Ereignisse erlangen nicht aus sich heraus Bedeutung, sondern erst, indem von ihnen erzählt wird. Dies gilt in besonderem Maße bei den sexuellen Übergriffen der Silvesternacht 2015/16 in Köln, Hamburg und anderen deutschen Städten. "Köln" markiert in diesen Erzählungen verschiedene Dinge: das angebliche Ende der "Willkommenskultur", die Notwendigkeit einer "ehrlichen" Debatte über den Islam oder auch einen "Schock". Das "Ereignis Köln", schreibt die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze, sei "scheinbar überfüllt von Bedeutungen", bleibe aber "in seinem Ereigniskern leer".
Silvester in den Medien
Die Gewalttaten der Silvesternacht werden in der Regel in Erzähl- und Erklärungsmuster eingebettet, die bereits vor den Übergriffen existierten. Die Einbettung gelingt deshalb so leicht, weil die Berichterstattung über die Ereignisse nicht der üblichen Methode folgte: An Silvester selbst waren keine Journalistinnen und Journalisten vor Ort. Die einzige Quelle war die verharmlosende Polizeimeldung vom Neujahrsmorgen mit dem Titel "Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich".
Das Vertrauen in die Äußerungen der Polizei war zu diesem Zeitpunkt bereits auf einem Tiefpunkt. "Bild" und "Spiegel Online" veröffentlichten am 7. Januar ein ihnen zugespieltes Gedächtnisprotokoll eines Bundespolizisten zur Lage vor dem Hauptbahnhof. Der Beamte berichtete von Böllerwürfen und massenhafter sexueller Belästigung durch "Asylbewerber". Unter anderem wollte er gesehen haben, wie Aufenthaltstitel "mit einem Grinsen im Gesicht und der Aussage: ‚Ihr könnt mir nix, hole mir Morgen einen Neuen‘" zerrissen worden seien.
Der "Kölner Stadt-Anzeiger" fügte ein entscheidendes Detail hinzu. Am Morgen des 8. Januar veröffentlichte er anonyme Stimmen aus dem Polizeiapparat, die behaupteten, tatverdächtige Geflüchtete aus Syrien, Irak und Afghanistan sollten aus politischen Gründen nicht im internen Polizeibericht auftauchen. Stattdessen stehe dort wider besseres Wissen die Formulierung "nordafrikanisch und arabisch aussehende Männer". Am Nachmittag des 8. Januar entließ NRW-Innenminister Ralf Jäger den Polizeipräsidenten Wolfgang Albers. Die Einschätzung des Polizeiberichts stellte sich jedoch als weitgehend korrekt heraus. Bis Anfang Dezember 2016 hatte die Staatsanwaltschaft Köln 333 Beschuldigte ermittelt. Davon waren 109 Asylsuchende, 53 hielten sich illegal in Deutschland auf, in 80 Fällen konnte der Aufenthaltsstatus nicht ermittelt werden, nur 44 Verdächtige besitzen einen legalen Aufenthaltsstatus als Nicht-EU-Bürger. Menschen aus Marokko und Algerien bilden die Mehrheit der Tatverdächtigen.
Journalistische Fehleinschätzungen von Fakten sind häufig durch die Tagesaktualität bedingt und nicht immer vermeidbar. Nach Silvester überformte das Narrativ "Politik und Polizei lügen, arabische Männer sind gefährlich" jedoch häufig die Wahrnehmung und damit auch die Themensetzung der Qualitätsmedien. Die Medienwissenschaftlerin Ricarda Drüeke arbeitete in einer Studie heraus, dass ARD und ZDF sich in ihrer Berichterstattung einseitig auf die als homogen wahrgenommenen Täter der Silvesternacht fokussierten und den gesamtgesellschaftlichen Rahmen sexueller Gewalt vernachlässigten.
CDU und FDP beantragten Mitte Januar 2016 im NRW-Landtag einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA), der im Frühjahr 2017 seinen Abschlussbericht vorlegen wird. Der PUA offenbarte einige Faktoren, die zum Verlauf der Silvesternacht beigetragen haben. Der Kriminologe Rudolf Egg etwa, der vom PUA mit einem Gutachten zur Silvestergewalt beauftragt wurde, widerlegte das Gerücht, die Übergriffe seien geplant gewesen.
Doppelter Exzess
Die Täter der Silvesternacht waren lange Zeit Phantome. Erst im Sommer veröffentlichte das "Zeitmagazin" eine großangelegte Recherche, für die ihre Reporter und Reporterinnen mit einigen Tätern und Tatverdächtigen sprachen.
Die sexualisierte Gewalt wurde bereits kurz nach der Silvesternacht in Begriffen beschrieben, deren Konnotationen weit über die bekannten Ereignisse hinausreichen. Bundesjustizminister Heiko Maas nannte die Vorgänge einen "Zivilisationsbruch", ein Begriff, der normalerweise für die Schoah Verwendung findet.
Mehrere Boulevardmedien und Illustrierte, darunter "Express", "Bild" und "Stern" nannten die Übergriffe eine "Schande" – ein Begriff, der Vorstellungen von Ehre oder (sexueller) Reinheit konnotiert. Semantisch näherten sie sich damit einem historischen Ereignis an: der "schwarzen Schmach" oder auch "schwarzen Schande". Dies war eine Kampagne des Kölner Bürgertums gegen die französische Besatzung des Rheinlands nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Kampagne konzentrierte sich darauf, dass auch Soldaten aus den französischen Kolonien (Nord-)Afrikas eingesetzt wurden: "Von der gezielten ‚Mulattisierung und Syphilisierung‘ und ‚Verseuchung des deutschen Volkes‘ war die Rede; die französischen Besatzer ließen ‚weiße Menschen in Treibjagden durch Senegalneger zusammenfangen‘, um der ‚bestialischen Wollust afrikanischer Wilder zu dienen‘ (…) Geradezu zwanghaft wurden Bilder bemüht, die blonde Frauen in der Gewalt schwarzer Männer zeigten; eine zu trauriger Berühmtheit gelangte Münze von Karl Goetz schmückte ein riesiger Penis mit französischem Stahlhelm, an den eine deutsche ‚Unschuld‘ gekettet war."
Die Analogie stößt jedoch an eine Grenze: Während der Kampagne gegen die "schwarze Schmach" wurden viele sexuelle Übergriffe erfunden, bei der Silvesternacht geht die Staatsanwaltschaft Köln bislang nur von einer bewussten Fehlanzeige aus. Auch eine vor dem PUA gemachte Aussage über eine Vergewaltigung mit anschließender Schwangerschaft ist gegenstandslos geblieben.
In den 1920er Jahren wie 2016 fokussierte sich die Debatte auf die Sexualität von Männern aus Nordafrika. Am plakativsten zeigte sich das in der von der "Bild"-Zeitung verwendeten Formulierung eines "Sex-Mobs" am Kölner Hauptbahnhof. Aber auch die Qualitätsmedien zeigten denselben Fokus. Mitte Januar wollte "Die Zeit" wissen: "Wer ist der arabische Mann?" Die Antwort fiel ambivalent aus. Ein Redakteur berichtete von seinen Erlebnissen als arabischstämmiger Mann mit weißer Hautfarbe und den Anti-Araber-Sprüchen Berliner Taxifahrer, ein anderer arabischstämmiger Autor machte sich auf die Suche nach Klischees unter Berliner Arabern und fand nur ironische Anekdoten. Vier männliche Geflüchtete – überwiegend aus Syrien – gaben bereitwillig Auskunft über ihr konservatives Geschlechterbild. Alle Interviewten lehnten Sex vor der Ehe ab, berichteten aber auch, dass Gewalt gegen Frauen für sie ebenso tabu sei.
Gabriele Dietze merkte zu dieser Berichterstattung an, dass die Autoren versucht hätten, "das Wissensobjekt ‚Arabischer Mann‘ in einer bestimmten autoritativen Version zu etablieren". Konstitutiv dafür sei, "am arabischen Mann den aufgeklärten westlichen Mann zu konstruieren".
Erklärungsformel
Die Täter werden über ihre Herkunft charakterisiert, ihre aktuellen Lebensumstände zwischen Kleinkriminalität und Flüchtlingsunterkunft nicht thematisiert. So werden die Gründe für die Übergriffe geografisch in die Herkunftsländer verschoben und kulturalisiert. Dies wird besonders deutlich in einem über soziale Netzwerke weitverbreiteten Text des ehemaligen ARD-Korrespondenten in Nordafrika, Samuel Schirmbeck, der sich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" unter der Überschrift "Sie hassen uns" zu Wort meldete. Schirmbeck berichtet von der Alltäglichkeit sexueller Übergriffe, denen Frauen, darunter seine ehemaligen Mitarbeiterinnen, in Nordafrika jeden Tag "hunderttausendfach" ausgesetzt seien. Verantwortlich dafür sei eine "islamische Grundeinteilung der Welt", die "den Übergriff auf ‚westliche‘, gleich ‚ungläubige‘ Frauen" ermögliche. Die Schizophrenie dieses "außer Rand und Band geratenen" Islams habe "sich diesmal vor dem Kölner Hauptbahnhof ausgetobt". Begünstigt worden sei dies durch die linksliberale Toleranz in Deutschland: "Das gesamte linke und linksliberale Spektrum baute (…) eifrig an einem Multikulti-Schutzprotektorat für das Kopftuch samt dahinter steckendem Frauenbild, den Hass auf den ‚Westen‘, die Verschonung des Islams vor jeder Kritik."
Die Formel "Köln = arabisch-islamistisches Frauenbild + linksliberale Toleranz" hatte auch Monate nach Silvester noch mediale Konjunktur: Am 11. Mai 2016 war Samuel Schirmbeck zu Gast in der Talkshow "Maischberger". Das Thema lautete "Mann, Muslim, Macho: Was hat das mit dem Islam zu tun?" Neben Schirmbeck war auch "Emma"-Chefredakteurin Alice Schwarzer eingeladen, in deren Deutung der Silvesternacht Schirmbecks Thesen einen Widerhall finden. In ihrem im Mai 2016 erschienenen Buch "Der Schock – Die Silvesternacht von Köln" behauptet sie, seit einem Vierteljahrhundert herrsche in Deutschland "eine Political Correctness – allen voran befeuert von Grünen und Protestanten –, die nicht wahrhaben will, dass es mit spezifischen Menschengruppen spezifische Probleme geben kann." Diese Haltung ersetze "den Fremdenhass ihrer Väter und Großväter (…) durch eine nicht minder blinde Fremdenliebe".
Schwarzers Haltung ist zum Teil einer publizistischen Strategie geschuldet. Sie und ihre Zeitschrift "Emma" stilisieren sich damit zur feministischen Pressestimme, die bereits lange vor den Übergriffen in der Silvesternacht vor den Gefahren islamistischer Misogynie warnte.
Auch in Köln haben feministische Initiativen, Institutionen und Einzelpersonen auf die Silvesternacht reagiert. Schon kurz danach gab es einige Demonstrationen, zum Internationalen Frauentag im März fand eine mit 3500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern besuchte Demonstration unter dem Motto "Reclaim Feminisim – unser Feminismus ist antirassistisch" statt. Die Initiative "agisra", die geflüchtete Frauen mit Migrationshintergrund betreut, erneuerte nach Silvester ihre Forderung, dass die Stadt Köln ein Wohnheim nur für geflüchtete Frauen einrichten solle. Schon seit Längerem ist angekündigt, ein Heim in der Kölner Südstadt umzuwidmen, bislang wurde dies nicht umgesetzt.
"Du bes Kölle, du bes super tolerant"
Die Kölner Stadtgesellschaft kämpfte nach Silvester zunächst um ihr Selbstbild als tolerante Stadt, das nach den Übergriffen nicht mehr selbstverständlich erschien. "Du bes Kölle, du bes super tolerant. Nimps jeden op d’r Ärm – un an de Hand", heißt es im Lied "Du bes Kölle" des ehemaligen Bläck-Fööss-Sängers Tommy Engel. Es wird immer dann angestimmt, wenn diese Toleranz infrage gestellt wird.
Die Silvesternacht stellte diese Eigenwahrnehmung vor ein Dilemma, denn die Kölner mussten zur Kenntnis nehmen, dass ihnen diese Toleranz auch negativ ausgelegt werden kann.
Dank der Mitarbeit der meisten Printmedien im Rheinland fand die "Kölner Erklärung" breite Resonanz. Lediglich Ekaterina Degot, die künstlerische Leiterin der Akademie der Künste der Welt, kritisierte den Text für die Stilisierung Kölns als tolerante Stadt. Dieser Lokalpatriotismus, so Degot, sei "nicht nur provinziell und in sich geschlossen, auf beleidigende Weise selbstherrlich und blind in dem Glauben an die eigene ‚Offenheit‘, sondern politisch gesehen problematisch, da er ‚uns‘ von ‚denen‘ abgrenzt". Die Kölner Botschaft bediene "sich im Wesentlichen eines ethnischen Rahmens zur Definition des anderen, wobei die Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ vor allem anhand jener rassischen Kriterien erfolgt, welche die öffentliche Meinung dominieren."
Schon früh war klar, dass Karneval 2016 zu einer Bewährungsprobe für Stadt und Polizei stilisiert werden würde. Bereits bei der ersten Pressekonferenz nach Silvester am 5. Januar hatte Oberbürgermeisterin Reker betont, wie wichtig es sei, "dass wir uns das Karnevalfeiern in Köln durch solche Vorfälle nicht nehmen lassen". Karneval ist zum einen das identitätsstiftende Volksfest, bei dem alleine zum Rosenmontagszug rund 1,5 Millionen Zuschauer kommen, darunter viele Touristen. Zum anderen ist er ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Mehr als 2000 Polizistinnen und Polizisten waren 2016 an Karneval im Einsatz, und anders als in den Vorjahren führte die Polizei Sexualstraftaten gesondert in ihrer Pressemitteilung auf. An den Karnevalstagen kam es zu 66 Anzeigen wegen Sexualdelikten, darunter ein Übergriff auf eine Reporterin vor laufender Kamera. Die Polizei führte dies auf das gesteigerte Anzeigeverhalten zurück. Zur Sessionseröffnung am 11. November 2016 fehlten Angaben über Sexualdelikte wieder.
Law and Order op Kölsch
Nicht nur über die Sicherheitslage während des Karnevals wurde kurz nach den Übergriffen diskutiert, auch der öffentliche Raum rund um den Kölner Dom rückte ins Zentrum der Debatte. Am 8. Januar ließ der "Express" unter der Überschrift "Räumt hier endlich auf" fünf verschiedene Kölner – allesamt männlich – zu Wort kommen, die rund um den Kölner Dom arbeiten.
Politik und Verwaltung griffen seinen Vorschlag auf, wenn auch verzögert: Im Oktober wurden die Pläne der Stadt Köln für eine Neufassung der Stadtordnung bekannt, die das Verhalten im öffentlichen Raum reguliert. Zu den Vorschlägen gehörte eine Schutzzone um den Dom, in der organisiertes Betteln und Straßenmusik verboten sind. Am 12. Dezember 2016 verabschiedeten die Gremien die neue Stadtordnung. Straßenmusik bleibt zwar erlaubt, unterliegt aber strengeren Auflagen. Die Regelungen für das Betteln wurden stadtweit verschärft. In der Kölner Politik wurde die Neufassung vor allem mit Rückgriff auf die Silvesternacht diskutiert, obwohl bei den Übergriffen weder Bettler noch Straßenmusikanten eine Rolle gespielt hatten.
Behrendes konstatierte einen Rückgang der Gewalt- und Straßenkriminalität und zitierte eine Studie des Bundeskriminalamtes, derzufolge die Fallzahlen von Kriminalität durch Zuwanderer ebenfalls gesunken sei.
Exemplarisch zeigt sich das auch im bislang letzten Kapitel: der Umgang der Stadt mit der Silvesternacht 2016/17. Schon früh hatte die Stadt Köln angekündigt, eine eigene Veranstaltung ausrichten zu wollen. Ein Konzert auf der Domplatte wurde aufgrund von Ordnungs- und Sicherheitsbedenken verworfen, sodass sich die Stadt letztlich für eine Videoinstallation entschied. Mit dem Lichtkunst-Projekt "Time Drifts Cologne" des Künstlers Philipp Geist wird das Domumfeld mit Begriffen und anderen Projektionen erleuchtet, um Köln so ins Bild zu setzen, wie es sich selber sieht: "als traditionsreiche Kulturmetropole, lebendig, vielfältig, modern und dabei vor allem sicher und zivilisiert".
Kontinuität statt Einschnitt
Die Formulierung "nach Köln" ist zum geflügelten Wort geworden. Sie deutet eine Zäsur an, aber es wird den Deutungsversuchen der Silvesternacht nicht immer gerecht. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte auf einer Diskussionsveranstaltung in Köln im Oktober 2016, die Silvesternacht sei "vielleicht ein Wendepunkt in der Debatte um Flüchtlinge in Deutschland".
Doch egal, ob es die Asylgesetzgebung des Bundes, die Repräsentation der Täter im öffentlichen Diskurs oder die selbstbescheinigte Toleranz der Kölner Stadtgesellschaft betrifft: Die Debatte ist davon gekennzeichnet, dass die Silvesterübergriffe in bereits bestehende kulturelle Interpretationsmuster oder politische Initiativen überführt werden, die ihren Anfang vor Silvester genommen haben. Eine Ausnahme stellt die Reform des Sexualstrafrechts dar, die vor den Silvesterübergriffen in der Berliner Bürokratie auf ihre Umsetzung wartete und mit der erstmals der Grundsatz "Nein heißt Nein" im Sexualstrafrecht verankert wird. Damit ist jedoch nicht notwendigerweise auch eine Zäsur im Alltag verbunden. Die Stadt Köln tut sich weiterhin schwer damit, geflüchteten Frauen, die laut Gesetz als schutzbedürftig gelten, den nötigen eigenen Schutzraum zuzugestehen. Und eine Studie der EU vom November 2016 hat ergeben, dass 27 Prozent der Deutschen denken, dass "Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann".