Der Posthumanismus entspricht dem Zeitalter, das auch als "Anthropozän" bezeichnet wird – und durch die (negativen) Auswirkungen menschlichen Handelns auf das Ökosystem der Erde gekennzeichnet ist. Den Begriff prägte der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen; er beschreibt damit die gegenwärtige geologische Epoche und betont die technologisch vermittelte Macht unserer Spezies und ihre tödlichen Folgen.
Verweise auf das Posthumane sind sowohl in akademischen als auch in öffentlichen Diskussionen üblich geworden und haben gleichermaßen Begeisterung wie Befürchtungen – etwa hinsichtlich einer Dezentrierung des Menschen – hervorgerufen.
Biogenetik, Neurowissenschaften sowie Nano- und Informationstechnologien fassen im Wesentlichen zusammen, was wir heute unter der Besonderheit des Menschen verstehen. Sie gehen zugleich in dem Maße eine komplexe Beziehung mit den akademischen "Humanities", den Human- und Geisteswissenschaften, ein, als deren Wissenschaftsdiskurse problemlos einen postanthropozentrischen Ansatz übernehmen, während Geisteswissenschaften immanent anthropozentrisch und der humanistischen Tradition verpflichtet sind. Mehr noch: Biowissenschaften betonen den Zusammenhang von menschlichem Organismus – besonders der perzeptiven, kognitiven und sensorischen Fähigkeiten – und einer Vielzahl nichtmenschlicher Elemente; dazu zählen in unsere Umwelt eingebettete ökologische Faktoren und Kräfte. Zugleich umfassen sie die Verbindungen zwischen den Generationen, Beziehungen zwischen verschiedenen Spezies sowie umfangreiche Zusammenhänge mit technologischen Netzwerken. Angesiedelt am radikalen Rand der Geisteswissenschaften – dabei zutiefst technophil –, postuliere ich eine posthumane kritische Theorie auf der Grundlage des Konzepts eines nomadischen Beziehungssubjekts, ausgestattet mit einer Ethik, die sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Kräfte anerkennt.
Definition des Posthumanen
Die Bedingungen des Posthumanen entstehen durch die Annäherung von Post- und Antihumanismus einerseits und Anti- und Postanthropozentrismus andererseits. Häufig überlappen sich beide Stränge, beziehen sich jedoch jeweils auf unterschiedliche intellektuelle Genealogien und Traditionen. Der Antihumanismus konzentriert sich auf die Kritik des humanistischen Ideals vom "Menschen/Mann" (man) als universellem Repräsentanten des Menschen (human), während sich der Antianthropozentrismus gegen die Hierarchie der Arten wendet und ökologische Gerechtigkeit fordert. Der Begriff "posthuman" bezeichnet die Herausbildung einer neuen Perspektive, die nicht allein einen Kulminationspunkt beider Stränge, sondern einen qualitativen Sprung bedeutet.
Posthumanismus beruft sich auf einen reichen und vielfältigen "Stammbaum", der den Antihumanismus der französischen poststrukturalistischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgreift. Als Studentin Michel Foucaults habe ich seine These vom "Tod des Menschen" als direkte Kritik der theoretischen und moralischen Grundlagen des europäischen Humanismus (als Ideal wie als welthistorische Erfahrung) übernommen.
In Opposition zum so definierten Humanismus entwickelten die französischen Poststrukturalisten eine prägnante Kritik an der Komplizenschaft zwischen Vernunft – und wissenschaftlicher Rationalität – und der Gewalt und dem Terror. Den Titel einer berühmten Radierung von Goya abwandelnd, vertraten die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari die These, nicht der Schlaf der Vernunft gebiere Ungeheuer, sondern die wachsame und schlaflose Rationalität.
Der vermeintlich universelle Standard, wie ihn das humanistische Bild des man of reason repräsentiert, wurde just wegen seiner Parteilichkeit kritisiert.
Die posthumanistische kritische Bewertung des Humanismus, häufig als postmoderner Relativismus oder als regelrechter Nihilismus abgelehnt,
Der Posthumanismus wird auf der Basis des Untergangs vom "Menschen" – dem einstigen Maß aller Dinge – postuliert; er stellt indes kein einfaches und einheitliches Phänomen dar, denn tatsächlich gibt es zahlreiche Humanismen und daher ebenso viele Traditionen und genealogische Linien des Antihumanismus: "den romantischen und positivistischen Humanismus, durch welche die europäischen Bourgeoisien ihre Herrschaft über [die Moderne] begründet haben, [den] revolutionären Humanismus, der die Welt erschütterte, und [den] liberalen Humanismus, der ihn zu zähmen suchte, [den] Humanismus der Nazis und [den] Humanismus ihrer Opfer und Gegner, [den] antihumanistischen Humanismus Heideggers und [den] humanistischen Antihumanismus Foucaults und Althussers, [den] säkularen Humanismus von Huxley und Dawkins oder [den] Posthumanismus von Gibson und Haraway".
Der inhärente Widerspruch im Erbe des Posthumanismus wird bei postkolonialen und Rassismustheoretikern besonders deutlich: Beide interpretieren den europäischen Humanismus entlang der Geschichte des Kolonialismus und der rassistischen Gewalt – und machen die Europäer für den Gebrauch beziehungsweise den Missbrauch humanistischer Ideale bei der Herrschaft über andere Kulturen verantwortlich. In der postkolonialen Theorie fällt indes auf, dass sie humanistische Voraussetzungen nicht vollständig ablehnt, sondern diese vielmehr erneuert, indem sie sie auf nichtwestliche Traditionen bezieht.
Posthumane kritische Theorie erwächst aus all diesen kritischen Strömungen, bewegt sich jedoch in andere Richtungen. Ausgehend von der Tatsache, dass "Wir" nicht in derselben Art und Weise und in demselben Maß "menschlich" sind, halte ich eine Herangehensweise an das "Menschliche" für notwendig, die den Begriff nicht als neutralen, sondern als hierarchischen versteht – eine, die den Zugang zu Privilegien und Ermächtigungen aufzeigt, die sowohl mit der humanistischen Tradition als auch mit der anthropozentrischen "Ausnahme" in Verbindung stehen. Mit Blick auf postkoloniale und feministische Theorien möchte ich herausstreichen, dass – wenn historisch das Humane als Träger der Verteilung von Macht diente – das Posthumane darauf zielt, ein alternatives systematisches Konzept hervorzubringen. Das bedeutet: Der Posthumanismus bringt eine qualitative Veränderung der Perspektive mit sich und nicht etwa nur eine quantitative Zunahme neuer Untersuchungsgegenstände nichtmenschlicher Art – seien dies Tiere, Pflanzen, Mineralien und technologische oder außerirdische Materie. Mein Ansatz zielt auf verleiblichte (embodied) und eingebettete (embedded) Darstellungen vielschichtiger und komplexer Machtbeziehungen, die die Struktur des "Mensch-Seins" bilden und daher auch die unseres "Posthuman-Werdens" ausmachen.
Posthumane kritische Theorie
Posthumanes Denken bereichert die antihumanistische Kritik des "Menschen" um eine neue Dimension – nämlich um die Ablehnung der Artenhierarchie. Die Besonderheiten und der Anspruch auf Überlegenheit seitens des anthropos als Repräsentant einer hierarchischen, hegemonialen und grundsätzlich gewalttätigen Spezies werden im Anthropozän aufgrund einer Kombination aus wissenschaftlichen Fortschritten und globaler ökonomischer Gier auf die Probe gestellt.
Umso mehr, als die posthumane Situation sich nicht in einem Vakuum vollzieht, sondern in einer globalisierten Welt, die dahin tendiert, zutiefst inhuman zu sein, mit strukturellen Ungerechtigkeiten wie wachsender Armut und Verschuldung ebenso wie Vertreibungen aus Häusern und Ländern – mit der Folge, dass die Flüchtlings- und Obdachlosenzahlen steigen.
Die Widersprüche vervielfachen sich noch durch die Tatsache, dass dem fortgeschrittenen Kapitalismus eine technisch-wissenschaftliche Struktur zugrunde liegt, die auf der Annäherung ehemals getrennter Technologiezweige, insbesondere den Biowissenschaften und Informationstechnologien, beruht. Diese Bereiche umfassen Forschungen zu und Eingriffe in das Leben von Tieren, Samen, Zellen und Pflanzen sowie von Menschen. Auch "kognitiver Kapitalismus" genannt,
Die Kapitalisierung lebender Materie erschafft eine neue posthumane politische Ökonomie. Heute sind Informationsdaten das wahre Kapital – sie beseitigen klassische Machtbeziehungen nicht, sondern ergänzen sie.
Die posthumane kritische Theorie widersteht solchen Vereinfachungen und hält dem entgegen, dass wir eine fundiertere und komplexere Kartografie der posthumanen Situation benötigen, um die Balance zwischen oberflächlicher Euphorie und Technopessimismus zu finden. "Wir" werden wohl das posthumane Universum bereits betreten haben; doch das "Wir" tritt nicht als homogene, geschweige denn universelle Einheit in Aktion, sondern eher als nomadisches Gefüge – in nichtlinearen, zickzackförmigen, verstreuten Beziehungen stehend und werdend und diese positiv bejahend (relational, transversal, affirmativ).
Darüber hinaus weist die überbordende Ideenproduktion im Zusammenhang mit dem Posthumanen in unserer Kultur vielfach eine problematische Tendenz dahingehend auf, die "Menschheit" in dem Moment als einheitliche Kategorie zu verstehen, in dem sie sich als bedroht und gefährdet erweist.
In diesem Kontext erscheint es notwendig, posthumane Subjektformationen zu überdenken. Das schließt die Ablehnung universaler Kategorien ebenso ein wie die anhaltender Vorstellungen eines zwingenden Rationalismus. Dessen offenkundigstes Beispiel stellt das transhumanistische Projekt eines kognitiven Human Enhancement dar, das auf der Wiederbelebung des humanistischen Ideals der Aufklärung basiert, den Menschen mithilfe der Technologie zu perfektionieren.
Der konzeptionelle Kern des kritischen Posthumanismus ist eine neomaterialistische monistische Ontologie. Das "monistische Universum" bezieht sich auf den zentralen Gedanken des Philosophen Baruch de Spinoza, dass die Materie, die Welt und die Menschen keine dualistischen Entitäten sind, die durch einen Gegensatz von Innen und Außen strukturiert wären. Er postuliert die Einheit aller Materie. Der Monismus verlagert die Differenz heraus aus dem dialektischen Schema in einen komplexen, durch innere und äußere Kräfte strukturierten Prozess, der auf der Beziehung zu vielfältigen Anderen beruht.
Gesellschaftlich konstruktivistische, binäre Gegensätze wie Natur/Kultur oder menschlich/nichtmenschlich werden aufgelöst. Wir bewegen uns in Richtung einer dynamischen Art von materialistischem Vitalismus, der auf dem Gedanken beruht, dass Materie – einschließlich der menschlichen Verleiblichung – intelligent und selbstorganisierend ist. Das führt zu einer "vitalen Politik", die den Weg für eine nichthierarchische und daher stärker egalitäre Beziehung der Arten untereinander ebnet. An Stelle der Betonung des rationalen und transzendentalen Bewusstseins – eine der Säulen des Humanismus und der Schlüssel zu dessen implizitem Anthropozentrismus – tritt eine radikale Immanenz und Prozessontologie.
Mit der Verlagerung der Perspektive endet auch die kategorische Unterscheidung zwischen menschlichem Leben und dem Leben der Tiere und Nichtmenschen. Monismus betont die transversale, verleiblichte Struktur des posthumanen Subjekts als zusammengesetztes Gefüge menschlicher, nichtorganischer, maschineller und anderer Elemente: ein technologisch vermitteltes "Menschentier".
Der Verweis auf eine monistische Ontologie und ein Konzept der Immanenz (an Stelle transzendentaler Vernunft) führt auch zur Ablehnung der Rückkehr zur abstrakten Idee einer "neuen", durch eine gemeinsame Verletzlichkeit oder Angst ums Überleben beziehungsweise vor der Auslöschung des Menschen verbundenen Panhumanität. Angesichts der globalen Reichweite der Probleme in der gegenwärtigen Ära des Anthropozän ist es indes in der Tat so, dass "Wir" diese Krise gemeinsam erleben. Dieses Bewusstsein sollte jedoch die Machtungleichheiten, die innerhalb des kollektiven Subjekts ("Wir") und der Krise bestehen, nicht verschleiern.
Die posthumane kritische Theorie ruft zum Widerstand gegen eine übereilte und reaktive Neuzusammensetzung panhumaner Bindungen auf – insbesondere gegen jene, die paradoxerweise aus Angst und xenophober Ablehnung Anderer erfolgt. Stattdessen könnte es nützlicher sein, auf eine vielfältige Aktualisierung neuer transversaler Allianzen, alternativer Visionen und Praktiken von dem, was posthumane Subjekte und Gemeinschaften fähig sind zu werden, hinzuarbeiten. Um besser zu verstehen, was wir im Begriff sind zu werden und wieviel posthumane Mutation unser verleiblichtes und eingebettetes Selbst verträgt, müssen wir mit unseren Potenzialen experimentieren. Eines ist sicher: Um in Richtung vieler, differenzierter und nichtlinearer Wege für ein gemeinsames Eine-Welt-Werden zu arbeiten, müssen wir lernen, anders über uns zu denken.