Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Reformierbare | Reformation | bpb.de

Reformation Editorial Was geht mich das an? Arbeitsthesen für eine überfällige Kritik des Reformationsjubiläums Von den 95 Thesen zum Augsburger Religionsfrieden. Meilensteine der Reformation Kleine Historiografiegeschichte der Reformation Reformationsjubiläen und Lutherbilder Die Reformierbare. Von den vielfältigen Optionen der katholischen Kirche "Islamische Reformation". Ein moderner religionskultureller Diskurs Herausforderung religiöse Vielfalt

Die Reformierbare Von den vielfältigen Optionen der katholischen Kirche

Hubert Wolf

/ 16 Minuten zu lesen

Während die Reformatoren der Menschheit den Weg in die Moderne bahnten, verharrte die katholische Kirche im Mittelalter – so lautet das Klischee. Die historischen Fakten widerlegen diese Erzählung und zeigen mögliche Wege für die Zukunft auf.

"Wir wissen, dass es an diesem Heiligen Stuhl schon seit einigen Jahren viele gräuliche Missbräuche in geistlichen Dingen und Exzesse gegen die göttlichen Gebote gegeben hat, ja, dass eigentlich alles pervertiert worden ist. So ist es kein Wunder, wenn sich die Krankheit vom Haupt auf die Glieder, das heißt von den Päpsten auf die unteren Kirchenführer ausgebreitet hat. Wir alle (…) sind abgewichen, ein jeder sah nur auf seinen eigenen Weg, und da ist schon lange keiner mehr, der Gutes tut, auch nicht einer." Diese Worte stammen nicht von einem zeitgenössischen Kritiker der katholischen Kirche, sondern von Papst Hadrian VI. im Jahr 1523. Keine zwei Jahre zuvor hatte Martin Luther sich auf dem Wormser Reichstag geweigert, seine Thesen zu widerrufen, woraufhin die Reichsacht über ihn verhängt wurde – ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Kirchenspaltung.

Hadrian VI. versuchte, der Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er die vielfältigen Missstände beim Namen nannte, seiner Kirche überfällige Reformen verordnete und versprach, "dass Wir jede Anstrengung unternehmen werden, dass als erstes diese Kurie, von der das ganze Übel ausgegangen ist, reformiert wird, damit sie in gleicher Weise, wie sie zum Verderben der Untergebenen Anlass geboten hat, nun auch ihre Genesung und Reform bewirkt. Dazu fühlen Wir Uns umso mehr verpflichtet, als Wir sehen, dass die ganze Welt eine solche Reform sehnlichst begehrt." Doch Hadrian VI. starb bereits im September 1523, und sein radikales Programm wurde nie umgesetzt.

Mythos Reformunfähigkeit

Das bedeutete aber nicht das Ende aller Reformen in der katholischen Kirche. Vor allem das Konzil von Trient von 1545 bis 1563 stieß einen grundlegenden Wandel an. Doch die protestantisch dominierte Kirchengeschichtsschreibung beschrieb die Veränderungen der katholischen Kirche im 15. und 16. Jahrhundert lange Zeit als bloße Gegenreformation. Sie entwickelte das eingängige Schema formatio – de-formatio – re-formatio: Von Jesus bis zur Konstantinischen Wende im Jahr 313 habe sich das Idealbild von Kirche formiert. 380 wurde das Christentum zur Staatsreligion, und die Kirche wurde mächtig und reich. Damit begann das Zeitalter ihrer Zerstörung, das in der pervertierten Papstkirche der Renaissance mit ihrem überzogenen Primatsanspruch sowie ihrem sittlichen und religiösen Verfall gipfelte. Dann kam Luther und stellte die Reinheit der ursprünglichen Kirche wieder her, durch seine re-formatio überwand er die de-formatio des zur Papstkirche gewordenen Christentums. Damit, so die protestantische Meistererzählung, reformierte er nicht nur die Religion, sondern ebnete auch dem neuzeitlichen Individualismus und Rationalismus den Weg, kurz: der Moderne.

"Der protestantische Fromme ist aus der Vormundschaft der kirchlichen Institution entlassen", schreibt etwa der Theologe Friedrich Wilhelm Graf und attestiert dem Protestantismus "einen dezidiert emanzipatorischen Gehalt, auch durch entschieden antikatholische Abgrenzung vom Hierarchieprinzip und Autoritätskult der römisch-katholischen Kirche". Und weiter: "Protestanten waren nicht nur die Meisterdenker der deutschen Philosophie (…), Protestanten prägten entscheidend auch den klassischen nationalen Literaturkanon der Deutschen."

Und die katholische Kirche? Sie verharrte einem bedeutenden Teil der protestantischen Geschichtsschreibung zufolge im finsteren Mittelalter. "Reform" und "Reformation" klingen nach Aufbruch in die Zukunft, nach aktivem Handeln. "Gegenreformation" bezeichnet ein bloßes Reagieren, eine rückwärtsgewandte, mitunter gewalttätige Verteidigung. Während sich der Protestantismus zu neuen Ufern aufmachte, erfand die katholische Kirche die Römische Inquisition und den Index der verbotenen Bücher. Der Katholizismus der folgenden Jahrhunderte galt immer mehr als bildungsfeindlich, reformunfähig und letztlich zum Untergang verdammt. Diesen Mythos, an den auch Katholiken irgendwann selbst zu glauben drohten, gilt es zu entlarven.

Aufbrüche und Rückschläge

Fakt ist, dass die katholische Geschichtsschreibung gerade im Mittelalter keine Deformation, sondern eine Blütezeit der Kirche sah. Diese sei durch den "falschen Reformator" Luther zerstört worden. Das Wort reformatio, das im Lateinischen sowohl für "Reform" als auch für "Reformation" steht, klang daher stets gefährlich nach Kirchenspaltung; wer es als Katholik verwendete, wurde rasch als "Kryptoprotestant" verdächtigt. Es dauerte lange, bis der Begriff auch unter Katholiken wieder salonfähig wurde und die Gleichsetzung von Reform und Reformation aufhörte. Erst in der Moderne wurde es möglich, die Neuformierung des Katholizismus als "katholische Reform" zu bezeichnen. Jetzt entdeckte man zahlreiche Reformbewegungen, die unabhängig von Luther entstanden waren: die Reform-Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), gescheiterte Reformversuche der Kurie im 15. Jahrhundert, die Hochschätzung der Heiligen Schrift im katholischen Humanismus und im italienischen evangelismo und nicht zuletzt Reformen "von unten", in Orden und neuen Frömmigkeitsbewegungen im Spätmittelalter. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ermöglicht der Begriff "Konfessionalisierung", unvoreingenommen Veränderungen in den Blick zu nehmen, die sich im 16. und 17. Jahrhundert sowohl in protestantischen als auch in katholischen Territorien vollzogen.

Unbestreitbar ist aber auch, dass sich die Päpste nach Französischer Revolution und Säkularisation, der Enteignung kirchlicher Besitztümer 1803, einem kompromisslosen Abwehrkampf gegen die Moderne verschrieben. Pius IX. verurteilte 1864 im "Syllabus errorum" Gewissens-, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit als "Wahnwitz". Diese Linie lässt sich weit ins 20. Jahrhundert hinein ziehen. Unterstützt wurden die Päpste dabei vom Ultramontanismus, einer ultra montes, über die Alpen hinweg, ganz an Rom ausgerichteten Strömung im Katholizismus, die massenhaft Anhänger fand. Als der Papst seine weltliche Macht über den Kirchenstaat verlor, sprach 1869/70 das Erste Vatikanische Konzil dem Stellvertreter Christi neben dem Universellen Jurisdiktionsprimat – der Papst konnte nun in örtliche kirchliche Belange nach Belieben "hineinregieren" – auch die Unfehlbarkeit in lehramtlichen Entscheidungen zu. Ist seitdem alles, was die Päpste jemals verkündet haben, der Reform entzogen? Ist die katholische Kirche endgültig nicht mehr reformierbar?

Das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965 hat gezeigt, dass dem nicht so ist: So heißt es in der dort formulierten Kirchenkonstitution "Gaudium et Spes", das Evangelium verkünde "die Freiheit der Kinder Gottes" und respektiere "sorgfältig die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung"; und die Erklärung "Dignitatis humanae" ist ein klares Bekenntnis zur Religionsfreiheit. In dieser Hinsicht hat sich die Lehre der katholischen Kirche nicht nur entwickelt, sondern wurde "am entscheidenden Punkte korrigiert". Eine ähnliche Wende gab es auch im Verhältnis zu den Juden. Als Reformer tat sich auf dem Konzil besonders Julius Kardinal Döpfner hervor, der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Er bezeichnete die Reform als "Wesenselement" der katholischen Kirche. Ecclesia semper reformanda (die Kirche als immer neu zu reformierende) lautete jetzt das von Protestanten übernommene Prinzip. Überspitzt gesagt: Wenn sich die katholische Kirche der notwendigen Reform verweigert, ist sie nicht mehr katholisch.

Die Aufbruchstimmung des Konzils ist jedoch verflogen. Das lange Pontifikat Johannes Pauls II. von 1978 bis 2005 führte zu einem allgemeinen Reformstau. Bei allen, die für Neuerungen offen waren, keimte erst neue Hoffnung auf, als 2013 Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt wurde und nachdrücklich Reformen anmahnte. Beim Weihnachtsempfang für seine engsten Mitarbeiter am 22. Dezember 2014 sagte er, die Kurie sei "Krankheiten, Funktionsstörungen und Gebrechen ausgesetzt", die von "geistlichem Alzheimer" und "existenzieller Schizophrenie" über kalten Bürokratismus und Scheinheiligkeit bis zu Gier nach Macht und weltlichem Besitz reichten. Eine derartige Fundamentalkritik eines Papstes an seiner Kurie ist – von Hadrian VI. abgesehen – ohne Parallele. Unbestreitbar ist seitdem: Die Ursachen für die Missstände sind nicht vorrangig in den Fehlern einzelner Personen zu suchen. Sie liegen tiefer. Es geht um eine grundlegende Reform der Ämter und Strukturen in der katholischen Kirche.

Optionen aus der Tradition

Aber wie kann ein solches Vorhaben heute gelingen, ohne eine neue Kirchenspaltung zu provozieren? Wer Reform im ursprünglichen Wortsinn als Rück-Formung zu in der Geschichte bewährten Verwirklichungen des Katholischen versteht, für den liegen in der Tradition der Kirche zahlreiche vergessene Optionen bereit, die – kreativ angewendet – das Gesicht der Kirche nachdrücklich verändern könnten, ohne dadurch ihre Katholizität infrage zu stellen. Denn die Kirche war nie ein monolithischer Block, vielmehr haben immer wieder unterschiedliche Katholizismen miteinander um die ideale Verwirklichung gerungen. Die Kirche in ihrer äußeren Gestalt ist und war zudem einem ständigen Wandel unterworfen. Ihre Ämter und Institutionen haben sich im Laufe der Zeit entwickelt, ebenso die katholische Lehre. Was ist also zu tun, um die Kurienkrankheiten zu bekämpfen, die Bergoglio beziehungsweise Franziskus so drastisch beschrieben hat?

Wider die Einsamkeit des Papstes

Wenn die Krankheiten "der schlechten Koordination", "des Geredes, des Gemunkels und des Tratsches" sowie "der geschlossenen Zirkel" grassieren, fehlt es an übergreifenden Gremien des Austauschs und an Zugang zu den entscheidenden Stellen. Ein erschreckendes Indiz dafür stellt die sogenannte Williamson-Affäre dar: Im Januar 2009 ließ Benedikt XVI. vier Bischöfe der traditionalistischen Priesterbruderschaft Sankt Pius X. wieder in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche aufnehmen, darunter Richard Williamson, der den Holocaust geleugnet hatte. Benedikt XVI. behauptete, von Williamsons antisemitischen Äußerungen nichts gewusst zu haben. Dabei hatte der Päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen, in dessen Zuständigkeit das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum fällt, ein umfassendes Dossier angelegt. Diese Informationen erreichten den Papst aber nicht, allem Anschein nach, weil er seine Pläne innerhalb der Kurie nicht kommuniziert hatte. Benedikt XVI. traf eine einsame Entscheidung auf Basis eines unzureichenden Informationsstandes. Es spricht vieles dafür, dass es sich dabei nicht um einen Einzelfall handelt. Auch Benedikts Regensburger Rede vom 12. September 2006, die bei Muslimen heftige Empörung hervorrief, war offenbar von niemandem vorher kritisch gegengelesen worden.

Diese einsame Stellung des Papstes ist ganz und gar nicht selbstverständlich. So wurde dem Papst im 11. Jahrhundert das Kollegium der Kardinäle an die Seite gestellt, eine Art ständiger Senat, der ihn in allen wichtigen Fragen beraten und kontrollieren sollte. Jahrhundertelang trafen sich alle in Rom anwesenden Kardinäle regelmäßig mit dem Papst, der über anstehende Entscheidungen berichten und sämtliche Kardinäle um ihre Meinung bitten musste. Dieses als "Konsistorium" bezeichnete Gremium wurde aber nach und nach entmachtet. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert war es kaum mehr als eine Bühne, auf der die Päpste ihre souveränen Entscheidungen inszenierten. Gleichzeitig gewannen aber die ständigen Kongregationen der Kardinäle an Gewicht, die man wie etwa die Römische Inquisition als oberste Glaubensbehörde und die Konzilskongregation für die authentische Interpretation der Beschlüsse des Konzils von Trient durchaus als Vorläufer der heutigen Ministerien ansehen kann. Allerdings fehlte ein Kabinett. Eine Kommunikation zwischen den verschiedenen "Ministern" fand kaum statt, der Papst, der die Präfekten in Privataudienzen empfing, sollte als einziger den Überblick über das Gesamtgefüge behalten und war überfordert.

Papst Pius VII. errichtete daher 1814 die Kongregation für die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten, die als päpstlicher Sicherheitsrat für alle politisch wichtigen Fragen zuständig sein sollte. Diesem Gremium gehörten einflussreiche Kurienkardinäle an, die meistens auch in anderen wichtigen Kongregationen führende Ämter innehatten. Doch Papst Pius XI., von 1922 bis 1939 im Amt, brach radikal mit dieser Tradition und berief so gut wie keine Sitzung mehr ein. Diese Kongregation befasste sich weder mit dem Reichskonkordat 1933 noch mit der päpstlichen Verurteilung von Nationalsozialismus und Kommunismus 1937. Der Papst entschied jetzt allein.

Mehr Verantwortung für die Teilkirchen

Reformoptionen hält die Kirchengeschichte auch für die heikle Frage nach dem Verhältnis von Gesamt- und Teilkirchen bereit. Es liegt nahe, ein Prinzip umzusetzen, das die katholische Kirche quasi erfunden hat: das Subsidiaritätsprinzip. Die katholische Soziallehre sieht den Einzelnen in eine gestufte Gemeinschaft eingebettet, in der Subsidiarität bedeutet: so viel Eigeninitiative und Problemlösung durch den Einzelnen wie irgend möglich und so viel Hilfe der nächsthöheren Ebene wie unbedingt notwendig. Die obere Ebene gewährt nur Hilfe zur Selbsthilfe. Dieses Prinzip, für dessen Definition die Enzyklika Pius’ XI. "Quadragesimo anno" von 1931 maßgeblich ist, hat die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards ebenso geprägt wie den Föderalismus in der Bundesrepublik.

"Wahrhaft lichtvolle Worte! Sie gelten für alle Stufen des gesellschaftlichen Lebens. Sie gelten auch für das Leben der Kirche, unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur", lobte Pius XII. am 20. Februar 1946 die entsprechenden Ausführungen seines Vorgängers. Untergründig bestimmte das Subsidiaritätsprinzip auch die Kirchenlehre des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965. Mit Blick auf die Teilkirchen hieß es etwa, die katholische Kirche bestehe "in ihnen und aus ihnen".

Doch seit dem Amtsantritt Johannes Pauls II. war die innerkirchliche Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips geradezu tabuisiert. Kurz vor Erscheinen des neuen "Codex Iuris Canonici" strichen Johannes Paul II. und seine Mitarbeiter alle Bestimmungen, die das Subsidiaritätsprinzip im Kirchenrecht verankert hätten. Stattdessen verfestigte sich ein zentralistischer und autokratischer Führungsstil.

Erst Franziskus hat das Subsidiaritätsprinzip wiederentdeckt. Er will den Ortskirchen mehr Freiheiten einräumen, anstehende Probleme selbstständig zu lösen. Die Römische Kurie könnte dann verkleinert werden. Papst Franziskus betont: "Die römischen Dikasterien (Kongregationen, Räte und die anderen Ämter) stehen im Dienst des Papstes und der Bischöfe. Sie müssen den Ortskirchen helfen oder den Bischofskonferenzen. Es sind Einrichtungen des Dienstes." In seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" sprach er den Bischofskonferenzen sogar eine "gewisse authentische Lehrautorität" zu.

Das Prinzip der Subsidiarität, das sich in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik bewährt hat, könnte also endlich auch dort Anwendung finden, wo es konzipiert wurde: in der katholischen Kirche. Dann könnten Fragen wie die Auswahl geeigneter Bischofskandidaten, der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen, die Gemeindeleitung durch Laien, die Predigterlaubnis für Laientheologen oder die Form ökumenischer Gottesdienste dort entschieden und gelöst werden, wo sie entstehen.

Besetzung der Bischofsstühle

Reformbedürftig erscheint auch das Verfahren zur Besetzung der Bischofsstühle. Die Gläubigen fühlen sich dabei übergangen, denn das geltende Kirchenrecht lässt keinerlei Zweifel aufkommen: "Der Papst ernennt die Bischöfe frei." Die Ergänzung "oder bestätigt die rechtmäßig Gewählten" bezieht sich auf Deutschland, Österreich und die Schweiz. Dort existieren besondere Regelungen, die auf Vereinbarungen des Heiligen Stuhls mit den betreffenden Staaten beruhen, den Konkordaten. Das Wahlrecht der Domkapitel ist aber so weit eingeschränkt, dass die letzte Entscheidung auch in diesen Fällen beim Papst liegt. Dabei wird der Anschein erweckt, dass die freie päpstliche Ernennung der Bischöfe dem althergebrachten Recht entspricht. Doch das stimmt nicht. Das päpstliche Ernennungsrecht konnte Rom erst im Laufe des 20. Jahrhunderts durchsetzen.

So kam in der Kirche der ersten vier Jahrhunderte der Gemeinde bei der Bischofswahl die entscheidende Rolle zu. Später gewannen der lokale Klerus, aber auch Kaiser und Könige großen Einfluss. Dem gemeinen Kirchenvolk blieb aber die Akklamation, der zustimmende Beifall. Jubelte das Volk nicht, wenn ihm der Neugewählte präsentiert wurde, galt die Wahl als ungültig. Im Mittelalter versuchten die Päpste, einen entscheidenden Einfluss auf die Besetzung der Bischofsstühle zu erlangen. 1448 kam es schließlich im Wiener Konkordat für das Alte Reich zu einer Lösung, die bis 1803 in Kraft blieb: Die Päpste mussten auf ihr Ernennungsrecht grundsätzlich verzichten und die freie Bischofswahl durch die Domkapitel akzeptieren.

Mächtige Frauen

Dringenden Reformbedarf gibt es auch mit Blick auf die Rolle der Frau in der katholischen Kirche. Dass selbst in der Bibel eine Diakonin bezeugt ist, ist allgemein bekannt (Röm 16,1). Erwähnenswert ist aber auch, dass es jahrhundertelang Äbtissinnen gab, deren Stellung fast der eines Bischofs gleichkam, etwa in Essen, Gandersheim, Quedlinburg, Thorn oder Regensburg. Sie errichteten Pfarreien, wachten über die Seelsorge und vergaben kirchliche Stellen und Pfründen. Äbtissinnen erteilten Dispensen, also "Ausnahmegenehmigungen", etwa wenn Blutsverwandte heiraten wollten, und unterschrieben Urteile bei der Annullierung von Ehen. Einige Äbtissinnen nahmen sogar liturgische Handlungen vor. So nahmen sie ihren Schwestern die Beichte ab, verkündeten das Evangelium in der Messe und legten es in der Predigt aus.

Viele Passagen im alten Ritus der Äbtissinnenweihe erinnerten denn auch an die Bischofsweihe. Über den Charakter der Äbtissinnenweihe wird jedoch in der Forschung heftig diskutiert: Stellte sie eine kleine Bischofs-, eine Diakonats- oder eine ganz eigene Weihestufe dar? Oder handelte es sich doch nur um eine nichtsakramentale benedictio, also eine Einsegnung? Ausgerechnet nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde hier Klarheit geschaffen: Im neuen Ritus von 1970 wurden alle an die Bischofsweihe gemahnenden Passagen gestrichen und der ganze Akt auf "einen nichtsakramentalen Akt" reduziert.

Möglichkeiten für Frauen ergeben sich aber aus der Tatsache, dass Nichtgeweihte mehr als tausend Jahre lang jurisdiktionelle Vollmachten in der Kirche ausüben konnten. In der Reichskirche waren hochadelige nichtgeweihte Bischöfe, die alle sakramentalen Handlungen an ihre Weihbischöfe delegierten, gang und gäbe. Mit Blick auf anstehende Reformen böte das zahlreiche Möglichkeiten, wichtige Ämter mit den dafür am besten qualifizierten Personen zu besetzen, unabhängig von ihrem Weihegrad. Doch diese Optionen hat das Zweite Vatikanische Konzil weitgehend unmöglich gemacht. Denn die Konzilsväter machten alle Jurisdiktionsgewalt von der Weihe abhängig, die potestas ordinis wurde zur Voraussetzung für die potestas iurisdictionis. Damit können keine Nichtgeweihten mehr Leitungsfunktionen ausüben.

Aber dieser Schritt ist reformierbar, und dann sind Frauen auch in kirchlichen Führungspositionen grundsätzlich denkbar. Um die Vatikanbank, die Vatikanische Bibliothek oder das Vatikanische Geheimarchiv zu leiten oder den Vatikanstaat zu verwalten, sind keine sakramentalen Kompetenzen notwendig, sondern Professionalität. Und diese wird nicht durch die Weihe übertragen.

Keine Verfälschung des Konzils von Trient

Um eine Reformidee der besonderen Art geht es beim "tridentinischen Katholizismus", der auf das Konzil von Trient im 16. Jahrhundert zurückgeführt wird. Diese Option des Katholizismus verfechten fundamentalistische und traditionalistische Kreise wie die Pius-Bruderschaft. In deren Augen handelt es sich bei der tridentinischen Form des Katholischen um die einzig legitime Realisation der katholischen Kirche. Alle anderen Kirchenkonzepte betrachten sie als modernistisch und unkatholisch.

Sie argumentieren in der Regel folgendermaßen: Das heilige Konzil von Trient habe die Ewigkeitsform des wahren Katholizismus gegen die protestantische Häresie verteidigt. Dann aber sei es zum Sündenfall gekommen. Nicht die Protestanten, sondern der Papst und die Bischöfe selbst hätten den tridentinischen Katholizismus auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zerstört. Mit dem Modernismus sei die "Pest" des Pluralismus und Kryptoprotestantismus in die katholische Kirche selbst eingedrungen. Die Traditionalisten lehnen beispielsweise die Anerkennung der Religionsfreiheit und die ausdrückliche Wertschätzung des Judentums entschieden ab. Offen sichtbar wird ihre Opposition aber am Widerstand gegen die Liturgiereform, sie halten an der tridentinischen Messe fest, dem "Ritual von Ewigkeit her".

Diese Sicht hält einer historischen Überprüfung nicht stand. So ist etwa die Rede von der "tridentinischen Messe" von zahlreichen Mythen geprägt: Es handelt sich dabei nicht um einen von den Konzilsvätern selbst gebilligten tridentinischen Ritus, sondern um den in Rom praktizierten Messritus, der schließlich für die ganze katholische Welt verbindlich vorgeschrieben wurde. Und alle lokalen liturgischen Traditionen, die mindestens 200 Jahre zurückreichten, blieben neben der tridentinischen Messe ausdrücklich weiter bestehen. Erst im 19. Jahrhundert wurden diese unterdrückt, mit dem Hinweis auf eine angebliche Einheitsvorschrift von Trient. Den Konzilsvätern wurde eine Absicht untergeschoben, die sie nicht verfolgt hatten.

Auch das umfassende Primat des Papstes, wie es das Erste Vatikanische Konzil festschrieb, lässt sich nicht auf das Konzil von Trient zurückführen. Die Mehrheit der Unfehlbarkeitsbefürworter berief sich, anders als die Minderheit ihrer Gegner, so gut wie nie auf Trient. Tatsächlich rangen in Trient Vertreter ganz unterschiedlicher Modelle von Kirche miteinander, das Konzil drohte im Frühjahr 1563 wegen dieser Streitigkeiten auseinanderzufallen. Deshalb verzichteten die Konzilsväter darauf, das Verhältnis zwischen Konzil und Papst sowie von Primat und Episkopat genauer zu bestimmen. Sie vertraten ein weites Konzept von Kirche, in dem einander widersprechende Ansichten Platz fanden. Zugespitzt könnte man deswegen formulieren: Wer heute durch und durch "tridentinisch" sein möchte, müsste eigentlich das Jurisdiktionsprimat und das Unfehlbarkeitsdogma ablehnen.

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der sogenannte tridentinische Einheitskatholizismus als Ammenmärchen: Das Konzil von Trient des 16. Jahrhunderts wurde im 19. und 20. Jahrhundert instrumentalisiert, um bestimmte Interessen durchzusetzen. "Entscheidend war nicht das ‚wirkliche‘ Konzil von Trient, sondern das ‚erfundene‘." Die "tridentinische" Intoleranz des 19. Jahrhunderts lässt sich jedenfalls mit dem historischen Konzil nicht begründen. Vielmehr war dieses ein Katalysator für Modernisierung und Reform in der katholischen Kirche. Insofern verläuft, anders als die Traditionalisten behaupten, eine direkte Linie vom Konzil von Trient zum Zweiten Vatikanischen Konzil – es ist das Erste Vatikanische Konzil, das aus der Reihe fällt.

Entspannung der Nickmuskulatur

Die katholische Kirche ist reformierbar, und sie kann dazu aus der Vielfalt ihrer Tradition schöpfen. Jede Katholikin und jeder Katholik kann einen Beitrag leisten. Denn, wie es der Journalist Leo Waltermann vor 50 Jahren, am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, ausdrückte: "Nicht wer schweigt und hört, nickt und tut, was Hierarchie und Obrigkeit sagen, sondern wer denkt und hört und weiß, was er tut, wer das in Verantwortung tut und weiß, warum er es tut, könnte das sein, was man fürderhin einen guten Katholiken nennen mag."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach Heiko A. Obermann, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen Bd. 3: Die Kirche im Zeitalter der Reformation, Neukirchen–Vluyn 1988, S. 92ff. Vgl. zum Thema Hubert Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte, München 2015.

  2. Friedrich Wilhelm Graf, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart, München 2006, S. 72, S. 14, S. 9.

  3. Vgl. Hubert Jedin, Katholische Reformation oder Gegenreformation?, Luzern 1946.

  4. Vgl. Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550–1850, 2 Bde., Paderborn 2015.

  5. Die Encyclica seiner Heiligkeit des Papstes Pius IX. vom 8. Dezember 1864, der Syllabus (die Zusammenstellung der 80 hauptsächlichsten Irrthümer unserer Zeit) und die wichtigsten darin angeführten Aktenstücke, Köln 18743, S. 55–78, hier S. 62f.

  6. Zit. nach Karl Rahner/Herbert Vorgrimler (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium, Freiburg/Br. 2008, S. 449–552, hier S. 488f.

  7. Klaus Schatz, Allgemeine Konzilien, Paderborn 1997, S. 326f.

  8. Julius Döpfner, Reform als Wesenselement der Kirche. Überlegungen zum 2. Vatikanischen Konzil, Würzburg 1964.

  9. Für den Volltext der Rede siehe Externer Link: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/december/documents/papa-francesco_20141222_curia-romana.html.

  10. Ebd.

  11. Mit Blick auf religiös motivierte Gewalt hatte Benedikt den byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaiologos mit den Worten "Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten" zitiert. Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung, Freiburg/Br. 2006, S. 15f.

  12. Acta Apostolicae Sedis 38/1946, S. 141–151, hier S. 145.

  13. Dogmatische Konstitution über die Kirche "Lumen gentium" vom 21. November 1964, in: Rahner/Vorgrimler (Anm. 6), S. 123–197, hier S. 149 (Nr. 23).

  14. Vgl. Daniel Deckers, Subsidiarität in der Kirche, in: Jean-Pierre Wils/Michael Zahner (Hrsg.), Theologische Ethik zwischen Tradition und Modernitätsanspruch, Freiburg/Ü. 2005, S. 269–295.

  15. Antonio Spadaro, Das Interview mit Papst Franziskus, Freiburg/Br. 2013, S. 53f.

  16. Esortazione Apostolica "Evangelii gaudium" del Santo Padre Francesco, Vatikanstadt 2013, Nr. 32, S. 33f.

  17. Codex Iuris Canonici auctoritate Ioannis Pauli PP. II promulgatus, Vatikanstadt 1983; im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz übersetzte Ausgabe, Kevelaer 19842, Can. 377 §1.

  18. Vgl. Josemaría Escrivá de Balaguer, La Abadesa de Las Huelgas. Estudio teológico jurídico, Madrid 19883, S. 135.

  19. Peter Krämer, Die geistliche Vollmacht, in: Joseph Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hrsg.), Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts, Regensburg 1980, S. 166–172, hier S. 166.

  20. Vgl. Peter Walter/Günther Wassilowsky (Hrsg.), Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur (1563–2013), Münster 2016.

  21. Vgl. Klaus Schatz, Vaticanum I, 3 Bde., Paderborn 1992–1994.

  22. Wolfgang Reinhard, Einführung, in: ders./Paolo Prodi (Hrsg.), Das Konzil von Trient und die Moderne, Berlin 2001, S. 23–42, hier S. 40f.

  23. Leo Waltermann, Konzil als Prozeß, Köln 1966, S. 246.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Hubert Wolf für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster. E-Mail Link: hubert.wolf@uni-muenster.de