Das Historiendrama "Unsere Mütter, unsere Väter" (2013) bescherte dem Zweiten Deutschen Fernsehen geradezu traumhafte Einschaltquoten.
Untersuchungen zur Aneignung dieses Filmepos durch Zuschauerinnen und Zuschauer legten offen, dass Jugendliche aus Deutschland und Österreich dazu neigten, sich in der Folge selbst als Protagonistinnen und Protagonisten dieser Zeit wahrzunehmen: Sie kommentierten das Geschehen auf der Mattscheibe nicht aus der Perspektive außenstehender Zuschauer, sondern versetzten sich selbst in die Lage der fünf Filmfiguren und kommentierten deren Geschichte aus ihrer eigenen, persönlichen Sicht. Sie setzten sich mithin unmittelbar und unhinterfragt mit diesen Figuren und deren Lebenswegen in eins.
Die Übermacht emotionalisierender Bilder, vor allem aber die Tatsache, dass "Unsere Mütter, unsere Väter" die Geschichten von jungen Leuten im gleichen Alter erzählt, mag ein Grund für diesen Befund darstellen. Diese Form der Verschmelzung hatte darüber hinaus sogar zur Folge, dass die jugendlichen Zuschauer mit Vehemenz Erklärungen vorbrachten, die die damaligen jungen Soldaten der Wehrmacht entlasteten; sie trachteten danach, deren Täterschaft infrage zu stellen und sie von Schuld zu reinigen. Selbst Taten, die im Film unverkennbar als Verbrechen dargestellt werden, rechtfertigten sie mit überkommenen entlastenden Argumenten, also mit den historischen Umständen und dem vermeintlichen Notstand durch Befehle. "Unsere Mütter, unsere Väter" stimulierte die jungen Leute mithin dazu, sich mit eben diesen imaginierten "Großeltern" zu identifizieren. Im selben Atemzug verkehrten sie historisch gesicherte Zuschreibungen wie "Dies ist ein Opfer" und "Dies ist ein Täter" unversehens in ihr Gegenteil.
Ähnliche Muster der Wahrnehmung, der Deutung und der Identifikation zeigten sich auch bei jugendlichen Zuschauern des auf Arte und in der ARD ausgestrahlten Zweiteilers "Die Flucht" (2007).
In der Aneignung seiner Zuschauer reproduzierte der Film somit tradierte antislawische Stereotype und in Bezug auf "die Deutschen" apologetische und viktimisierende Diskurse.
Zuschauer als entscheidende Akteure
Noch stärker als früher entfaltet sich heute eine neue Generation von medial vermittelten Geschichtsproduktionen, die Fakten und Fiktionen untrennbar miteinander verschmelzen: Dokumentationen nutzen Fiktionen, Dramen beruhen auf Fakten – der Hybridisierung von Sujets und von Genres, von Inhalten und Formen scheinen keine Grenzen gesetzt. Wir möchten diese Dynamiken aus der Perspektive der Zuschauer beleuchten und sie hier mit dem Begriff der "Para-Historie" beschreiben.
In diese Kategorie fallen die eingangs zitierten historisierenden Filme wie "Unsere Mütter, unsere Väter" und "Die Flucht", deren fiktive Narrative für sich reklamieren, eine quellengestützte und faktisch belegte Version von Vergangenheit zu gestalten. Solche Formate weisen aus der kritischen Perspektive der Geschichtswissenschaft erhebliche und grundsätzliche Fragen auf. Aus rezeptionsorientierter Sicht müssen wir zunächst einmal feststellen, dass gerade solche Produktionen bei den Zuschauern als "authentisch" gelten – und daher von ihnen als "Geschichte" verstanden und angeeignet werden. Und auf eben dieses Urteil setzen die Produzenten solcher Formate: Der Zuschauer ist damit der entscheidende Akteur eben dieser Para-Historie. Was bedeutet das?
Die Hauptdarstellerin in "Die Flucht", Maria Furtwängler, erklärte nach dem Dreh geradezu programmatisch: "Es waren Bilder aus unserem kollektiven Gedächtnis. Als ich für eine der Szenen, die jeder in Schwarzweiß schon hundertfach gesehen hat, auf dem zugefrorenen Kurischen Haff an dem riesigen Treck entlang geritten bin, verschwammen Wirklichkeit und Vision."
Die Filmproduzenten werden nur zu gut wissen, dass das Urteil über die Bilder im Fernsehen von den Ansprüchen des Publikums abhängig ist. Über die Glaubwürdigkeit und über die historische Dignität einer solchen historisierenden Fernseherzählung wie "Die Flucht" entscheidet heute das Kollektiv der Zuschauer. Seine "Gedächtnisbilder" sind der Dreh- und Angelpunkt eines solchen Vergangenheitsproduktes, sie sind der Fundus an Zeichen und Codes, über den sich Produzenten und Rezipienten miteinander verständigen. Um ein rasches emotionelles und kognitives Wiedererkennen zu ermöglichen und damit ihren Film erfolgreich zu machen, bieten die Filmemacher genau jene markanten Bilder an, die mit den gespeicherten Gedächtnisbildern der Zuschauer korrelieren. Das Publikum muss die im Film vorgeführte Vergangenheit mit seinen eigenen Erfahrungen, mit überlieferten Erzählungen und vor allem auch mit verinnerlichten Medienbildern verknüpfen können, damit das historisierende Angebot als "authentisch" akzeptiert werden kann. "Ja, so war es": Mit dieser Beglaubigung durch die Vielen geht dann auch der Quotenerfolg und letztlich auch das ökonomische Gelingen einher.
Was bedeutet es für aktuelle und künftige "Geschichtsbilder", wenn solche Filmbilder die Gedächtnisbilder überlagern, ja, sie ausbeuten und sogar usurpieren? Viele Zuschauer nehmen die Fiktion eines Dramas scheinbar ebenso häufig für bare Münze wie die Fakten einer Sachsendung. Es stellt sich also die geschichtsdidaktisch, gesellschaftlich und politisch wesentliche Frage, ob das dramatisierte Schicksal der fünf Freunde aus Berlin, die in "Unsere Mütter, unsere Väter" in den Krieg ziehen, oder die Flucht aus Ostpreußen 1945 mit einer fiktiven Figur wie Lena Gräfin von Mahlenberg das geschichtliche "Wissen" und Verständnis nicht nachhaltiger prägen als etwa eine faktengesättigte Dokumentation.
crossmediale Aushandlung
In unseren heutigen Mediengesellschaften findet die Aneignung dieser neuartigen Angebote von Vergangenheit keinesfalls nur über Fernsehsendungen statt. Am Beispiel des Kriegsdramas "Saving Private Ryan" ("Der Soldat James Ryan", USA 1998), das nicht nur in den USA, sondern auch in Europa ein Millionenpublikum fand, lässt sich das breite Panorama der crossmedialen Verarbeitung exemplarisch darstellen.
Der Film handelt von der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 und dem Versuch eines achtköpfigen Trupps von US-Soldaten, den Fallschirmjäger James Ryan zu evakuieren. Mehrere große Tages- und Wochenzeitungen und Magazine widmeten dem von Steven Spielberg inszenierten Epos ausgiebige Besprechungen. Zahlreiche Filmszenen lassen sich inzwischen nicht nur im Internet nachschauen, die Zuschauer beziehungsweise User kommentieren diese auch in den sozialen Netzwerken – sie avancieren damit unmittelbar zu Akteuren der Erinnerungskultur. Selbstverständlich wurde der Film mittlerweile auch mehrfach im Fernsehen ausgestrahlt. Zudem finden sich unzählige Dokumentationen zur Schlacht von Omaha Beach, die an die filmische Erzählung anschließen. Ein Beispiel ist der Bericht "Die wahre Geschichte. Der Soldat James Ryan", ausgestrahlt vom Nachrichtensender N24. Ein Zuschauerkommentar auf der Homepage des Senders zeigt, wie auch auf Rezipientenseite mediale und historische Realität miteinander verknüpft werden: "Ich war sehr ergriffen, als ich die Eingangs-Szene des Films damals im Kino sah, ich war regelrecht geschockt und musste weinen wie ein Schlosshund. Von 500 Besuchern mussten mindestens 200 raus an die Luft, weil sie es nicht ertragen konnten, den Greul in Dolby-6-Kanal und ‚Originallautstärke‘ über sich ergehen zu lassen. Es soll sich also bloß keiner einbilden, Krieg mache ‚Spaß‘. Wenn ich inzwischen an all die Egoshooter denke, kommen mir da gewisse Zweifel auf."
Was der Schreiber des Kommentars aber vermutlich nicht wahrnahm: Der Soldat James Ryan ist ein mediales Multitalent, eine Figur und eine Story, die sich bestens in unterschiedlichsten Medien vermarkten lassen: Selbstverständlich gibt es ihn mehrfach auch als Computerspiel.
Die gesellschaftliche Verständigung über die crossmedial angebotenen, historischen und historisierenden Fernseherzählungen findet mittlerweile hauptsächlich über Rahmen- und Anschlusskommunikationen statt. Immer häufiger werden Historienfilme nicht einfach nur "konsumiert", sondern die Zuschauer nutzen zunehmend auch begleitende Medienangebote, die ihnen vor allem online nahegelegt werden: Hintergrundinformationen zum Film, Interviews mit Schauspielern, Gespräche mit Zeitzeugen und Experten, Bücher und Filme sowie sonstiger Content. Darüber hinaus teilen immer mehr Zuschauer ihre Rezeptionserlebnisse bereits während sie einen Spielfilm schauen über die einschlägigen Social-Media-Kanäle. Das zuvor disperse Publikum wächst dadurch zu einer virtuell verknüpften Gemeinschaft zusammen.
Der Referenzhorizont der Fernsehrezeption ist also nicht mehr das begrenzte, heimische Wohnzimmer, sondern der entgrenzte und häufig anonyme digitale Raum. Dort tauschen sich die User in Blogs und Foren darüber aus, wie sie sich all die Medienofferten, mithin die Fernsehfilme und Computerspiele, aneignen, wie sie deren Botschaften mit Bedeutungen aufladen und in das eigene Geschichts-, Gegenwarts- und Weltverständnis einbauen. Mediennutzer haben heute Möglichkeiten, sich wie nie zuvor an der gesellschaftlichen Produktion von Geschichte aktiv zu beteiligen – allerdings verfügen wir derzeit über keinerlei Konzepte und Visionen, wie wir diese User auf dem Weg zum "homo historicus" begleiten können. So gilt es unter anderem zu überprüfen, ob die parahistorischen Formate mitsamt ihren crossmedialen Angeboten bei den Zuschauern in besonderem Maße das Gefühl hervorrufen, unmittelbar am Geschehen beteiligt zu sein, und ob ein solches Involvement dann besonders nachhaltige "Wirkungen" zeitigt.
Schauspieler machen Geschichte?
Die alles entscheidende Zuschreibung von Authentizität – "Diese historische Sendung, dieses Narrativ, diese Bilder sind wahr" – kann immer nur eine gemeinsame Aussage von Produzenten und Konsumenten sein. Beide Akteursgruppen, so der Medientheoretiker Siegfried J. Schmidt zu Recht, produzieren über Geschichtsevents eine gemeinsam getragene und ausgestaltete Fiktion von Authentizität.
Anfang des 21. Jahrhunderts spielen bei diesem Pakt um die Definition historischer Wahrheit immer weniger die Zeitzeugen, sondern immer mehr die Schauspieler eine elementare Rolle. Die folgende Szene vermag die Problematik verdeutlichen: Die Jüdin Marga Spiegel überlebte mitsamt ihrer Familie den Holocaust. 1969 erschienen ihre Erinnerungen als Buch, 2009 wurden sie unter dem Titel "Unter Bauern – Retter in der Nacht" verfilmt.
Die Strategie seitens der Produzenten scheint nachvollziehbar: Charismatische Personen beziehungsweise Fernsehlieblinge wie Ferres und Furtwängler vermögen es, historisierenden Erzählungen Glaubwürdigkeit zu verleihen und damit die Akzeptanz des Produktes zu erhöhen. Hier stellt sich die wahrnehmungspsychologische Frage: Sind die Zuschauer wirklich in der Lage, kognitiv und emotional zwischen dem beliebten Filmstar mitsamt seiner Biografie und Filmografie und den differenzierten, vielfach sogar höchst ambivalenten historischen Personen zu unterscheiden?
Die zitierte Rezeptionsstudie zu "Die Flucht" offenbart diese Transferproblematik: Die ostpreußische Junkerstochter Gräfin von Mahlenberg gilt den befragten Probanden als Heldin, ungeachtet der im Film thematisierten schwerwiegenden Verstrickungen mit dem NS-Regime.
Ein weiterer Aspekt parahistorischer Geschichtsaneignung ist das Zusammengehen von Schauspielkunst und historischer Vorlage. Zur Veranschaulichung soll die ARD-Produktion "Eichmanns Ende – Liebe, Verrat, Tod" (2010) dienen: Der vielfach ausgezeichnete Herbert Knaup spielt in diesem Dokudrama den NS-Schreibtischtäter und Holocaust-Organisator Adolf Eichmann so intensiv, dass sich die Medien mit Lob geradezu überschlugen. Knaup hatte zuvor bereits Figuren wie Adolf Hitler, Albert Speer, aber auch den Erzengel Michael, den Bezwinger des Teufels, gemimt. Nun lobte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" seine neue Schöpfung, seinen Homunculus Eichmann: "Knaups Schauspielkunst setzt einen Standard der Authentizität. (…) Jeder noch so kleinen Bewegung gibt er eine Bedeutung (…)." Dank Knaups "faszinierender Deutung" habe man nun "einen Eichmann" vor sich, "der zur Mimikry unfähig ist".
parahistorische Erinnerung: Grundlage für die Gestaltung der Zukunft
Die entscheidende Frage lautet somit: Sind die Zuschauer willens und in der Lage, zwischen der historiografisch erarbeiteten Figur und dem dramatisierten Artefakt zu unterscheiden? Die hier zitierten Befunde zur Geschichtsaneignung bei jugendlichem Publikum lassen die Vermutung zu, dass diese Differenzierung nicht geleistet werden kann oder gar nicht geleistet werden soll. Unsere rezeptionswissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass vor allem Angehörige nachrückender Generationen bei der Aneignung von Medienangeboten offenbar dazu neigen, grundstürzende Umdeutungen der Geschichte beider deutscher Diktaturen des 20. Jahrhunderts vorzunehmen. Augenscheinlich fehlt ihnen die Möglichkeit, Distanz zu den Tätern aufzubauen und die verbreiteten und damit eindringlichen Narrative kritisch zu kontextualisieren: Die in unseren Studien beobachteten jungen Erwachsenen scheinen der Flut der Bilder und den Stromschnellen eigener Emotionen auf Gedeih und Verderb ausgesetzt zu sein.
"Geschichtsvermittlung" dieser Art findet unter den Vorzeichen eines europäischen Marktes und einer globalisierten Welt statt: Medienprodukte mit Vergangenheitsbezügen müssen transnational ökonomisch erfolgreich zu handeln und zugleich in unterschiedlichen sozialen und nationalen Horizonten kulturell zu verhandeln sein. Diese TV-Events bestimmen mittlerweile in ganz Europa, wie und welche Geschichte(n) in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts erzählt werden. Ihre Ästhetik, ihre Bildprogramme, ihre musikalischen Welten und natürlich ihre historischen Narrative müssen ganz unterschiedlichen nationalen und internationalen Öffentlichkeiten die Möglichkeit bieten, die Filmbotschaft optimal in ihr jeweiliges Geschichtsverständnis und ihre spezifischen Lebenshorizonte einzupassen. Es stellt sich daher auch die Frage, ob ihr Konsum womöglich auch zu transnationalen Mustern des Gedächtnisses führen wird. Womöglich münden der transnationale Austausch und der Verkauf von "Geschichtsbildern" am Ende in einen gemeinsamen europäischen Opfermythos: Auf eine vereinfachende Moral wie "Krieg ist immer schlimm!" und "Wir sind alle seine Opfer!" können sich alle nur denkbaren Medienrezipienten leicht einigen.
Die Beobachtung und Aufklärung der medial erzeugten Erinnerungskulturen des "Zeitalters der Extreme"