I. Vorbemerkungen
In den Medien und in öffentlichen Aufrufen wird Zivilcourage häufig als Tugend genannt, um Gewalt abzuwenden und potenzielle Opfer zu schützen. In den Kommentaren, Berichten und Leitartikeln wird couragiertes soziales Verhalten eingefordert. Es bleibt jedoch vielfach bei einem moralischen Appell, ohne konkrete Handlungsanleitung. Damit wird nur eine Seite von Zivilcourage benannt und nicht aufgezeigt, dass es heißt, den Mut zu haben, sich nicht wie die anderen zu verhalten und alleine gegen den Strom zu schwimmen. Es wird in den Medien kaum deutlich, welchen Einsatz Zivilcourage fordert und dass damit auch Nachteile und Risiken verbunden sein können.
Zivilcourage steht als demokratische Tugend im Widerstreit zu anderen Werten. Eigensinn und das individuelle Streben nach Glück zum Beispiel können eine demokratische Tugend, die am Gemeinwohl orientiert ist, vergessen lassen. Aus der Schwierigkeit, sich anders zu verhalten als gewohnt, sich dem Gemeinwohl zu verpflichten statt dem Eigennutz, ergibt sich ein Dilemma. Das Bedürfnis, die eigene Haut zu retten, also besser nicht einzugreifen, sich einem Streit nicht zu stellen, nicht hinzusehen und sich keine Zeit zu nehmen, lässt die egoistischen Ziele obsiegen - in einer Welt, die stark auf individuelles Glück ausgerichtet ist. Ergebnis des - ellenbogenbewehrten - egoistischen Verhaltens sind Verliererinnen und Verlierer sowie zunehmende Gewalt. Der Blick für kooperative Lösungen geht verloren. Ohnmacht und die Unfähigkeit, Handlungsprozesse selbst zu gestalten, können die Folge sein.
Dieses Dilemma auszuhalten, zwei Seiten einer Medaille zu sehen, gemeinsame Ziele auszuhandeln, aufeinander abzustimmen und in Handlungsschritte umzusetzen bedarf der Ausbildung verschiedener Kompetenzen. Notwendig sind
- ein hohes Maß an Phantasie und Kreativität, die befähigen, sich in andere hineinzuversetzen;
- der Mut zum Widerspruch - auch gegen herrschende Tendenzen - um der Menschlichkeit willen;
- die Fähigkeit zur aktiven, gleichberechtigten Beziehung zu anderen Menschen;
- die Bereitschaft zur Kooperation;
- die Fähigkeit, Außenseiterpositionen einzunehmen, um zu einer anderen Sichtweise und damit zu einer besseren und ausgeprägten Urteilsfähigkeit zu gelangen;
- die Fähigkeit, eine Sache auf den Punkt zu bringen und ungewohnte Sichtweisen anzusprechen;
- die Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen;
- die Fähigkeit, Vertrauen in die Leistungen der anderen zu entwickeln;
- die Fähigkeit, Fehler als Chance für Verbesserung und Lernen zu begreifen, statt diese wertend einer Person anzulasten und
- die Fähigkeit zur Kommunikation.
Diese Kompetenzen bilden einen Rahmen, um Konflikte anders auszutragen, statt sie zu vermeiden oder zu unterdrücken. Damit besteht die Möglichkeit, dass die Beteiligten ihren Streit in die Hand nehmen, statt aus Angst Eskalationen zu begünstigen.
II. Konfliktverständnis
Im Alltagsverständnis ist die Wahrnehmung von Konflikten jedoch nicht so offen. Konflikte sind - wie die häufig synonyme Verwendung des Begriffes "Aggression" zeigt - eher negativ besetzt. Die begriffliche Unterscheidung zwischen Aggression und Konflikt ist jedoch wesentlich für ein konstruktives Verständnis von Konflikten. Denn Konflikte können in ihrer Beschaffenheit als konstruktiv oder destruktiv wahrgenommen und dementsprechend ausgetragen werden. Aggression hingegen beinhaltet nur einen destruktiven Prozessverlauf. Nach der Definition von Susan K. Boardman und Sandra V. Horowitz ist ein Konflikt die Unvereinbarkeit von Verhaltensweisen, Erkenntnissen und/oder Gefühlen, die in einer aggressiven Form ausgedrückt werden kann
Morten Deutsch
Konflikte können zwischen einzelnen Personen, zwischen gesellschaftlichen Gruppen und zwischen Nationen ausgetragen werden. Die Grundlage für den Konflikt können dabei viele verschiedene Faktoren bilden; sie können z. B. ökonomischer, gesellschaftlicher oder kultureller Art sein. Diese Faktoren sind nicht immer offensichtlich und manchmal müssen sie über Umwege ergründet werden. Daher ist es besonders wichtig, in der Bearbeitung von Konflikten eine offene Haltung einzunehmen, d. h., einen weiten Blickwinkel zu haben, der alle möglichen Faktoren, die eine Person beeinflussen können, erfassen kann.
Besonders in einem kulturellen Kontext oder in nationalen und ethnischen Zusammenhängen ist diese offene Haltung von großer Bedeutung. Gerade bei Konflikten zwischen Parteien unterschiedlicher nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit wird die Konfliktursache schnell an den jeweiligen kulturellen Unterschieden festgemacht, ohne zu beachten, dass auch andere Faktoren eine Rolle spielen können. In einem multikulturellen Kontext steht daher die individuelle Definition von Kultur im Vordergrund. Sie kann auch Variablen wie z. B. Alter, Geschlecht, individuelle Interessen u. Ä. enthalten, in denen die Konfliktursachen angesiedelt sein können. Aus dieser Perspektive wird "das Kulturelle verstanden als Bestandteil jeder Lebenspraxis, als der Versuch, dem eigenem Leben einen Sinn zu geben"
Die Handlungsweisen, die eine Person in einer Konfliktsituation zeigt, dürfen nicht nur aufgrund ihrer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit erklärt werden, sondern sie sind auch ein fundamentaler Teil ihrer Sozialisation und müssen für einen konstruktiven Umgang mit Konflikten in der Interaktion bewusst wahrgenommen werden.
III. Bedingungen im Umgang mit Konflikten
Konflikte können als sehr viel schwieriger wahrgenommen werden, als sie tatsächlich sind. Nicht selten kommt es vor, dass sich Konflikte verselbständigen oder die betroffenen Parteien sich so "in einem Konflikt verwickeln", dass sie nicht mehr das Gefühl haben, eigenständig handeln zu können. In Konfliktsituationen laufen verschiedene psychologische Prozesse gleichzeitig ab. In der Wechselwirkung miteinander führen sie zur "zunehmenden Verzerrung der Perzeption, zur Fixierung der negativen und feindseligen Einstellungen und zu destruktivem Verhalten der Konfliktparteien"
Im Folgenden werden das dual-concern-Modell (vgl. Abbildung) und das Modell der motivationalen Orientierung von Morton Deutsch
Die Faktoren "Interesse am eigenen Wohlergehen" und "Interesse am Wohlergehen der anderen Partei" werden als zwei voneinander unabhängige Faktoren betrachtet. Die Ausprägung beider Faktoren reicht auf einer Skala von niedrig bis hoch.
Es gibt vier mögliche Strategien, die wahlweise in einem Konfliktfall eingesetzt werden können
Nach Morton Deutsch
Welche Strategie in einem Konflikt gewählt wird und welchen Verlauf ein Konflikt nimmt, ist durch viele verschiedene Faktoren bestimmt. Einige der Faktoren werden im Folgenden beschrieben
1. Individuelle Eigenschaften der Konfliktparteien
Individuelle Fähigkeiten und Qualitäten, die von beiden Parteien in eine Konfliktsituation eingebracht werden, müssen von beiden gleichermaßen betrachtet werden
2. Die Beziehung zwischen den Konfliktparteien
Die Beziehung zwischen den Konfliktparteien (vor dem Konflikt) ist für den Konfliktverlauf von besonderer Wichtigkeit. So bestimmt die Haltung, die anderen Parteien gegenüber eingenommen wird, und die Vorstellungen, die Konfliktparteien voneinander haben, deren Verhalten in einer Konfliktsituation
3. Der Kontext, in dem ein Konflikt ausgetragen wird
Die Situation, in der ein Konflikt ausgetragen wird, kann durch verschiedene Faktoren zur Entwicklung des Konfliktes beitragen. Ein bedeutender Aspekt in diesem Zusammenhang ist ein möglicher Macht- bzw. Statusunterschied zwischen den einzelnen Parteien
4. Die Unterscheidung zwischen Positionen und Interessen
Die Unterscheidung zwischen Positionen und Interessen ist grundlegend für den konstruktiven Umgang mit Konflikten
Die Vorstellung, dass ein Konflikt nur auf eine bestimmte Art gelöst werden kann, ist durch das unnachgiebige Festhalten an einer bestimmten Position, die in einem Konflikt eingenommen wurde, gekennzeichnet. Das führt dazu, dass sich Parteien die Möglichkeit verschließen, ihre Interessen, die ihre Position begründen, zufrieden zu stellen. So fördern sie einen destruktiven Konfliktverlauf.
IV. Soziale Kompetenz
"Soziale Kompetenz bedeutet im heutigen Verständnis den Einsatz verantwortungsbewussten Handelns beim Eintreten für die eigenen Bedürfnisse und Rechte, also ohne damit die Rechte anderer Menschen einzuschränken."
Soziale Kompetenz gilt als Basiswissen, mit dessen Hilfe positive Beziehungen mit Menschen eingegangen werden können
1. Kooperation
Kooperationsfähigkeit stellt ein grundlegendes Element der sozialen Kompetenz dar. Kooperation bedeutet, dass Menschen zusammenarbeiten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Es wird nach Ergebnissen gestrebt, die eigene Interessen und die der anderen Person gleichermaßen zufrieden stellen
Eine kooperative Haltung wird in erster Linie durch eine offene und ehrliche Kommunikation deutlich, in der wichtige Informationen einander nicht vorenthalten werden. Die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten - z. B. bei bestimmten Vorstellungen und Idealen - ist in einem kooperativen Kontext besonders ausgeprägt
2. Wetteifern
Während in einem kooperativen Kontext durch das Verhalten einer Partei die eigenen Erfolgschancen und die der anderen Partei wachsen, herrscht in einem wetteifernden Kontext die Vorstellung vor, dass die eigenen Erfolgschancen nur hoch sind, wenn die der anderen Partei niedrig sind
Die Konfliktparteien arbeiten in einem wetteiferndem Kontext nicht gemeinsam, um ein Ziel zu erreichen, sondern gegeneinander. Wetteiferndes Verhalten ist eine der am meisten anerkannten Verhaltensweisen in der zwischenmenschlichen Interaktion und tief in der sozialen Umwelt verwurzelt
3. Kommunikation
In der Kommunikation drückt sich die soziale Kompetenz in der Übereinstimmung der verbalen (das Gesprochene) und non-verbalen (Mimik und Gestik) Informationen, die gesendet werden, aus
Die wichtigsten Basiskompetenzen in der Kommunikation für einen konstruktiven Umgang mit Konflikten sind "Aktives Zuhören", "Empathie", "Offene Fragen stellen", "Zusammenfassen und Feedback" und "Ich-Botschaften".
a) Aktives Zuhören
Häufig eskalieren Konflikte, obwohl sich die Parteien über die Interessen in einem Konflikt einig sind. Der Grund hierfür liegt oft in einer mangelnden Kommunikation. So schlagen Verhandlungen hauptsächlich durch Verzerrungen der Wahrnehmung und ungenügendes Zuhören fehl
Beim aktiven Zuhören werden die Botschaften, die empfangen werden, nicht analysiert und diagnostiziert. Es geht darum, eine Botschaft zu verstehen, ohne sie zu bewerten. Dies kann durch den Einsatz von Empathie erfolgen.
b) Empathie
In der zwischenmenschlichen Kommunikation ist oft zu beobachten, dass nur mit "einem Ohr" zugehört wird. Das kann aufseiten des "Senders" zu einem Gefühl führen, dass die eigenen Interessen und Wünsche vom "Empfänger" nicht ernst genommen werden. Aufseiten des "Empfängers" kann es durch das ungenaue Zuhören zu Missverständnissen und Missinterpretationen kommen. Letztendlich führt beides zur Eskalation von Konflikten. Es wird in der Begegnung zwischen Menschen nicht nur mit "einem Ohr" gehört. Bei der Betrachtung eines Fremden erfolgt meist eine blitzschnelle Bewertung: sympathisch oder unsympathisch, Freund oder Feind. Menschen werden nur allzu schnell nach ihrem Äußeren beurteilt. Das stumme Abschätzen mit den Augen vom Kopf bis zu den Füßen kann sehr viel Missachtung und Ablehnung vermitteln. Umgekehrt können - etwa bei flüchtigen Begegnungen in der Bahn oder auf dem Weg zur Schule - Blicke, die sich treffen, auch Sympathie bekunden. Sympathie ist eine Möglichkeit, um in Konflikten deeskalierend zu wirken
c) Offene Fragen stellen
Statt spontan über einen Menschen zu urteilen, ist es besser, Fragen zu stellen: Fagen zu stellen, ohne gleich ewas zu unterstellen, Fragen, die helfen sollen, eine Sache zu klären. Diese sollten so formuliert sein, dass der "Sender" zum Sprechen ermuntert wird. Diese Technik, die einen Teil des aktiven Zuhörens darstellt, wird als "offenes Fragen"
Die Technik, Fragen zu stellen, gilt in der Wissenschaft als eine Methode, die zur Förderung der Selbstklärung dient
d) Zusammenfassen und Feedback geben
Das Zusammenfassen der Aussagen des "Senders" ist eine weitere Basiskompetenz im konstruktiven Umgang mit Konflikten. Durch das Zusammenfassen kann die Botschaft nochmals sortiert und ihre Kernaussagen können verdeutlicht werden. So lässt sich weitere Klarheit schaffen. Gleichzeitig bietet sie eine Struktur, an der sich der "Sender" bei seinen weiteren Ausführungen orientieren kann
e) Ich-Botschaften
Ein Feedback mit einem hohen Selbstoffenbarungsanteil wird als "Ich-Botschaft" bezeichnet
Der übliche Weg ist jedoch die Schuldzuweisung mit den so genannten "Du-Botschaften", eine Kommunikation, bei der der andere bewusst verletzt wird, um zum Beispiel die eigene Verletzung deutlich zu machen oder weil ein Angriff die eigene Position stärkt und zur Verteidigung beiträgt. Dies kann jedoch zum "Clinch", wie er aus dem Boxkampf bekannt ist, führen. Die Kontrahenten kommen aus diesem Clinch nicht mehr heraus, weil sie ständig Angst haben müssen, dass bei einer Öffnung eine mögliche offene Flanke erneut zu Verletzungen führt. Wenn bei zwei Kontrahenten ein Angriff dem nächsten folgt, schaukelt sich der Konflikt so weit auf, dass meist der eigentliche Grund gar keine Rolle mehr spielt und die beteiligten Personen, blind vor Wut, keinen Ausweg mehr sehen - ein Stadium, in dem die Streitenden den Konflikt nicht mehr beherrschen, sondern der Konflikt sie beherrscht. Die Möglichkeit einer konstruktiven Konfliktbearbeitung wird ohne fremde Hilfe in diesem Stadium sehr unwahrscheinlich. Viel früher kann in einem Konflikt durch Ich-Botschaften eine Eindeutigkeit hergestellt werden. Wenn zuerst eine Person von sich spricht, macht es die Kommunikation zwischen zwei Personen einfacher und klarer, weil dadurch transparent gemacht werden kann, welche Interessen und Wünsche hinter den jeweiligen Positionen stehen, die eine Person in einem Konflikt vertritt.
Wenn ein Konflikt dann zum Beispiel durch die andere Form der gegenseitigen Darstellung und des veränderten Ablaufes Menschen herausfordert, Position zu beziehen, führt dies zu neuen Erkenntnissen und zu Lösungen. Menschen, die leicht nachgeben, können erleben, daß sie sich in einem Konflikt wider Erwarten auch durchsetzen können und Konflikte positive Effekte haben.
V. Widersprüche
Mit den Basiskompetenzen kann der Widerspruch zwischen unseren individuellen Bedürfnissen und unseren Bedürfnissen nach Zugehörigkeit beseitigt werden. Gutes Zuhören und genaues Nachfragen erhöht die Toleranz gegenüber anderen Meinungen. Zur Durchsetzung gehören auch die strukturellen Bedingungen für Toleranz. Einzig die individuellen Kompetenzen bieten keine Sicherheit.
Gerade asymmetrische Strukturen können das Niveau der Gewalt verstärken
Als Teil innerhalb einer sozialen Struktur, einer Gruppe, eines Betriebes oder einer Institution, wie zum Beispiel einer Schule, gehört es zu den schwierigsten Aufgaben, die nötige Distanz zu bekommen und Handlungsschritte zu entwickeln. Die Distanz gelingt nicht oder nur bedingt, weil die Angst besteht, die eigenen Vorteile und den Schutz durch das System zu verlieren. Dadurch entwickeln sich Widersprüche, die sich nicht leicht lösen lassen. Es sei denn, jemand hat den Mut die Widersprüche anzusprechen und eventuell eigene Vorteile aufzugeben.
Es bleibt eine große Herausforderung, sich den Widersprüchen zu stellen. Ein Beispiel ist die freie Meinungsäußerung und Mitbestimmung an Schulen über die Notengebung: Viele Lehrerinnen und Lehrer und das jeweilige Schulgesetz sehen nicht vor, dass die Schülerinnen und Schüler sich gleichberechtigt beteiligen. Im Sinne der unterschiedlichen Kompetenzen ist es berechtigt, im Sinne der gleichberechtigten Meinungsfreiheit nicht.
"Die Würde des Schülers ist antastbar" folgert Kurt Singer daraus