Warum wählen wir?
Zur Etablierung und Attraktivität von Massenwahlen
Hedwig Richter
/ 17 Minuten zu lesen
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Eine niedrige Beteiligung ist in der Wahlgeschichte keine Ausnahme. Wahlen waren meistens ein dröger Akt, bei dem das Volk immer wieder mit Kampagnen angetrieben werden musste – im 19. Jahrhundert gar mit Gewalt, Korruption und Manipulation.
Warum wählen wir eigentlich? Warum ist die Legitimation politischer Herrschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch ohne Massenbeteiligung möglich? Gewöhnlich ist die Antwort rasch zur Hand: Wahlen ermöglichen den Menschen Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit, denn sie bieten ein gleiches, allgemeines, direktes und freies Mitspracherecht. Daher haben sich Männer und Frauen dieses Recht im Laufe der Jahrhunderte gegen die politischen Autoritäten erkämpft. An der Spitze der Entwicklungen standen Frankreich und die USA, während Deutschland mit seiner Demokratieunfähigkeit eher auf den Abgrund undemokratischer Entwicklungen verweist. Bis heute haben sich Frauen und Männer immer wieder diese Freiheit angeeignet, Demokratien errichtet und damit vielerorts Gleichheit und Gerechtigkeit durchgesetzt.
Diese Geschichten sind populär, und sie werden vielfach von der Forschung aufgegriffen. Doch wollten die Menschen tatsächlich seit jeher wählen? Und warum entwickelte sich ausgerechnet das Verfahren der Massenwahlen, dessen Technik durch seine Manipulations- und Korruptionsanfälligkeit besonders viele Fallstricke birgt? Heute kann eine beträchtliche Anzahl an Bürgerinnen und Bürgern über das Internet auch von außerhalb des Landes in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst werden, wie es bei der jüngsten Präsidentschaftswahl in den USA der Fall gewesen sein soll, und ein närrischer Wahlkampf mit faktenfreien Argumenten vermag wie in Großbritannien eine Mehrheit vom Brexit zu überzeugen, den alle Informierten für eine Katastrophe halten. In manchen Demokratien begründet zudem erst ein finanzielles Vermögen die Chance, einen Wahlkampf zu führen und die Wählermassen für sich zu gewinnen. Massenpartizipation scheint damit den Versprechen der Moderne – Rationalität, Gleichheit und individuelle Autonomie – nicht besonders förderlich zu sein.
Wählen bedeutet aber auch deswegen ein gerüttelt Maß an Unfreiheit, weil sich alle dem Mehrheitsentscheid beugen müssen. Würde nicht das Losverfahren für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen? Wäre eine Art Räterepublik, in der die Bürger in kleineren Einheiten vor Ort die Dinge autonom regeln, nicht zielführender? Warum also konnte sich der Brauch der Massenwahlen etablieren, und warum hat er sich bis heute gehalten?
Um eine Antwort zu finden, soll jener Zeitraum untersucht werden, in dem sich moderne Massenwahlen entwickelt haben: das 19. Jahrhundert. Der Fokus liegt dabei auf den USA und Deutschland, da die beiden Länder immer wieder als Gegenpole dessen verstanden werden, was Wahlen bedeuten konnten. Die USA im 19. Jahrhundert gelten schon als Demokratie, während Historikerinnen und Historiker Wahlen in Preußen und im Deutschen Reich oft als besonders defizitäre, vernachlässigungswürdige Institution abgetan haben.
Beginn moderner Wahlen – Desinteresse der Bürger
Am Wahltag suchten die Bürger das Weite. Ein Berliner Stadtverordneter notierte, dass "von den stimmfähigen Bürgern des Bezirks kaum die Hälfte erscheint und diese kleine Zahl zeigt sich noch so erschlafft und so lässig". Er berichtete von der "Trostlosigkeit des ganzen Actus", und mit "derselben, schrecklichen Ruhe geht man nach Hause, um an die ganze Geschichte nicht mehr zu denken, froh, dass sie nur alle drei Jahre wiederkehrt". Dabei gab es eine Wahlpflicht und ein dezidiertes Interesse der Obrigkeit, die vor den Wahlen mit Zeitungsaufrufen und Plakaten an den Mauern das Volk zur Teilnahme drängte. Doch in der Regel blieb ein Drittel bis die Hälfte der Wahlberechtigten den Wahlen fern. Die liberale "Vossische Zeitung" mahnte, "den Geist" der Städteordnung zu würdigen, und kritisierte es, wenn "so Vielen es ein unerhörtes Opfer dünkt, im Laufe von drei Jahren für die Kommune einige Stunden ihre Bequemlichkeit zu entbehren!"
Dabei hatte Preußen mit seiner Städteordnung von 1808 ein bemerkenswert modernes Wahlrecht. Gebildete Reformeliten aus Bürgertum und Adel, die sich um das Engagement der Bürger sorgten, hatten sich dafür eingesetzt. Die Besitzanforderungen für das Wahlrecht lagen für die damalige Zeit recht niedrig, sodass in ganz Preußen rund zehn Prozent der Stadtbevölkerung das Wahlrecht besaß, was 2,8 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Die Städteordnung definierte alle Bürger vor dem Staat als gleich. Gegen das "nach Klassen und Zünften sich theilende Interesse" setzten die Reformeliten den Gemeinsinn der Nation. Nicht Religion (auch Juden durften wählen), nicht Geburt (Adel zählte nicht) und nicht Zünfte bildeten das Objekt der Regierungspraxis, sondern das Individuum. Doch selbst die weitreichenden Kompetenzen, die den Gewählten übertragen wurden, konnten die Bürger nicht zur Beteiligung motivieren.
Das war verständlich, denn die Wahl zog sich furchtbar in die Länge. Die Wahlversammlungen fanden in den Kirchen statt, gerahmt von einem feierlichen Gottesdienst. Nach einer Predigt, frommen Liedern, dem Verlesen der Wahlberechtigten und der Aufstellung der Bewerber für das Amt konnte die Wahl beginnen: Für jeden Kandidaten durchlief jeweils eine Urne die Reihen; stimmte der Wähler zu, warf er eine weiße Kugel hinein, lehnte er den Kandidaten ab, eine schwarze. Mit dieser aufwendigen Ballotage gehört das preußische Städtewahlrecht zu den wenigen bekannten Wahlordnungen im frühen 19. Jahrhundert, die eine geheime Abstimmung exekutierten. Manchmal zog sich der Wahlvorgang bis in den nächsten Tag hinein. Die Bürger mochten die Veranstaltung nicht, sie forderten kürzere Predigten und neutralere Lieder, dass Juden und Andersdenkende nicht verprellt würden; ganz allgemein war ihnen schlicht die Zeit zu schade – sie hatten Besseres zu tun.
Nicht nur in Preußen bemühte sich die Obrigkeit, die Bürgerschaft zum Wahlgang zu bewegen. In Baden besaßen mit der Verfassung von 1818 beachtliche 17 Prozent aller Einwohner das Wahlrecht, in Württemberg seit der Verfassungsgebung von 1819 etwa 14 Prozent – und auch hier regte sich wenig Sinn für bürgerliche Mitbestimmung. Die Teilnahme sank häufig auf unter 50 Prozent. "Ach! schon wieder wählen", spottete der "Stuttgarter Beobachter" 1844 über die Wahl-Unlust der Schwaben: "Sich für nichts und aber nichts,/nur für Andere quälen!/Einen ganzen Tag sich ab/An der Arbeit stehlen!/Wär’s entleidet doch den Herrn,/Stimmen abzuzählen!"
Die Wahlunlust war keine deutsche Sonderlichkeit. In Frankreich klagten die Behörden 1813 nach einer Wahlbeteiligung von fünf Prozent, dass es der Bevölkerung wahrscheinlich gleichgültig wäre, wenn man ihnen das Wahlrecht entzöge. Dänemark führte 1837 aufgrund der geringen Beteiligung die Wahlpflicht ein. Auch in den USA waren Wahlen eine Angelegenheit, die vor allem progressiven Gebildeten am Herzen lag. Und dabei galt für die amerikanischen Eliten ebenso wie in Europa die Gleichheitsidee zunächst den besitzenden, selbstständigen Bürgern, nicht den armen. Zwar fanden sich beträchtliche Unterschiede in den amerikanischen Einzelstaaten, doch gab es meist einen Zensus und oft die Anforderung des Landbesitzes.
Bei den US-Präsidentschaftswahlen von 1.800 besaßen 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung das Wahlrecht, und davon gingen nur 62.000 Männer wählen, weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten. Bis 1830 stieg der Anteil der Wahlberechtigten auf acht Prozent. Wenige reiche, meist protestantische, weiße Männer machten bis ins zweite Drittel des Jahrhunderts das Wahlgeschehen unter sich aus, und entsprechend honorig verlief der Wahlakt: "Alle Wähler müssen sich zunächst setzen, wer aufgerufen wird, muss sich erheben und seinen Hut abnehmen, bis seine Stimme notiert ist, dann muss er sich wieder auf seinen Stuhl setzen und sein Haupt bedecken", schrieb eine Wahlregulierung von 1820 vor. Wenig erstaunlich, dass das Prozedere auch den Amerikanern nicht attraktiv erschien und sie es ebenfalls häufig vorzogen, den Wahlen fern zu bleiben.
Der Prozentsatz an Wahlberechtigten lag auf der ganzen Welt jedoch nicht nur wegen der Eigentumsqualifikationen so tief, sondern auch, weil Frauen, Minderjährige und Minderheiten wie Sklaven, native Americans oder Latinos kein Wahlrecht besaßen. Zudem zählte die ländliche Bevölkerung, die häufig abgeschottet lebte und an die politischen Diskurse kaum Anschluss haben konnte, in der Regel nicht zu den politischen Akteuren. Zwar glaubten die Amerikaner und viele gebildete Europäer daran, dass die USA eine Ausnahme bildeten und der Hafen der Freiheit seien, und von der Fundierung der amerikanischen Staatsmacht auf gewählten Parlamenten konnten Demokraten auf dem europäischen Festland nur träumen. Doch für einen amerikanischen Bauer spielte die Tatsache, dass es in der Hauptstadt ein Parlament gab, kaum eine Rolle. Und einem aus Pommern in die Südstaaten ausgewanderten Farmer mochte der Unterschied zwischen einem Plantagenbesitzer der neuen und einem Junker der alten Heimat nicht unmittelbar einleuchten.
Offensichtlich bedeutete das Wahlrecht für einen Großteil der Menschen nicht ein mit Leidenschaft erkämpftes Recht. Vielmehr erweisen sich Wahlen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig als ein hoheitliches Projekt, dem sich die Bürger mit wenig Elan fügten – oder auch zu entziehen trachteten.
Disziplinierung durch Wahlen
Wenn jedoch der Impuls für Wahlen und Mitbestimmung vonseiten der Regierenden kam: Welches Interesse hegten sie damit? Zugespitzt lautet die Antwort: Wahlen leisteten nicht nur durch ihre Legitimierungsfunktion einen wichtigen Beitrag zur Bildung des modernen Staates, sondern auch durch die Integration des Individuums, die den Zugriff des Staates auf jeden einzelnen erleichterte. Insbesondere im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts dienten Wahlen der Obrigkeit als Disziplinierungsinstrument. In der Präambel zur preußischen Städteordnung hieß es etwa, sie habe den Zweck, "Gemeinsinn zu erregen". Thomas Jefferson kommentiere die bürgerliche Mitbestimmung ähnlich: "Ich glaube, sie ist die einzige [Regierungsform], in der jedermann, dem Aufruf des Gesetzes folgend, sich auf das Niveau des Gesetzes hinaufschwingen und Übergriffe gegen die öffentliche Ordnung als seine persönliche Angelegenheit ansehen dürfte." Moderne Staaten waren zu groß und zu komplex, um von einer kleinen Führungsschicht gelenkt zu werden, sie bedurften der Mitarbeit von unten.
Sowohl in Preußen als auch in den USA, aber auch in Frankreich oder Österreich erfassten die Wahlregistraturen des 19. Jahrhunderts nicht nur die Namen, sondern in aller Regel auch das Alter, den Wohnort und häufig den Beruf des Mannes. Wählerregistraturen trugen damit zur immer genaueren Definition des Bürgers bei, zu der – zur Identifizierung als Staatsangehöriger und Festlegung von Zugehörigkeit – unabdingbar ein fester Wohnort gehörte.Auch die Verbindung der Wahlen mit der neuen Lehre der Statistik und die enge Kopplung des Wahlrechts an die Wehrpflicht verdeutlichen den Nutzen der Wahlen für die Regierenden. All das war Teil der Staatskonsolidierung.
Legitimationskraft von Männlichkeit
Die in den 1820er Jahren langsam einsetzende Ausweitung des Wahlrechts in den USA, die um 1840 einen ersten Höhepunkt erreichte, verdankte sich ebenfalls nicht den unteren Schichten. Vielmehr setzten sich die Parteien dafür ein, weil sie auf ein besseres Stimmergebnis hofften. Um Nichtwähler zu mobilisieren, bemühten sie sich, Gegenleistungen für die Stimmabgabe zu bieten, etwa in Form von Alkohol oder Essen. Und so gestaltete sich der Wahltag in Amerika seit der Jahrhundertmitte zunehmend als ein Fest für das Mannsvolk, das in immer größeren Scharen an den Wahllokalen auftauchte. In Fackelzügen und Parteiuniformen marschierten die Männer die Dorf- und Stadtstraßen ab, sie soffen, und sie prügelten sich. Afroamerikaner mieden am Wahltag die Straßen, und immer wieder kam es zu Mord und Totschlag unter den rivalisierenden Parteien. Häufig trug die physisch stärkste Partei den Sieg davon. Die Beteiligung lag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA häufig bei 80 Prozent.
Da das 19. Jahrhundert de facto nur offene Wahlen kannte, gehörten Korruption und Bestechung wie selbstverständlich dazu. Über viele Jahrzehnte konnte ein Amerikaner seine Stimme für einen Dollar verkaufen. Meistens gab es in den amerikanischen Wahllokalen ein Fenster, durch das der Wähler seinen Stimmzettel – gut einsehbar – dem Wahlvorsteher reichte, der ihn in die Urne steckte. Fast immer schützte sich die Wahlkommission mit einer Barriere vor dem Wahlvolk, um die Männer davon abzuhalten, das Lokal zu stürmen, unerwünschte Stimmzettel zu zerstören oder gleich die ganze Urne zu "entführen".
Die Verbindung mit Männlichkeit kam der Attraktivität des Staates zugute, auf den sich die Wahlen bezogen. Die Historikerin Gisela Bock spricht von der "expliziten Maskulinisierung der politischen Partizipation" im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die männliche Durchdringung des Wahlakts bestärkte seine Legitimationskraft. Der ganze Wahlverlauf bestätigte die Unsinnigkeit weiblicher Präsenz – oder vielmehr: Hier konnte kaum jemand auf die Idee verfallen, Frauen in das Geschehen einzubeziehen. So dienten die Wahlen implizit als Erinnerung und Bestätigung der weißen männlichen Herrschaft.
Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern traten in der Jahrhundertmitte neue Schichten dem demokratischen Spiel bei. Zwar erfüllten die Revolutionen von 1848/49 nicht alle Träume der Liberalen und schon gar nicht die der Demokraten. Doch dass es nun überall in Deutschland Parlamente und Wahlen gab, wollte sich niemand mehr nehmen lassen. Immer häufiger beschrieben Bürger Wahlen und bürgerliche Mitbestimmung stolz als Ausdruck von "Zivilisation".
In Preußen wurde 1849 das Dreiklassenwahlrecht eingeführt, das zu dieser Zeit im Vergleich mit den Wahlrechtsregelungen anderer Länder keineswegs besonders rückständig war. Alle erwachsenen Männer durften wählen, auch wenn die Stimmen derjenigen, die mehr Steuern zahlten, deutlich größeres Gewicht hatten. Und weil das Wahlprozedere kompliziert und langwierig blieb, lag die Beteiligung – wieder zum Unwillen der Mächtigen – selten bei über 30 Prozent. Anders als in den USA kam es in Preußen und später im Deutschen Reich nicht zu krassen Wahlfälschungen und schon gar nicht zu den regelmäßigen Gewaltexzessen, doch wie auch in anderen Ländern nahmen Wohlhabende und Mächtige – Fabrikbesitzer, Parteiführer oder hohe Beamte – mit Bestechungen oder Drohungen Einfluss.
Gleichheit und Nationalismus
Waren Wahlen zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Antwort auf die Probleme moderner Staatsbildung, so boten sie in der zweiten Jahrhunderthälfte ein ideales Instrument für den fortschreitenden Prozess der Nationsbildung. "Vor der Nation ist jeder Mensch gleich – dieser revolutionäre Glaubenssatz der Moderne setzte Sprengkräfte frei, die auf Dauer nichts verschonten", so der Historiker Dieter Langewiesche. Das Staatsvolk schuf eine unüberbietbare Legitimation für den modernen Staat, und der Wahlakt ermöglichte die Fiktion von legitimer Herrschaft in aufgeklärten Zeiten: dass bei Gültigkeit des Gleichheitsgebots Herrschaft möglich sei, obwohl Herrschaft doch stets soziale Asymmetrie und Dominanz bedeutet.
So fällt die Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts in jene Zeit, in der die Massen von der Idee des Nationalismus ergriffen wurden – in die 1860er und 1870er Jahre. Aufgrund der gouvernementalen Nützlichkeit der Wahlen gab sowohl in den USA als auch in Deutschland die Zentralmacht den Anstoß für die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts. In Amerika bemühte sich die republikanische Regierung in Washington durch Verfassungszusätze und militärische Gewalt um eine Sicherung des Wahlrechts für Afroamerikaner. In Deutschland erkannte Bismarck zur gleichen Zeit die Chancen eines allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts und forcierte seine Einführung auf Reichsebene. Beide Initiativen waren getragen von einflussreichen, bürgerlichen Eliten, etwa den Liberalen in Preußen und den Abolitionisten in den USA. Regierungen, aber auch die Bürger selbst feierten Wahlen zunehmend als Ausdruck der nationalen Einheit. Doch in den USA erwies sich die Zentralgewalt letztlich als zu schwach, sie konnte sich gegen die Bundesstaaten nicht behaupten. Mit niederträchtigen Regelungen wie der grandfather clause, die nur jenen zu wählen erlaubte, deren Großvater bereits das Wahlrecht besessen hatte, schlossen viele von ihnen in den 1890er Jahren die Schwarzen wieder vom Wahlrecht aus.
Die Geschichte vom modernen Staatsbau, der über das Nationskonzept die Gleichheit der Staatsbürger ermöglicht – mit allen Abstrichen und Exklusionen, die damit einhergingen –, ist auch die Geschichte der bürgerlichen Emanzipation. Tatsächlich lässt sich die globale Ausbreitung der Wahlen nicht nur mit ihrer staatsbildenden und stabilisierenden Nützlichkeit erklären. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten Wahlen ein emanzipatives Potenzial. Alles in allem konnten immer mehr Bevölkerungsgruppen Wahlen mit ihrer Lebenswelt verbinden und für ihre Interessen nutzen.
Bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Wahlberechtigten weiter und lag in Deutschland bei 22 Prozent der Gesamtbevölkerung, in den Vereinigten Staaten waren es – nicht zuletzt wegen des jüngeren Wahlalters – 28 Prozent. In Großbritannien, das gegenüber direkter Volksherrschaft stets misstrauisch war, besaßen nur 16 Prozent das Wahlrecht. In dieser Zeit war auch die Wahlbeteiligung in Deutschland mit über 80 Prozent besonders hoch – was nicht zuletzt an den Sozialdemokraten lag, die mit ihren zündenden Reden im Reichstag und ihren Wahlkämpfen zu einer bedeutenden Kraft geworden waren.
Internationale Demokratiegeschichte
In den westlichen Staaten vollzogen sich entscheidende Wahlrechtsveränderungen immer wieder parallel innerhalb weniger Jahre. Das gilt für die Ausdehnung des Wahlrechts von wenigen Honoratioren hin zu einem weiten Männerwahlrecht in den 1840er Jahren ebenso wie für die Einführung eines allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts um 1870. Diese Synchronität erklärt sich nicht zuletzt durch strukturelle Veränderungen. So konnten sich nationale Parlamente vielerorts nicht vor 1850 durchsetzen, weil erst durch die Alphabetisierung der Staatsbürger, die Entwicklung eines breiten Zeitungsmarktes, die dichter werdende Infrastruktur und die Mobilisierung der Menschen ein über das Lokale hinausgehender, nationaler Kommunikationsraum entstand.
Für diese Voraussetzungen wiederum bedurfte es einer prosperierenden Wirtschaft. Um 1900 erreichte der Wohlstand einen neuen Höhepunkt, und die Reallöhne stiegen auch für untere Schichten. Arbeiterinnen und Arbeiter setzten sich für bessere Löhne und bessere Arbeit ein, in den USA und Europa kämpften Reformbewegungen für gute Bildung, mehr Gesundheit, Hygiene – und für Frauenrechte. Vielfach ging es dabei um den Schutz des eigenen Körpers und damit indirekt auch um eine Zähmung von Männlichkeit. Die Gewalt, soweit sie sich als kriminelle Gewalt statistisch messen lässt, hatte stetig abgenommen und erreichte um 1900 einen neuen Tiefstand. Eine der wichtigsten Veränderungen hing womöglich damit zusammen: Die Emanzipation der Frau rückte in greifbare Nähe und wurde an manchen Stellen bereits umgesetzt. In eben dieser Zeit, um 1900, wurde weltweit eine Wahltechnik eingeführt, die bis heute als Standard für Demokratien gilt: die freie und geheime Wahl mit einheitlichem Stimmzettel oder einem Wahlumschlag, mit Wahlkabinen und einem streng regulierten Ablauf, der Einflussmöglichkeiten von außen verringerte. Die Wahlreformer bekämpften Gewalt und Alkohol, forderten Nüchternheit und sorgten mit Minutenangaben dafür, dass der Wahlakt in kürzester Zeit absolviert werden konnte. Die anhaltende Attraktivität des Wahlverfahrens hängt gewiss auch damit zusammen, dass es ungemein praktikabel und niedrigschwellig ist und den Bürgerinnen und Bürgern nur wenige Minuten abverlangt.
"Zivilität" und "Kultur" – in Deutschland oft synonym gebraucht – wurden häufig auch mit modernen Wahlen und modernen Wahltechniken in Zusammenhang gebracht. Auf diese Weise entwickelten sich Wahlen um 1900 zu einem unverzichtbaren Legitimationsmittel und, wie der Historiker Jürgen Osterhammel schreibt, zu einem Teil des "globalen Prozesses der Verwestlichung".
Fazit
Auf die Frage, warum sich Massenwahlen etablieren und bis heute unangefochten halten konnten, fällt die Antwort also vielfältig aus: Wahlen dienten den Herrschenden als Disziplinierungsinstrument, sie sollten die Bürger enger an den Staat binden und zur Mitarbeit motivieren. Wahlen integrierten zudem das Mannsvolk und wurden dadurch zu einem Ausdruck von Nation und Emanzipation. Ihre zentrale Aufgabe aber bleibt, dass sie die große Legitimationsfiktion der Moderne verdinglichen und symbolisieren können: die Demokratie. Das heißt, Wahlen bieten ein relativ zuverlässiges Verfahren, um das Dilemma moderner Herrschaft zu plausibilisieren: auf der einen Seite Herrschaft und Dominanz zu legitimieren, auf der anderen Seite das im 20. Jahrhundert zu den self-evident truths der westlichen Welt gehörende Gebot der Autonomie des Individuums und der Gleichheit aller Menschen zu bestätigen.
Das ist viel. Und es ist unnötig, die Bedeutung von Wahlen zu überhöhen. Wahlen waren meistens ein dröger Akt, bei dem das Volk immer wieder mit Kampagnen angetrieben werden musste – im 19. Jahrhundert sogar mit Gewalt, mit Korruption, mit Manipulation. Eine niedrige Beteiligung, mit der die Obrigkeit so oft ihre Not hatte, ist in der Wahlgeschichte keine Ausnahme. Die Wahlpraxis zeigt daher auch: Das Projekt Demokratie, dessen Ansprüche sich nie ganz einlösen lassen, eignet sich nur bedingt für Pathos. Postdemokraten und andere Vertreter einer reinen Lehre, die bereits feierliche Untergangsgesänge auf die Demokratie anstimmen, scheinen den (notwendig) fiktionalen Charakter von Demokratie womöglich misszuverstehen.
ist Historikerin und Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe "Demokratie und Staatlichkeit" am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS). Ihr neuestes Buch "Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert" ist jüngst erschienen. E-Mail Link: hedwig.richter@his-online.de
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