sind Gebäude mit weitflächigen, durchsichtigen Glasfassaden in eleganten Stahlstützenkonstruktionen, wie sie beispielsweise Ludwig Mies van der Rohe bereits zu Beginn der zwanziger Jahre für Bürohochhäuser in Berlin projektiert hatte - als Bedeutungsträger demokratischer Werte aufgefasst werden könnten. In der Auseinandersetzung mit den (natur)steinernen Formationen der NS-Bauten und in der versuchten Anknüpfung an die nur kurze Tradition der Architektur der klassischen Moderne in Deutschland, die inzwischen unter dem Schlagwort "Internationaler Stil" gehandelt wurde, erlangte diese Vorstellung vor allem bei jüngeren Architekten der Bundesrepublik einen ästhetischen Wert, der zu Recht mit ethischem und politischem Kalkül in die Debatte um eine zeitgemäße, westorientierte Architektur eingebracht wurde. Nicht zuletzt gewann man in dieser weltanschaulichen Besetzung von Formen und Materialien nach 1945 gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik jenes Abgrenzungspotenzial, das die neugewonnene staatliche Legitimität der Bundesrepublik optisch zu transportieren vermochte. Denn gegenüber der durch Stalins Vorstellungen einer sozialistischen Baukultur geprägten Losung der frühen DDR, "National in der Form, demokratisch im Inhalt", musste der Rückgriff auf ästhetische Leitlinien des "Internationalen Stils", also auf die Architektur der Glas- und Stahlgehäuse von Walter Gropius oder Mies van der Rohe, das andere Verständnis der parlamentarischen Demokratien der westlichen Welt repräsentieren - als ambitioniertes Bekenntnis gegen nationalistisch aufwertbare Gestaltungskonzepte hüben wie drüben.
Arndts Projekt der "Demokratie als Bauherr" bezog die Emphase aus der tief empfundenen Schuld gegenüber der entindividualisierenden, verordneten Reih-und-Glied-Struktur der "großen, männlichen Form", wie sie als Disziplinar- und Entmündigungsformationen in den Bauten Speers, Gieslers und der anderen Geschmacksverwerter Adolf Hitlers zur ruinierten Hinterlassenschaft der deutschen Städte gehörte. War daher Zurückhaltung in der Repräsentation der jungen Republik vonnöten, so bedeutete dies doch keineswegs, dass sie sich gleichsam zu verstecken hatte. Vielmehr forderte Arndt damals ein Bekenntnis zu einer "Baukunst", in der sich die junge Demokratie erkennen sollte, ja musste, denn hinter den Ausführungen des Politikers wurde auch der Sachverhalt spürbar, dass die bundesrepublikanische Gesellschaft das von den Alliierten verordnete parlamentarische, auf Überzeugungsarbeit basierende Spiel der politischen Kräfte erst noch zu erlernen hatte und der Architektur mithin die Aufgabe zukam, das neue politische System in seiner Attraktivität darzustellen. "Das Ideal, das souveräne Volk als Bauherrn seiner öffentlichen Bauten zu sehen, lässt sich mit keiner Mechanik messen, noch durch das Dekret irgendeiner Organisation erzwingen. Auf dem unendlichen Wege zur Annäherung an dieses Ideal lässt sich nur in der freiheitlichen Weise fortschreiten, dass Bauten zur Diskussion gestellt werden, ob sie mit dazu dienlich sind, den Menschen dazu zu verhelfen, sich ihrer mündigen Mitmenschlichkeit, ihrer Gemeinschaft, der von ihnen zu formulierenden sozialen Aufgabe bewusst zu werden." Diese Trinität des in Freiheit geführten, öffentlichen Disputs, der an Kant gemahnenden individuellen Mündigkeit des Bürgers und des Programms der Gemeinschaft bildete die "Normen der Demokratie" in der Baukunst. Sie umfassten das Gebot, eine neue repräsentative Architektursprache zu entwickeln. Diese durfte prächtig sein, wenn auch nicht opulent, sie hatte künstlerisch qualitätvoll zu erscheinen, aber doch nicht anmaßend, sie musste die Organisationsstruktur der parlamentarischen Demokratie symbolisieren, um die Identifikation mit den republikanischen Werten des neuen (Teil-)Staates Bundesrepublik Deutschland bei seinen Bürgerinnen und Bürgern zu aktivieren. Wie unwirksam Arndts Rede letztlich blieb, ist der Tatsache zu entnehmen, dass noch in den siebziger Jahren die staatsrepräsentative Unanschaulichkeit und mangelnde formalästhetische Kraft Gegenstand kritischer Betrachtungen war. Ganz im Sinne Adolf Arndts rügte der künftige Leiter des Deutschen Architektur Museums in Frankfurt a.M., Heinrich Klotz, die Bonner " ,Rechnungshof-Architektur', in der die Institutionen der Republik zwar Unterkunft, doch kein Image" gefunden hätten, und nannte als deren abschreckende Beispiele das Bundeskanzleramt der Planungsgruppe Stieldorf von 1976 ("ein schwarzer Trippelkatafalk"), die Parteizentrale der Bonner SPD (1976) und die der CDU (1965). Doch am fahlen Horizont zeigte sich bereits ein strahlendes Gestirn, denn mit der im Büro von Günther Behnisch seit 1973 entwickelten Architektur für den Bund war tatsächlich jene differenzierte baukünstlerische Symbolik der Zugänglichkeit und Transparenz entwickelt worden, die Arndt angedeutet hatte und Klotz versöhnlich stimmte. So hatte Behnischs Entwurf für die neuen Gebäude des Bundestages und des Bundesrates einen gegliederten Gebäudekomplex vorgeschlagen, in dem die Verkehrswege im Inneren eine Weiträumigkeit aufwiesen, die wie eine gestaltete Landschaft wirkte und deren Atmosphäre Heinrich Klotz als Ausweg aus der Repräsentationsmisere der Bonner Regierungsbauten beschrieb: "Politik ist eine Sache des Disputs, des Austauschs, der Meinungsbildung. In Behnischs Abgeordnetenhäusern werden die Flure zu Hallen, die sich um Lichtkuppeln zentrieren; sie werden in Ergänzung zum einzelnen Büro zu Aufenthaltsräumen, die der üblichen silohaften Raumordnung von Bürohäusern entgegenwirken."
Mit dem Neubau des Plenarsaales des Deutschen Bundestages in Bonn (1982 bis 1992) sollte Behnisch später das Bravourstück in Hinblick auf das Prinzip "Demokratie als Bauherr" gelingen, wie es im Selbstverständnis der alten Bundesrepublik interpretiert wurde.
Vor allem der kreisrunde Plenarsaal, "wo die Parlamentarier im Kreis gesetzt sind, um ihren gleichberechtigten Status in der Demokratie auszudrücken, . . ." ist zu dessen Sinnbild geworden. Behnischs Plenarsaal, der in einen gläsernen Kubus eingeschlossen über eine großzügige Eingangshalle mit einer imposanten Treppenführung zu erreichen ist, bildete das Aktionszentrum eines Gebäudes, das in seiner Durchsichtigkeit sowie den Sichtachsen zum umgebenden Grün und zum Rheinufer nochmals die Emphase der Offenheit ins Bewusstsein zu rufen verstand, die mit Arndts These verbunden war. Die Architektur des Behnisch-Büros hat in der Tat zum ersten Mal die repräsentative Demokratie Bonner Provenienz im Haus der Volksvertreter gefeiert. Aber dieses zu einem Zeitpunkt, als der Startschuss für eine veränderte Weltordnung schon längst, wenn auch von vielen überhört, gefallen war.
II. Europa als Bauherr?
Dass die von Adolf Arndt benannten Werte in der Debatte über die neuen Bundesbauten allerdings nach wie vor als Richtschnur gelten, dokumentiert nicht zuletzt die ehemalige und jetzige Regierung selbst. Immerhin hat sich das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen mit dem Titel des Prachtbandes über die "Bauten des Bundes in Berlin 1991 bis 2000" des Titels der legendären Rede des ehemaligen Berliner Kultursenators bedient. Deshalb erscheint auch die Frage, ob das neue Bundeskanzleramt überhaupt in die Konkurrenz der Monumente eintreten, ob also der Reichstag als Ort der Volksvertretung vom Leitungsbau des Bundeskanzleramtes optisch relativiert werden darf, vor diesem Hintergrund gleichfalls als eine Frage danach, ob damit der Rubikon in Sachen "Demokratie als Bauherr" überschritten wurde. So sollte in der Tat geprüft werden, ob wir in der Architektur des Kanzleramtes nicht jenes Phänomen repräsentiert finden, das derzeit als "Kanzlerdemokratie" beschrieben wird, jenes "halbautoritäre Konstrukt" , das als eine Antwort auf die Krise der politischen Öffentlichkeit in Zeiten der Internet-Gesellschaft und dessen, was Mediendemokratie genannt wird, zu werten wäre. In einem Interview mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, das die Zeitschrift Baumeister im Juniheft 2001 abgedruckt hat, finden sich einige Hinweise auf mögliche Antworten. Kohl berichtet darin von einem Gespräch mit François Mitterand, in dem dieser äußerte: " ,Wir brauchen in Europa eine große Hauptstadt in einem großen Land weit ostwärts des Rheins. Denn wenn die Erweiterung kommt, erhält Berlin eine ganz wichtige Funktion'", und er fährt fort: "Von diesem Gedanken bin ich bei allen Baumaßnahmen ausgegangen. Berlin ist die Kapitale des größten europäischen Landes mit 80 Millionen Einwohnern. Es wird auf lange Sicht das politische Klima in Europa bestimmen. Deshalb muss es eine kulturelle Hochburg sein mit einem freundlichen, lebensfrohen Ambiente. Licht, Transparenz, Of-fenheit drückt sich sinnbildlich in der modernen Architektur des Kanzleramtes aus." Eine Analyse des geopolitischen Kontextes dieser Aussage vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Geschichte muss an dieser Stelle unterbleiben; aufzugreifen aber ist die Tatsache, dass auch durch Helmut Kohl die Signaturen der "Demokratie als Bauherr" bemüht werden, nun allerdings, um die Begründung der neuen Repräsentationsgestik des Berliner Bundeskanzleramtes in einem zukünftigen osterweiterten, vereinten Europa zu liefern. Noch deutlicher wird dieser Sachverhalt in der kleinen Anekdote, die Helmut Kohl, nicht ohne die ihm eigene Selbsteinschätzung mitzuliefern, in Bezug auf die Beauftragung Ieoh Ming Peis mit dem Erweiterungsbau zum Deutschen Historischen Museum neben dem Zeughaus von Andreas Schlüter erzählt hat. Auf die Frage, warum er ohne Wettbewerbsausschreibung das neue Gebäude in Auftrag gegeben habe, antwortete Kohl mit dem Hinweis darauf, dass Pei diesem Anliegen aufgrund seines fortgeschrittenen Alters zuerst nicht habe nachkommen wollen, dann aber doch zu einem Kanzlerbesuch in Bonn erschienen sei. "Da machte er mir ein hinreißendes Kompliment. Er meinte, dass er den Auftrag eigentlich nicht mehr annehmen könne; aber dem wichtigsten Baumeister Europas dürfe er nichts abschlagen."
Vor dem Hintergrund dieser Aussagen des ehemaligen Bundeskanzlers, dem die Charakterisierung als politischer Baumeister - eine gerade in Deutschland nicht unproblematische Denkfigur - deutlich behagt, wird klar, warum der Bauherr dem Bundeskanzleramt im Orchester der Berliner Bundesbauten sowohl stadträumlich als auch architektonisch eine herausragende Rolle zugemessen hat. Nicht nur, dass dieser Bau, wie Kohl äußerte, als die "Visitenkarte der Republik" anzusehen sei, der Entwurf von Schultes und Frank hatte darüber hinaus das ideelle Fundament einer Lesart des vereinten Europas zu symbolisieren, die auf der Grundlage der in Männerfreundschaft abgesicherten Achse Paris-Berlin gewachsen erscheint. Und das, so werden wir sehen, haben die Architekten in dem mehrfach überarbeiteten Entwurf auf eine durchaus eigenwillige Art umgesetzt.
Um der durch den ehemaligen Bundeskanzler geforderten Symbolik gerecht zu werden, mussten sowohl städtebauliche als auch architektonische Raumformationen geschaffen werden, die als unverwechselbare, prägnante Zeichen des vereinten Deutschland in der Mitte Europas lesbar sein konnten. In der Konzeption des "Bandes des Bundes" ist dieser Forderung auf eine außerordentlich intelligente Weise nachgekommen worden. Nicht nur, dass mit dieser stadträumlichen Figur die gewünschte Ost-West-Erschließung als Anbindung von Ost- und Westberlin gelungen ist, vielmehr durchkreuzt dieses Bebauungsband mit dem Kanzleramt, der Schweizer Botschaft, dem geplanten Bürgerforum und den Gebäudekomplexen der Abgeordnetenbüros die auf den Spreebogen ausgerichtete ehemalige Speer-Planung und konstituiert sich selbst als Achse, parallel zur Magistrale des 17. Juni, die in ihrer Dimensionierung ihr Pariser Pendent in den Champs Elysées hat. Das "Band des Bundes" nimmt die monumentale Stadtfigur des seit dem Wettbewerb für Großberlin gedachten Ost-West-Boulevards (1910) sehr wohl auf, paraphrasiert diesen gleichsam in achsialer Andeutung und rückt zugleich von diesem Raumgedanken ab, indem das neue Bebauungsband in den Spreebogen zurückgenommen ist, unterbrochen vom Flusslauf der Spree. Hier wird eine elementare Figur des metropolitanen Städtebaus genutzt, welche die Physiognomie der Hauptstädte Europas bis heute prägt und die in der "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" (Walter Benjamin), in Paris, ihre prächtigsten Varianten hat. Dass wir es im Konzept des Bundesbandes mit der Spielart einer Repräsentationsachse zu tun haben, die mit monumentalen Gebäuden urbane Merkpunkte setzt, ist bereits in den Vergleichen mit den in den vergangenen Jahren unter François Mitterrand in Paris realisierten Grands projets deutlich geworden. Dass es sich dabei allerdings um Anspielungen handelt, die einen Vergleich dieser Art im Sinne einer kulturellen Achse Paris-Berlin nahe legen, ist vor allem im gebauten Bestand des Bundeskanzleramtes und hier, wie berichtet wird, in der auf Wunsch Helmut Kohls zustande gekommenen Heraushebung des Leitungsgebäudes (Höhe 36 m) zu entdecken. Vom Westen wie vom langegestreckten Paul-Löbe-Haus aus gesehen markiert das Leitungsgebäude des Bundeskanzleramtes einen Ort, der mit dem Cour d'honneur wie der Point de vue einer barocken Achse erscheint. "Das Bundeskanzleramt erhebt sich mit Bogenfenster, Flügeldach und Sky-Lobby weithin sichtbar über den Tiergarten und die Spree" , es verfügt über eine prächtige Schauseite, die achsialsymmetrisch gegliedert ist und in der Durchbrechung mit Fensterbändern wie aus einem Kubus herausgeschnitten, elementarisiert ist. Die seitlichen Begrenzungswände bilden mit dem ausladenden, durchbrochenen Dach eine Großform, die wie ein mächtiges Stadttor erscheint. Wer sich bei diesem Anblick nicht an den Umriss des Grande Arche als zentraler Blickpunkt von La Défense und westlicher Abschluss der Achse, die im Osten mit dem Louvre beginnt, erinnert fühlt, den mag das abgespannte Zeltdach in der unteren Rahmung zum Vergleich mit der ab 1983 entstandenen Großkonstruktion eines Triumphtores ("Arc de triomphe de l'homme") durch Otto von Spreckelsen in Paris animieren. Ein Blick auf den jeweiligen Grundriss verdeutlicht abermals die Vergleichbarkeit der Projekte: ein Quadrat, das eine Kreisfigur umschließt.
Diese Geometrie ist zuletzt von Martina Düttmann mit dem Formenrepertoire des amerikanischen Architekten Louis Kahn in Verbindung gebracht worden, der zu Beginn der sechziger Jahre ein Regierungsviertel plante. Auch die Verwendung des römischen Thermenfenstermotivs in den Nord- und Südfassaden des Kubus ist unzweifelhaft ein bevorzugtes Motiv Louis Kahns gewesen. Schultes, der sich gerne auf die Architekturkonzeption Kahns beruft, müsste allerdings die Reihe der Stammväter wenigstens um einige der Berliner Heroen erweitern, um Friedrich Gilly etwa, der im Entwurf für ein Nationaltheater um 1798 das Thermenfenster verwandte, oder auch Karl Friedrich Schinkel, der seine Nikolaikirche in Potsdam (Grundsteinlegung 1830) auf die gleiche Weise wie Schultes, nämlich durch in den Kubus eingeschnittene Thermenfenster, belichtete - die Reihe ließe sich mühelos fortsetzen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Rezeption dieses Fenstermotivs über die französische Revolutionsarchitektur vor 1800 auf die preußischen Zeichentische gelangt war, ein Hinweis, der dem Ausspruch von Schultes, diese Fenster seien "Sternentore der politischen Einbildungskraft" eine deutsch-französische Note verleiht.
Schultes hat also ein gleichsam archetypisches Architekturvokabular des europäischen Bauens aufgegriffen, das im Leitungsgebäude des Bundeskanzleramtes auch als Nachhall auf den romantischen Klassizisten Schinkel, auf die Berliner Bautradition schlechthin, zu vernehmen ist. Diese Ikonologie durchbricht er allerdings in der Fassadenfront zum öffentlichen Raum, denn hier beginnt ein Spiel aus bewegten, plastischen Elementen, die dieser Schauseite eine geradezu barocke Dynamik verleihen. Was Schultes "seine dicken Kinder" zu nennen pflegt, "sind oben abgeschnittene. . .weich geformte Stelen, die vom Hof ins Haus und vom Haus in den Garten wandern" , schreibt Martina Düttmann. Und Schultes ergänzt: "Sie steifen aus und verschatten die großen Glaswände,. . .sie regulieren, dosieren die Chancen auf Einblick, lenken die Ausblicke, vermitteln das Innen und Außen. Kaum entworfen, eher gefunden, verräumlichen sie die sonst unvermeidlich platte Glashaut der Fassaden, versuchen ein Signal der Offenheit, des Kontrastes und der Bewegung innerhalb der starren Hülle der Bürowände." Deutlicher könnte die Abkehr von der durch Behnisch in Bonn entwickelten Baukörperlösung und Fassadenabwicklung nicht formuliert werden. Wo Behnisch die Planimetrie der transparenten Hülle inszenierte, lässt Schultes die Elemente tanzen: Dächer fliegen, Stein- und Betonwände werden zerschnitten und tauchen als freigestellte Elemente wieder auf, ein fliegender Wechsel konkaver und konvexer Strukturen, welche die betrachtenden Augen in eine Bewegung aus Licht- und Schattenzonen verwickeln, die man vorzugsweise aus dem römischen Barock gewohnt ist. Natur wird, wie in Daniel Libeskinds Stelengarten des Berliner Jüdischen Museums, den hoch aufragenden, modellierten Betonelementen einfach aufgepflanzt und jedwede Strenge der symmetrischen Fassadenordnung wird von einem Bild kompensiert, das doch von der Symmetrieachse gehalten wird. Die Lust an barocker Fülle findet sich auch im Inneren des Gebäudes, wo ein Arrangement aus Treppen, Plateaus und platzartigen Halteplätzen die Stockwerke untereinander verbindet.
Wohltuend hebt sich dieser Überfluss an "überflüssigem" Raum von der Konzeption der beiden Bürotrakte (Höhe 18 m) ab, die durch eine Art Kammsystem mit geschlossenen Innenhöfen erschlossen werden, das derzeit im Verwaltungsbau dominiert und das auch im Paul-Löbe-Haus von Stephan Braunfels zu finden ist. Als Ahnherr dieses Gebäudetypus ist sicherlich Hans Poelzig zu nennen, der die langgezogenen Seitenflügel des Verwaltungsgebäudes für die IG Farben in Frankfurt a.M. (1928/30) auf diese Weise strukturierte und damit jene "Epoche" in seinem Schaffen einläutete, die sein Biograph Marco Birarghi als "leichenstarren Monumentalismus" charakterisiert hat. Ein wenig davon ist in den Bürotrakten des Bundeskanzleramtes spürbar, die in ihrer Reihung eine Gerichtetheit der hier arbeitenden Beamten voraussetzen, die mit dem Prinzip "Demokratie als Bauherr" nur noch schwer zu vereinbaren ist. "Jedes der 370 Büros öffnet sich mit Schaufenster-Blick in einen der Gärten. Für manche Beamte ist das ein Kontrollblick. Sie fühlen sich zu sehr beobachtet." Wer dächte bei dieser Aussage nicht an Michel Foucaults Untersuchung über die modernen Räume der Überwachung?
III. Nachtrag
Die Schauseite des Kanzleramtes blickt nach Osten, sie spiegelt sich in der Front des Paul-Löbe-Hauses und nimmt in der Höhenentwicklung Bezug auf den Reichstag mit der spriralförmig erschlossenen Wandel-Kuppelhalle von Norman Foster. Helmut Kohl hat nach eigener Aussage an dem Gebäude des Bundeskanzleramtes "maßgeblich mitgearbeitet", und dies "soweit es mir die vielen Verpflichtungen erlaubten" . Wenn er heute betont, dass er trotz dieses Engagements nicht die Verherrlichung seiner Person als Vereinigungskanzler vor Augen hatte, so darf man dieser Aussage wohl trauen. Denn symbolträchtig ist die Architektur des Leitungsgebäudes in Hinsicht auf seinen "höheren" politischen Gedanken, der sich mit der Wiedervereinigung schon auf die Integration Osteuropas richtete, wie ihn der "wichtigste Baumeister Europas" mit seinem französischen Amtskollegen diskutiert hatte. Die imperialen Notationen - wenn auch mit musischem Gespür vorgetragen -, die dem "typologischen Eklektizismus" (Mathias Sauerbruch) von Axel Schultes eingeprägt sind, beziehen sich auf diesen Kontext. So repräsentiert dieses Kanzleramt nicht das "Demokratie als Bauherr"-Prinzip der ehemaligen Bundesrepublik und schon gar nicht die Volkshausidee, die den Palast der Republik der ehemaligen DDR auszeichnete. Dieses Bundeskanzleramt erweist sich in seiner Gesamtheit als eine komplexe Regierungsmaschine, die hinter gläsernen Fassaden und neuartigen unvisible fences verschwindet wie die abhörsicheren Räume des Krisenstabes im von Lamellen verdeckten Zwischengeschoss der Leitungsbaufassade. Ob mit oder ohne vorgelagertes "Forum des Volkes", ob nunmehr "dosierte Chancen auf Einblicke" oder "Signale der Offenheit", wie Axel Schultes feinsinnig bemerkt hat - das Verhältnis von architektonischem Darstellungsraum und überwachtem Aktionsraum, wie es im Komplex des Bundeskanzleramtes erfahrbar ist, birgt einen beunruhigenden Hinweis auf den Zustand unserer Gesellschaft und das Prinzip der "Demokratie als Bauherr".
In der Empfangshalle des Bundeskanzleramtes steht an zentraler Stelle eine Skulptur von Markus Lüpertz, "Die Philosophin" genannt. Ich wünsche mir, dass sie die an ihr Vorübergehenden stets an Hannah Arendt erinnern möge, die ihre Lebensarbeit der Untersuchung fehlgeleiteter Herrschaft gewidmet hat.