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Angekommen und auch wertgeschätzt? Integration von Türkeistämmigen in Deutschland | Integrationspolitik | bpb.de

Integrationspolitik Editorial Alter Wein in neuen Schläuchen? Integrationskonzepte vor der Bundestagswahl "Wir wurden respektiert und haben auch Respekt gezeigt". Ein Gespräch Zuwanderung und Integration. Aktuelle Zahlen, Entwicklungen, Maßnahmen Sprache, Kultur, Arbeit? Zur Inklusion neu Zugewanderter durch Bildung Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen. Antwort auf den Fachkräftemangel? Sozialräumliche Integration von Flüchtlingen. Das Beispiel Hamburg-Harvestehude Angekommen und auch wertgeschätzt? Integration von Türkeistämmigen in Deutschland

Angekommen und auch wertgeschätzt? Integration von Türkeistämmigen in Deutschland

Olaf Müller Detlef Pollack

/ 15 Minuten zu lesen

Als am Tag nach dem Verfassungsreferendum bekannt wurde, dass die in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken zu einem höheren Anteil für die Reform gestimmt hatten als ihre Landsleute in der Türkei, entbrannte sofort eine heftige Debatte darüber, wie diese Ergebnisse zu deuten seien. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen Özcan Mutlu etwa zeigte sich einerseits darüber "verstört", "wie man für die faktische Abschaffung der Demokratie in der Türkei sein kann, aber in Deutschland alle Vorzüge der Demokratie genießt", wartete aber sogleich mit einer Erklärung auf, der sich in den folgenden Tagen nicht wenige Politikerinnen, Journalisten und auch Wissenschaftlerinnen anschlossen: "Wir haben es nicht geschafft diesen Menschen eine neue Heimat zu bieten, geschweige denn eine neue Heimat zu werden." Andere wie der CDU-Politiker Ruprecht Polenz verwahrten sich gegen die These, dass sich in den Ergebnissen eine faktisch gescheiterte Integrationspolitik widerspiegelt, indem sie auf den verhältnismäßig geringen Anteil der Reformbefürworter an der Gesamtzahl der wahlberechtigten Türkeistämmigen in Deutschland verwiesen. Die hohe Zahl an Abstimmungsberechtigten, die nicht an der Abstimmung teilgenommen hatten, wurde in diesem Zusammenhang auch als Beleg dafür herangezogen, dass die emotionale Bindung an die Türkei bei vielen Türkeistämmigen gar nicht mehr so groß sei und sie sich für die dortigen Verhältnisse wenig interessierten.

Ungeachtet der Frage, welche dieser Erklärungen zutreffend ist: Die Reaktionen spiegeln in jedem Fall recht gut wider, wie sich die Debatte um Einwanderung und Integration in Deutschland heute darstellt und in welcher Weise sie sich in den vergangenen Jahren verändert hat. Der Diskurs wird zunehmend weniger von Themen bestimmt, die unmittelbar auf die klassischen strukturellen Zielbereiche der Integration wie etwa Bildung und Erwerbstätigkeit abstellen, sondern von Fragen nach der Vereinbarkeit der kulturell-religiösen Identität von Minderheiten vor allem aus muslimisch geprägten Herkunftsländern mit der Mehrheitsgesellschaft. Die von Innenminister Thomas de Maizière jüngst wieder angestoßene Debatte um die Notwendigkeit und den Inhalt einer Leitkultur ist dafür ein weiteres vielsagendes Beispiel.

Das Anliegen unseres Beitrages besteht weder darin, das Thema Integration von einer normativen Position her zu betrachten. Noch sollen vor allem die "objektiven" Erfolge und Defizite der Integration von Zuwanderern in einzelnen Bereichen analysiert werden. Stattdessen interessieren wir uns mehr für die subjektive Ebene – die Ebene der Wahrnehmung und der Einstellungen in Bezug auf Fragen der Integration. Und hier wiederum geht es uns vorrangig nicht um den Blickwinkel der Mehrheitsgesellschaft; vielmehr möchten wir die Perspektive gewissermaßen umdrehen und die Sicht der Zuwanderer und ihrer Nachkommen in den Fokus rücken. Wie erleben sie diese Diskussionen? Wo verorten sie sich selbst in der Gesellschaft? Als wie integriert schätzen sie sich ein? Und was verstehen sie selbst unter einer geglückten Integration? Antworten auf diese Fragen sollen am Beispiel der mit Abstand größten Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund in Deutschland, den Türkeistämmigen, gegeben werden.

Wohlbefinden, soziale Lage und Diskriminierung

Betrachtet man die subjektive Sicht der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen auf ihre eigene soziale Lage allgemein, ist man mit einem überraschenden Befund konfrontiert: Trotz noch immer bestehender gravierender Defizite bei der strukturellen Integration und öffentlich immer wieder lautstark vorgebrachter Unmutsbekundungen lässt sich in der Bevölkerungsgruppe der Türkeistämmigen in Deutschland keineswegs ein übermäßiges Unzufriedenheitspotenzial feststellen. Im Gegenteil – die Mehrheit ist mit ihrem Leben in Deutschland sehr zufrieden; so antworten 49 Prozent auf die Frage, ob sie sich alles in allem in Deutschland wohlfühlen, mit "ja, sehr wohl" und weitere 41 Prozent mit "ja, eher wohl". Nur ein kleiner Teil der Befragten, insgesamt 10 Prozent, bekundet, sich "eher" beziehungsweise "gar nicht" wohl zu fühlen. Auch Gefühle der relativen Deprivation sind nicht überdurchschnittlich verbreitet: Knapp die Hälfte der Befragten (44 Prozent) ist der Meinung, dass sie im Vergleich dazu, wie andere in Deutschland leben, ihren gerechten Anteil erhalten, 5 Prozent sind sogar der Ansicht, dass sie mehr als den gerechten Anteil erhalten. Insgesamt 40 Prozent geben an, entweder "etwas" (29 Prozent) oder "sehr viel weniger" zu bekommen.

Das zunächst rundum positiv erscheinende Bild trübt sich jedoch etwas ein, sobald man über die Erhebung allgemeiner Zufriedenheitsbekundungen hinausgeht und konkrete Lebensbereiche anspricht: So ist etwa nur jeder dritte Türkeistämmige der Meinung, dass in Deutschland jeder, unabhängig von seiner Herkunft, in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt die gleichen Chancen hat, während 56 Prozent dies verneinen. Auch wenn dieses Ergebnis keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Einschätzung der persönlichen Situation oder auch nur die der Gruppe der Türkeistämmigen zulässt, deutet es doch darauf hin, dass bei der Mehrheit der Befragten ein klares Bewusstsein für eine herkunftsbezogene Chancenungleichheit hinsichtlich der strukturellen Integration in die deutsche Gesellschaft vorhanden ist.

Trotz der beschriebenen sehr positiven Einschätzungen der eigenen sozialen Situation nimmt ein erheblicher Teil der Befragten Anerkennungsdefizite wahr. Dies zeigt sich an den Antworten zu einem Statement, das in ganz ähnlicher Form schon in den 1990er Jahren in der Politische-Kultur-Forschung zur Lage in den neuen Bundesländern verwendet wurde: Der Aussage "Als Türkeistämmiger fühle ich mich als Bürger 2. Klasse" stimmen immerhin 51 Prozent der Befragten "stark" beziehungsweise "eher" zu. Dass der eigene Wille und die persönliche Anstrengung nicht reichen, um "dazuzugehören", weil generelle Inklusionsbarrieren auch seitens der Mehrheitsgesellschaft bestehen, meint ebenfalls etwa jeder zweite Befragte. 54 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu "Egal wie sehr ich mich anstrenge, ich werde nicht als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt".

Dabei nehmen die Türkeistämmigen in Deutschland Benachteiligungen und mangelnde Anerkennung vor allem im kulturell-religiösen Bereich wahr – ein Bereich, der ihnen im Gegensatz zur Mehrheitsgesellschaft besonders wichtig ist. Insgesamt sagt etwa jeder vierte Befragte, dass er sich selbst als Angehöriger einer Bevölkerungsgruppe sieht, die in irgendeiner Form diskriminiert wird. Fragt man nach den Gründen für die Diskriminierung, dann werden unter anderem die Hautfarbe (3 Prozent), die Sprache (7 Prozent) und die ethnische beziehungsweise nationale Zugehörigkeit (9 Prozent) genannt. Mit Abstand am häufigsten wird allerdings die Religion angeführt: 15 Prozent aller Befragten – beziehungsweise etwa zwei Drittel derjenigen, die überhaupt irgendeine Form von Diskriminierung wahrnehmen – sind der Meinung, dass diese wegen ihrer Religion stattfindet.

Selbst- und Fremdbilder

Vieles deutet darauf hin, dass sich in diesen Klagen gar nicht in erster Linie direkte und persönliche Erfahrungen widerspiegeln, sondern Gefühle der kollektiven Abwertung. Besonders kränkend wirkt dabei offenbar die von den Türkeistämmigen sehr genau wahrgenommene Geringschätzung und Abwertung des Islams durch die Mehrheitsgesellschaft: So stimmen 84 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass es sie wütend macht, wenn nach einem Terroranschlag als erstes Muslime verdächtigt werden. Das Bild, das die befragten Türkeistämmigen von ihrer eigenen Religion haben, stellt sich diametral zum Image dar, das der Islam in der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung besitzt (Abbildung). Während von den nichtmuslimischen Befragten in einer Umfrage von 2010 nur ein verschwindend kleiner Teil (5 bis 8 Prozent) dem Islam positive Eigenschaften wie Achtung der Menschenrechte, Solidarität, Toleranz oder Friedfertigkeit attestierte, schreibt jeweils mehr als die Hälfte der türkeistämmigen Befragten dem Islam genau diese positiven Eigenschaften zu. Das Bild kehrt sich um, wenn man nach negativen Assoziationen fragt: Hier war es der überwiegende Teil der Mehrheitsgesellschaft, der 2010 im Islam Eigenschaften wie Benachteiligung der Frau (82 Prozent), Fanatismus (72 Prozent) oder Gewaltbereitschaft (62 Prozent) entdecken wollte; von den türkeistämmigen Befragten weisen dem Islam nur zwischen 12 und 20 Prozent derartige Eigenschaften zu.

Frage: "Es gibt ja ganz unterschiedliche Ansichten über den Islam. Woran denken Sie beim Stichwort Islam?" Quelle: Detlef Pollack et al., Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt, Münster 2010; Detlef Pollack et al., Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland, Münster 2016


Für viele Türkeistämmige in Deutschland stellt sich der Islam als eine angegriffene Religion dar, die vor Verletzungen, Vorurteilen und Verdächtigungen geschützt werden muss. Die Folge ist eine vehemente Verteidigung der eigenen religiösen Zugehörigkeit und Tradition. So sind 62 Prozent der Befragten der Meinung, dass der Islam durchaus in die westliche Welt passt – und widersprechen damit einmal mehr fast 80 Prozent der Mehrheitsgesellschaft, die dies in einer Umfrage aus dem Jahr 2010 verneinten.

Beeinträchtigen die Vorbehalte der Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem Islam nun aber in gleichem Maße die Einstellungen der Türkeistämmigen gegenüber der deutschen Gesellschaft und deren religiöser Tradition? Sind ihre Haltungen gegenüber der deutschen Kultur ebenso negativ wie sie gegenüber ihrer Herkunftskultur positiv sind? Unseren Befunden zufolge scheint das bisher kaum der Fall zu sein: Das Verhältnis zu Deutschland beziehungsweise zur Mehrheitsgesellschaft wird von den Befragten insgesamt als gut eingeschätzt. Ihre Haltung zu "Menschen deutscher Herkunft" bezeichnen 86 Prozent der befragten Türkeistämmigen als "sehr" beziehungsweise "eher positiv"; nur 4 Prozent bekunden eine "eher" beziehungsweise "sehr negative" Haltung, 10 Prozent sind hier unschlüssig beziehungsweise verweigern die Antwort. Ebenso fühlt sich die große Mehrheit der Befragten mit Deutschland verbunden (87 Prozent "sehr eng" beziehungsweise "eng") – was in etwa dem Anteil entspricht, der sich mit der Türkei verbunden fühlt (85 Prozent). Und auch das Christentum genießt unter den türkeistämmigen Befragten (wie übrigens auch in der Gesamtbevölkerung) einen außerordentlich guten Ruf.

Im Gegensatz zur grundsätzlichen Wertschätzung der deutschen Gesellschaft und des Christentums fallen allerdings die Haltungen gegenüber zwei Gruppen deutlich reservierter aus: Mehr als jeder vierte Türkeistämmige sagt von sich selbst, Menschen, die nicht an Gott glauben, negativ gegenüber zu stehen; ein weiteres Viertel kann sich hier nicht zu einer dezidierten Meinung durchringen beziehungsweise will sich hierzu nicht äußern. Das Phänomen, sich nicht äußern zu wollen beziehungsweise zu können, zeigt sich noch stärker in der Haltung zu Juden. In diesem Fall antworten 30 Prozent der Befragten mit "weiß nicht" beziehungsweise geben überhaupt keine Antwort. Der Anteil der negativ Eingestellten liegt hier bei 21 Prozent. Wie die recht hohe Zahl an don’t knows beziehungsweise Antwortverweigerungen zu interpretieren ist, kann hier nicht eindeutig geklärt werden. Eine zumindest latente Abwehrhaltung gegenüber den beiden zuletzt genannten Gruppen, die ein gewisses soziales Konfliktpotenzial bergen könnte, ist jedoch kaum zu übersehen.

Einstellungen zur Integration

70 Prozent der befragten Türkeistämmigen sagen, sie wollten sich unbedingt und ohne Abstriche in die deutsche Gesellschaft integrieren. In Bezug auf die Frage, was man konkret tun sollte, um in Deutschland gut integriert zu sein, werden am häufigsten Aspekte angeführt, die sich einerseits in der sozialwissenschaftlichen Integrationsforschung tatsächlich als relevant herausgestellt haben, andererseits aber auch mit dem normativen Leitbild der Mehrheitsgesellschaft übereinstimmen. Am häufigsten wird das Erlernen der deutschen Sprache genannt (91 Prozent). 84 Prozent der Befragten halten es zudem für wichtig, dass man die Gesetze in Deutschland beachtet; 76 Prozent erachten gute Kontakte zu Deutschen für unerlässlich. Allerdings wird Integration von der großen Mehrheit der Türkeistämmigen mitnichten im Sinne vollständiger Assimilation aufgefasst: So sagen 76 Prozent der Befragten, dass sie unter einer geglückten Integration auch verstehen, selbstbewusst zur eigenen Kultur beziehungsweise Herkunft zu stehen. Mehr von der deutschen Kultur zu übernehmen, wird dagegen als weit weniger bedeutsam angesehen (39 Prozent); ebenso wenig halten es die Befragten für erforderlich, dass man sich mit seiner Kleidung anpasst (33 Prozent) oder sich um die deutsche Staatsangehörigkeit bemüht (32 Prozent).

Wie bereits angedeutet, ist die Sprachkompetenz der Migrantinnen und Migranten nicht nur in deren eigener Einschätzung, sondern auch der sozialwissenschaftlichen Forschung zufolge ein zentraler Integrationsfaktor. Doch wovon hängt ab, wie gut die Zuwanderer die Sprache des Aufnahmelandes beherrschen, was steht dem Spracherwerb entgegen? In weiterführenden multivariaten Analysen mit den Daten der hier zugrundeliegenden Untersuchung hat sich zunächst einmal gezeigt, dass Türkeistämmige mit höheren Bildungsabschlüssen, aber auch diejenigen, die sich auf der sozialen Leiter höher einstufen, auch überdurchschnittlich häufig angeben, über gute bis sehr gute Sprachkenntnisse zu verfügen. Männer schätzen sich diesbezüglich ebenfalls etwas besser ein als Frauen. Während die Intensität der "privaten" Religiosität (gemessen anhand der religiösen Selbsteinschätzung) keinen Zusammenhang zu den Sprachkenntnissen aufweist, korreliert eine bestimmte Form der religiösen Praxis hingegen durchaus mit der kognitiven Integration, und zwar negativ: Diejenigen Befragten, die besonders häufig die Moschee besuchen, sind gleichzeitig diejenigen, die nur über unterdurchschnittliche Deutschkenntnisse verfügen. Dies lässt sich als Hinweis darauf lesen, dass es nicht die Religion per se ist, die der Integration entgegensteht, wohl aber eine ausgeprägte Ausrichtung der Lebensführung auf die eigene kulturell-religiöse Community.

Anders als Studien vorwiegend aus den USA, denen zufolge die Einbindung in die religiöse Gemeinschaft der Herkunftsregion Integration nicht behindert, sondern tendenziell sogar befördert, zeigt unsere Untersuchung, dass intrareligiöse Kontaktverdichtungen nicht mit einer Verbesserung der Integrationschancen zusammengehen müssen. Diesem Befund entspricht auch, dass einer der bedeutsamsten Einflussfaktoren auf den Spracherwerb die Häufigkeit von Kontakten zur deutschen Bevölkerung ist. Dieser Einfluss wird nur noch übertroffen durch die Bedeutung der Generationszugehörigkeit. Sind die Türkeistämmigen in Deutschland geboren oder bereits als Kind nach Deutschland gekommen, erhöht sich ihre Sprachkompetenz beträchtlich.

Gerade Letzteres sollte zuversichtlich stimmen, denn die Entwicklung in Sachen Integration wird vor allem davon abhängen, wie sich die Einbindung der nachwachsenden, hier geborenen Generationen gestaltet. Laut unserer Umfrage – und in Übereinstimmung mit anderen Studien – fällt der Anteil derjenigen mit (selbst bekundeten) guten beziehungsweise sehr guten Deutschkenntnissen in der zweiten und dritten Generation doppelt so hoch aus wie in der ersten Generation (94 versus 47 Prozent). Und auch andere Befunde unserer Untersuchung geben in diesem Zusammenhang Anlass zu Optimismus: So hat sich der Anteil derjenigen ohne Schulabschluss in der zweiten und dritten Generation im Vergleich zur ersten Generation mehr als halbiert (13 versus 40 Prozent), und während von den Befragten der ersten Generation nur etwa jeder zweite angibt, "sehr viel" Kontakt zu Menschen deutscher Herkunft zu haben, sagen das unter den Angehörigen der zweiten und dritten Generation drei Viertel der Befragten.

Eine Annäherung der zweiten und dritten Generation an die Mehrheitsgesellschaft lässt sich auch in bestimmten Wertvorstellungen wie etwa in Bezug auf die Familie und die Rolle der Frau beobachten: Dass es für alle Beteiligten viel besser ist, wenn der Mann im Berufsleben steht und die Frau zu Hause bleibt und sich um den Haushalt und die Kinder kümmert, meinen immerhin 48 Prozent der befragten Türkeistämmigen aus der ersten Generation; in der Gruppe der zweiten und dritten Generation sind es hingegen nur noch 31 Prozent (in Deutschland insgesamt stimmen 27 Prozent dieser Aussage zu). Dass die Berufstätigkeit der Mutter einem Kleinkind schadet, glauben 71 Prozent aus der ersten Generation; und auch dieses Statement erfährt in der zweiten Generation deutlich weniger Zustimmung (57 Prozent; Zustimmung in Deutschland insgesamt: 46 Prozent).

Zu konstatieren ist aber auch ein weiterer Befund: Selbst wenn die in Deutschland geborenen beziehungsweise als Kind nach Deutschland gekommenen Türkeistämmigen in vielerlei Hinsicht der Mehrheitsgesellschaft näherstehen als die im Erwachsenenalter Zugewanderten, handelt es sich bei Ersteren mitnichten um eine angepasste Generation. Der Aussage, dass sich die Muslime in Deutschland an die deutsche Kultur anpassen müssen, stimmen 72 Prozent der Befragten aus der ersten Generation zu, aber nur 52 Prozent der Befragten aus der zweiten und dritten Generation. Demgegenüber sind 86 Prozent der zweiten beziehungsweise dritten Generation der Ansicht, man soll selbstbewusst zu seiner eigenen Kultur beziehungsweise Herkunft stehen – gegenüber 67 Prozent der ersten Generation.

Fazit

Insgesamt möchte sich die Mehrheit der Türkeistämmigen nicht nur integrieren, sondern scheint in gewisser Weise in Deutschland durchaus "angekommen" zu sein und sich hier heimisch zu fühlen. Das gleichzeitige Bestreben, die eigene Kultur zu bewahren, steht für die Befragten dabei keinesfalls im Widerspruch zur Integrationsbereitschaft und sozialen Positionierung in der Gesellschaft. Auch geht diese Haltung bei der großen Mehrheit offenbar nicht mit dem Wunsch nach sozialer Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft einher.

Probleme und Differenzen nehmen die Türkeistämmigen ebenso wie die Mehrheitsgesellschaft zunehmend im religiös-kulturellen Feld wahr. Dabei spielen zweifellos auch Erfahrungen der persönlichen Diskriminierung eine Rolle; bedeutsamer noch aber erscheint das weitverbreitete Gefühl einer kollektiven kulturellen Abwertung. Im klaren Bewusstsein darüber, wie skeptisch bis ablehnend die Mehrheitsgesellschaft ihrer Religion gegenübersteht, scheinen sich viele Türkeistämmige genötigt zu fühlen, herauszustellen, dass diese Haltungen wenig mit dem von ihnen gelebten Islam beziehungsweise mit dem Islam überhaupt zu tun haben. Aus vielen Antworten lässt sich unschwer das Bestreben herauslesen, den Islam zu verteidigen, sich kulturell gegenüber den Vorbehalten der Mehrheitsbevölkerung zu behaupten und der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung unbegründete Ängste zu nehmen. Aus den Äußerungen spricht aber auch Unverständnis ob der größtenteils als pauschalisierend empfundenen Anschuldigungen. Das generell positive Verhältnis zu den Deutschen beziehungsweise zu Deutschland scheint dies alles bisher noch nicht ernsthaft zu beeinträchtigen. Deswegen sollten die Abstimmungsergebnisse im Hinblick auf das Verfassungsreferendum in der Türkei 2017 auch nicht vorschnell als Kehrtwende in der Beziehung der hier lebenden Türkeistämmigen zur deutschen Gesellschaft interpretiert werden.

Eines sollte aber auch klar sein: Selbst bei denjenigen, die in Deutschland geboren, aufgewachsen und hier zur Schule gegangen sind, die die deutsche Sprache beherrschen und über vielfältige Kontakte in die deutsche Gesellschaft hinein verfügen, ist nicht zu erwarten, dass sie sich in jeglicher Hinsicht anpassen und assimilieren. In gewisser Weise tragen sie ihre kulturelle und religiöse Identität sogar offensiver zur Schau als ihre Vorfahren. Das muss sich aber nicht zwangsläufig als Hemmnis für die Integration und das Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft erweisen. Hinderlich ist eine solche Konstellation nur, wenn die Strategien, sich mit der Herkunfts- und der Mehrheitskultur auseinanderzusetzen, einseitig auf Bewahrung ersterer ausgerichtet sind, in Rückzug und Abschottung münden und dadurch die Defizite in anderen Teilbereichen der Integration zementiert werden. Dies zu verhindern bedarf es des Willens und der Anstrengungen der Türkeistämmigen selbst, aber auch der Offenheit und des Verständnisses der Mehrheitsgesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach Ingo Salmen/Laura Hofmann, Türken stimmen klar für Erdogans Plan, 17.4.2017, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/19676552.html.

  2. Vgl. ebd.

  3. Eine Tendenz der "Kulturalisierung der Grenzziehungen zwischen Deutschen und 'Ausländern'" konstatierten Claudia Diehl und Ingrid Tucci schon 2010: Während gemäß ihrer Studie etwa fremdenfeindliche Einstellungen im Vergleich zu den 1990er Jahren stark zurückgegangen sind, haben Forderungen nach kultureller Anpassung ethnischer Minoritäten in der Mehrheitsgesellschaft deutlich zugenommen. Vgl. Claudia Diehl/Ingrid Tucci, Ethnische Grenzziehungen in Ost- und Westdeutschland: Konvergenz und Kulturalisierung, in: Peter Krause/Ilona Ostner (Hrsg.), Leben in Ost- und Westdeutschland. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010, Frankfurt/M. 2010, S. 557–572.

  4. Vgl. Thomas de Maizière, "Wir sind nicht Burka", in: Bild am Sonntag (BamS), 30.4.2017.

  5. Vgl. dazu ausführlich Detlef Pollack et al., Grenzen der Toleranz: Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa, Wiesbaden 2014.

  6. Die hier präsentierten Befunde stammen, soweit nicht ausdrücklich anders vermerkt, aus einer Umfrage, die im Rahmen eines Forschungsprojektes am Lehrstuhl für Religionssoziologie/Exzellenzcluster "Religion und Politik" an der Universität Münster unter der Leitung von Detlef Pollack und der Mitarbeit von Olaf Müller, Gergely Rosta und Anna Dieler konzipiert und ausgewertet wurde. Für die Erhebung befragte das Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid, Bielefeld, deutschlandweit 1201 Türkeistämmige ab 16 Jahren. Die Interviews wurden zwischen November 2015 und Februar 2016 telefonisch teils in deutscher, teils in türkischer Sprache durchgeführt.

  7. Vgl. etwa Martina Sauer/Dirk Halm/Stiftung Zentrum für Türkeistudien (Hrsg.), Erfolge und Defizite der Integration türkeistämmiger Einwanderer, Wiesbaden 2009.

  8. Damit ähneln die türkeistämmigen Befragten in ihren Einschätzungen im gesamtgesellschaftlichen Vergleich erstaunlicherweise der westdeutschen Bevölkerung; die Ostdeutschen fühlen sich deutlich mehr benachteiligt. Vgl. Detlef Pollack et al., Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt. Eine Bevölkerungsumfrage in fünf europäischen Ländern, Münster 2010, S. 93.

  9. Dass die Befragten dabei durchaus die eigene Herkunft aus der Türkei als Grund für die Benachteiligung im Blick haben, legen Daten nahe, die in den Umfragen "Deutsch-türkische Lebenswelten" erhoben wurden: Hier stimmten dem Statement "Deutsche und Türken haben in Deutschland die gleichen Bildungschancen" 2010 58 Prozent und zwei Jahre später 62 Prozent der Befragten mit türkischem Migrationshintergrund zu. Vgl. Info GmbH/Liljeberg Research International, Deutsch-Türkische Lebenswelten, Berlin 2012.

  10. In einer Befragung von 1998 stimmten dem Statement "Als Ostdeutscher fühle ich mich als Bürger 2. Klasse" 42 Prozent der Befragten in den neuen Bundesländern zu. Vgl. Gert Pickel, Jugend und Politikverdrossenheit, Opladen 2002, S. 221.

  11. So gaben im Religionsmonitor von 2013 89 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime an, dass ihnen Religion "sehr" oder "eher wichtig" ist. Damit unterscheiden sie sich nicht nur von der Gesamtbevölkerung (54 Prozent in West- und nur 27 Prozent in Ostdeutschland halten Religion für einen wichtigen Lebensbereich), sondern auch von den Anhängern der großen christlichen Konfessionen in Deutschland (Katholiken: 64 Prozent; Evangelische: 58 Prozent). Vgl. Detlef Pollack/Olaf Müller, Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Gütersloh 2013.

  12. Vgl. Pollack et al. (Anm. 8), S. 64.

  13. Wie jedoch Untersuchungen des Zentrums für Türkeistudien und Integration in Essen zeigen, scheint zumindest unter den türkeistämmigen Zuwanderern in Nordrhein-Westfalen die Verbundenheit mit der Türkei seit 2012 tendenziell zuzunehmen, während die Verbundenheit mit Deutschland stagniert bzw. sogar abnimmt. Vgl. Hacı-Halil Uslucan, Türkeistämmige in Deutschland: Heimatlos oder überall zuhause?, in: APuZ 11–12/2017, S. 31–37.

  14. Vgl. Pollack et al. (Anm. 8), S. 59ff.

  15. Vgl. Hartmut Esser, Integration und ethnische Schichtung, Arbeitsbericht Nr. 40 des Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Mannheim 2001.

  16. Vgl. Hartmut Esser, Sprache und Integration, Frankfurt/M. 2006, S. 52ff.

  17. Dies bestätigt sich, wenn man die Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft als abhängige Variable betrachtet: Auch hier erweist sich überdurchschnittlich häufiger Moscheebesuch auch bei Kontrolle soziodemografischer Variablen als Hemmfaktor.

  18. Vgl. Nancy Foner/Richard Alba, Immigrant Religion in the U.S. and Western Europe: Bridge or Barrier to Inclusion?, in: International Migration Review 2/2008, S. 360–392.

  19. Siehe auch die Ergebnisse von Sauer/Halm/Stiftung Zentrum für Türkeistudien (Anm. 7), S. 46.

  20. Zu den Vergleichszahlen für Deutschland insgesamt vgl. GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ALLBUS 2012, GESIS Datenarchiv, Köln 2013.

  21. In einer Umfrage des Bundesministeriums des Innern von 2007 lehnten mehr als 80 Prozent der Befragten die Aussage "Ausländer, die in Deutschland ihre Kultur behalten möchten, sollten unter sich bleiben" explizit ab. Vgl. Katrin Brettfeld/Peter Wetzels, Muslime in Deutschland, Hamburg 2007, S. 99.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Olaf Müller, Detlef Pollack für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierter Soziologe und arbeitet am Lehrstuhl für Religionssoziologie, Institut für Soziologie, und am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. E-Mail Link: omueller@uni-muenster.de

ist Professor für Religionssoziologie am Institut für Soziologie und Sprecher des Exzellenzclusters "Religion und Politik" der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. E-Mail Link: pollack@uni-muenster.de