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Gezielte Tötungen | Moderne Kriegführung | bpb.de

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Gezielte Tötungen Auf dem Weg zu einer globalen Norm?

Betcy Jose

/ 16 Minuten zu lesen

Gezielte Tötungen, etwa von Terroristen, schei¬nen in der globalen Öffentlichkeit zunehmend still zur Kenntnis genommen zu werden und auf eine – wenn auch zurückhaltende – Akzeptanz zu stoßen. Entwickelt sich die Praxis zu einer globalen Norm?

Kurz nach den Terroranschlägen in Brüssel im März 2016 gab das Pentagon bekannt, US-Streitkräfte hätten den stellvertretenden Anführer von Daesh, wie der sogenannte Islamische Staat im Folgenden bezeichnet wird, Abdul Rahman Mustafa al-Kaduli, getötet. Wenige Wochen zuvor hatte es bereits ähnliche Meldungen gegeben, wonach US-Spezialeinheiten ein nicht namentlich genanntes "hochrangiges Zielobjekt" der Terrorgruppe Al-Shabaab in Somalia getötet hätten. Die Liste solcher targeted killings in den vergangenen Jahren ließe sich fortsetzen, auch über die Vereinigten Staaten als Akteur hinaus: So ließ etwa die britische Regierung im August 2015 erstmals zwei britische Staatsangehörige, die als Mitglieder von Daesh offenbar eine unmittelbare Bedrohung darstellten, durch einen gezielten Drohnenangriff töten. In der globalen Öffentlichkeit wurden diese Fälle weitgehend still zur Kenntnis genommen und schienen auf eine – wenn auch zurückhaltende – Akzeptanz zu stoßen. Entwickelt sich die Praxis der gezielten Tötungen zu einer globalen Norm?

Wie globale Normen entstehen

Normen werden in den Internationalen Beziehungen definiert als "Standards angemessenen Verhaltens für Akteure mit einer gegebenen Identität". Diese Definition führt die Dimensionen der Normativität und der Normalität von Normen zusammen: Als Ge- oder Verbote formulieren Normen Handlungsanweisungen, umgekehrt kann von damit verbundenen Verhaltensregelmäßigkeiten auf die jeweilige Norm geschlossen werden.

Die Bezeichnung "Norm" wird meist in Bezug auf ein Verhalten verwendet, das seiner Natur nach liberal ist, wie etwa der Schutz von Menschenrechten oder demokratische Verfahren. Auch die Normenforschung hat sich lange vornehmlich auf Menschenrechtsnormen beziehungsweise auf Normen bezogen, die staatliches Handeln einschränken. Dabei bezieht sich die Definition von Normen aber in keiner Weise auf deren Inhalt. Immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern daher einen ausgewogenen Ansatz in der Normenforschung und eine Auseinandersetzung mit Praktiken, die weniger der "Wohlfühlsorte" angehören – wie etwa gezielte Tötungen, die Menschenrechtsorganisationen und der juristischen Fachwelt Sorge bereiten.

Dem Modell zur Herausbildung globaler Normen der Politikwissenschaftlerinnen Martha Finnemore und Kathryn Sikkink zufolge durchlaufen Normen einen "Lebenszyklus", der sich in drei Phasen gliedert: Die Phase der Entstehung von Normen basiert auf einem kollektiven Problembewusstsein, das mitunter zunächst geschaffen werden muss. Hier kommt sogenannten norm entrepreneurs, die sich für eine Sache einsetzen und um die Unterstützung ihres Anliegens durch prominente Entscheidungsträger werben, eine zentrale Rolle zu. Mitunter greifen diese "Normunternehmer" dabei zu unkonventionellen Mitteln, um Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken und Druck aufzubauen. So begaben sich etwa nach dem Attentat auf einen LGBT-Club in Orlando im Juni 2016 Abgeordnete der Demokratischen Partei im US-Repräsentantenhaus im Zuge ihrer Bemühungen für eine Verschärfung der Waffengesetze in den Vereinigten Staaten in einen Sitzstreik; ein weiteres Beispiel sind die heftigen Proteste in Indien nach der brutalen Gruppenvergewaltigung einer Medizinstudentin im Dezember 2012, um eine Veränderung bei den Geschlechternormen zu bewirken. Haben sie die Aufmerksamkeit ihrer Zielgruppe geweckt, versuchen Normunternehmer, sie von der Legitimität ihres Anliegens zu überzeugen. Meist sind dabei diejenigen erfolgreicher, die nachvollziehbar aufzeigen können, dass die von ihnen verteidigte Praxis die bestehende Normenstruktur nicht wesentlich schädigen würde.

Gewinnen die Normunternehmer einflussreiche Fürsprecher, die die neue Norm übernehmen und ihre Institutionalisierung auf internationaler Ebene vorantreiben, kommt es in der zweiten Phase, der Normkaskade, zur Verbreitung der neuen Norm. Immer mehr Staaten führen zur Steigerung ihres Ansehens und ihrer Legitimität die Norm auf nationaler Ebene ein, es werden bilaterale und möglicherweise auch internationale Abkommen geschlossen. Durch diese Institutionalisierung verfestigt sich der Status der Norm als solche. In der dritten Phase, der Internalisierung von Normen, ist die neue Norm schließlich breit akzeptiert bis hin zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Um auf Praktiken wie gezielte Tötungen anwendbar zu sein, die möglicherweise Menschenrechte verletzen könnten, muss dieses Modell modifiziert werden. Denn in einem solchen Fall werden Normunternehmer zunächst keine Aufmerksamkeit erregen wollen und sich vielmehr auf eine Rechtfertigung ihres Handelns konzentrieren, um etwaige Strafmaßnahmen zu kompensieren, anstatt sich proaktiv für die Schaffung einer neuen globalen Norm einzusetzen. Bei einem prominenten Akteur wie den Vereinigten Staaten werden andere Staaten und Akteure dennoch auf dieses Handeln und die entsprechenden Rechtfertigungen aufmerksam. Dadurch kann sich die Wahrnehmung der Angemessenheit einer Handlung verändern und ein Vorbild für den Einsatz und die wirksame Verteidigung einer Praxis entstehen. Dabei handelt es sich nicht um aktives, sondern um zurückhaltendes Normunternehmertum.

In der Tat: Mit Blick auf die Rechtfertigungen und Erklärungen für gezielte Tötungen auf der Grundlage von US-amerikanischem und internationalem Recht durch die US-Regierung unter US-Präsident Barack Obama bemerkt der Politikwissenschaftler Michael J. Boyle, sie hätten "den perversen Effekt gehabt, eine alternative Norm und ein alternatives Bündel rechtlicher Bedingungen zu begründen, auf die andere Staaten verweisen können, wenn sie gezielte Tötungen einsetzen". Ob es sich nun um aktives oder zurückhaltendes Normunternehmertum handelt – hat es einmal begonnen, setzen die im Modell des Normenlebenszyklus beschriebenen Dynamiken ein. Gezielte Tötungen können also zur Norm werden, wenn die internationale Gemeinschaft die Praxis als zulässig erachtet.

Von Ablehnung zu Akzeptanz

Gezielte Tötungen wurden in der internationalen Gemeinschaft lange nachdrücklich als Menschenrechtsbruch verurteilt. So bezeichnete beispielsweise die schwedische Außenministerin Anna Lindh 2002 die gezielte Tötung des obersten Al-Qaida-Funktionärs im Jemen, Qaed Salim Sinan al-Harethi, auf den Verdacht hin, er habe den Angriff auf das US-Kriegsschiff USS Cole geplant, als "summarische Hinrichtung", die die Menschenrechte verletze.

Nach der gezielten Tötung Osama bin Ladens im Mai 2011 war die kollektive Reaktion jedoch eine ganz andere. Die Vereinigten Staaten plädierten gegenüber der internationalen Gemeinschaft, sein Tod habe das Völkerrecht nicht verletzt. Der damalige Rechtsberater im US-Außenministerium Harold Koh argumentierte, bin Laden sei aufgrund seiner unhinterfragten Rolle als Oberhaupt von Al-Qaida mit anhaltender operativer Funktion als Führungspersönlichkeit einer feindlichen Macht zu betrachten und habe weiterhin eine unmittelbare Bedrohung für die Vereinigten Staaten dargestellt. Diese hätten daher ihr Recht, Gewalt anzuwenden, geltend machen können. Unter diesen Umständen bestehe kein Zweifel daran, dass bin Laden in dem bewaffneten Konflikt mit Al-Qaida ein rechtmäßiges Ziel für die Anwendung tödlicher Gewalt dargestellt habe. Ähnlich hatten die Vereinigten Staaten bereits frühere gezielte Tötungen gerechtfertigt. Doch in diesem Fall reichten die Reaktionen von Enthusiasmus bis Schweigen; offenbar wurde die Argumentation der US-Regierung sofort akzeptiert und die dargelegten Fakten und das Vorgehen nicht infrage gestellt – auch von Akteuren, die zuvor gezielte Tötungen als unrechtmäßig abgelehnt hatten.

Der britische Außenminister William Hague gratulierte den Vereinigten Staaten zum Erfolg der Operation. Der Präsident des Europäischen Parlaments Jerzy Buzek sprach von einer "sichereren Welt". Auch wenn der Kampf der internationalen Gemeinschaft gegen den Terrorismus noch nicht vorüber sei, sei mit der Tötung bin Ladens ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Al-Qaida getan. Der Sprecher der Palästinensischen Autonomiebehörde Ghassan Khatib sah im Verschwinden bin Ladens eine Unterstützung der Sache des Friedens in der ganzen Welt. Und selbst UN-Generalsekretär Ban Ki-moon äußerte sich deutlich: "Ich persönlich bin durch die Nachricht sehr erleichtert, dass einem solchen führenden Kopf des internationalen Terrorismus Gerechtigkeit widerfahren ist. Ich möchte die Arbeit und das entschlossene und prinzipienfeste Engagement vieler Menschen in der Welt, die für die Ausmerzung des internationalen Terrorismus kämpfen, loben."

Bemerkenswert mit Blick auf diese veränderten Reaktionen ist, dass das Völkerrecht, also die Grundlage für die Verurteilung früherer gezielter Tötungen, nicht geändert worden war. Alles in allem könne zur Verteidigung der Handlungen der Vereinigten Staaten zwar das Recht herangezogen werden, aber es gebe dabei Punkte, an denen ein Entscheidungsträger zu einem vertretbaren gegenteiligen Ergebnis gelangen könne, fasste Beth Van Schaack, ehemalige stellvertretende Sonderbotschafterin für Angelegenheiten von Kriegsverbrechen im Büro des US-Außenministeriums für globale Strafrechtspflege unter US-Präsident Obama, das Problem zusammen.

Möglicherweise hing die offensichtlich veränderte kollektive Reaktion mit der Person Osama bin Laden selbst zusammen, da er spätestens seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 weltweit als Führer einer terroristischen Gruppe gefürchtet wurde, die die Sicherheit von Staaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern bedroht. Anders als bei vorherigen gezielten Tötungen, die als Verletzung des Rechts auf Leben der Betroffenen verurteilt wurden, schienen im Falle Osama bin Ladens denn auch die Sicherheitsinteressen im Vordergrund zu stehen, die durch seine gezielte Tötung geschützt würden.

Doch könnte sein Tod auch zu einer generellen Neubewertung von Kosten und Nutzen gezielter Tötungen geführt haben. Tatsächlich gibt es Anzeichen dafür, dass die veränderte kollektive Meinung zur Zulässigkeit dieser Praxis nach Osama bin Ladens Tod andauert und die Verschiebung in der Wahrnehmung des Vorgehens als annehmbar sich nicht auf diesen Ausnahmefall beschränkt.

Erstens greifen die Vereinigten Staaten immer häufiger auf gezielte Tötungen zurück, beispielsweise im Jemen und neuerdings auch im Kampf gegen Daesh in Syrien. Ferner haben sie die Praxis um sogenannte signature strikes erweitert, also um Schläge gegen Gruppen von Menschen statt gegen eine spezifische Person.

Zweitens gehen die Vereinigten Staaten nach jahrelangem Schweigen bis hin zu ihrer Verleugnung mittlerweile sehr viel offener mit gezielten Tötungen um. Zahlreiche Mitglieder der Obama-Administration haben sich öffentlich über dieses Programm geäußert und es verteidigt. So erkannte US-Präsident Barack Obama im Januar 2012 die Existenz des geheimen Drohnenprogramms der CIA öffentlich an. Auch ist die US-Regierung endlich den jahrelangen Aufforderungen von Menschenrechtsgruppen nachgekommen und hat im Juli 2016 Zahlen über zivile Todesfälle beim Einsatz von gezielten Tötungen veröffentlicht sowie einen Monat später die Leitlinien der US-Regierung für gezielte Tötungen durch Drohnen. Diese Offenheit deutet auf Bemühungen Washingtons hin, die durch den Tod bin Ladens gebotene Gelegenheit zu nutzen, um die zögerliche Akzeptanz der Praxis zu stabilisieren. "Präsident Obama und uns Mitgliedern des nationalen Sicherheitsteams ist sehr bewusst, dass (…) wir Präzedenzfälle schaffen, denen andere Nationen folgen könnten", so John Brennan, Berater von US-Präsident Obama für Heimatschutz und Terrorismusbekämpfung.

Und es scheint, dass drittens andere Staaten tatsächlich dem US-Beispiel folgen. Die Türkei, China, Iran und Russland sind auf den Zug aufgesprungen. Immer mehr Länder wie jüngst etwa Myanmar kaufen bewaffnete Drohnen, die häufig bei gezielten Tötungen eingesetzt werden.

Viertens folgten auf jüngere gezielte Tötungen wie etwa des Al-Shabaab-Führers Ahmed Abdi Godane 2014 vergleichsweise wenig Reaktionen. Dieses Schweigen insbesondere Europas veranlasste den ehemaligen Rechtsberater im US-Außenministerium und Nationalen Sicherheitsrat unter US-Präsident George W. Bush, John B. Bellinger, zu Vorwürfen gegenüber den US-Verbündeten. Die Bush-Administration hätten sie heftig kritisiert, weil diese einseitig von dem Recht Gebrauch mache, Gewalt gegen Terroristen in Ländern außerhalb Afghanistans anzuwenden; bei den angeblichen Drohnenangriffen der USA in Pakistan, dem Jemen und Somalia würden sie jedoch weitgehend wegschauen – wie im Falle der Tötung Osama bin Ladens.

Fünftens, und womöglich als Zeichen der Akzeptanz am bedeutendsten, versucht die internationale Gemeinschaft, die Praxis zu regulieren, anstatt sie zu verbieten. Diese Art der Kriegführung werde weiter bestehen, und es sei völlig inakzeptabel, der Welt zu erlauben, blind auf den Abgrund zuzutreiben, ohne jegliche zwischenstaatliche Übereinkunft über die Umstände, unter denen gezielte Tötungen durch Drohnenangriffe rechtens sind, und die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung, warnte der UN-Sonderberichterstatter für Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte, Ben Emmerson, der 2013 eine Untersuchung der Vereinten Nationen zu gezielten Tötungen leitete.

Die Debatte dreht sich gegenwärtig um eine Reihe von Schlüsselproblemen: Zum einen stellt sich die Frage, wer gezielt getötet werden darf: Sollten gezielte Tötungen auf namentlich benannte Personen begrenzt werden, oder sind signature strikes zulässig? Ist die Anwendung der Praxis begrenzt auf Terroristen, oder kann sie auch auf Regierungsvertreter ausgeweitet werden? Zum anderen besteht kein Konsens darüber, wie Ziele ausgewählt werden sollen und wo mit Blick auf die "Geografie des Krieges" gezielte Tötungen erlaubt sein sollen. Ferner gibt es offene Fragen zu der Art und Weise, in der sie umgesetzt werden dürfen. Obwohl Drohneneinsätze weltweit große Aufmerksamkeit erregen, sind sie nicht das einzige Mittel für gezielte Tötungen. Tatsächlich hat Philip Alston, ehemaliger Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, seine Definition gezielter Tötungen nicht allein auf Tötungen durch Drohnen beschränkt: "Eine gezielte Tötung ist die absichtliche, vorsätzliche und wissentliche Gewaltanwendung mit Todesfolge durch Staaten oder ihre Beauftragten unter dem Anschein der Rechtmäßigkeit oder durch eine organisierte bewaffnete Gruppe im bewaffneten Konflikt, gegen ein bestimmtes Individuum, das sich nicht im physischen Gewahrsam des Täters befindet." Zudem ist weiterhin unklar, wer gezielte Tötungen vornehmen darf: Können zum Beispiel die CIA oder andere nichtmilitärische Entitäten gezielte Tötungen vornehmen, oder ist dies nur Streitkräften vorbehalten? Und schließlich muss noch festgelegt werden, welche Schutzmaßnahmen den betroffenen Zielen und der Zivilbevölkerung vor Ort gewährt werden sollten.

Neue Norm?

Kann sich die internationale Gemeinschaft auf Antworten zu diesen Fragen einigen, ist zu erwarten, dass gezielte Tötungen als Praxis beispielsweise in Form eines Übereinkommens institutionalisiert werden und sich anschließend vollumfänglich als Norm etablieren.

Wahrscheinlich wird es sich um eine permissive Norm handeln, die das Verhalten derjenigen reguliert, die entscheiden, auf gezielte Tötungen zurückzugreifen. Mit Blick auf die gegenwärtige Diskussion ist zu vermuten, dass die Institutionalisierung auf gezielte Tötungen durch Drohnen fokussiert sein wird. Denn wenige Länder sind in der Lage, außerhalb ihrer Grenzen Agenten für gezielte Tötungen zu entsenden, eine Drohne einzusetzen ist jedoch relativ einfach. Angesichts der raschen Verbreitung dieser Technologie wird die internationale Gemeinschaft zunehmend die Dringlichkeit sehen, eine gewisse Kontrolle über ihren Einsatz zu erlangen, sodass bestehende Souveränitäts- und Menschenrechtsnormen nicht unterminiert werden. Da es sich bei vielen der entscheidenden Akteure in dieser Debatte um Staaten handelt und diese ihr Monopol über die legitime Zwangsgewalt bewahren wollen, wird die Erlaubnis zur Durchführung gezielter Tötungen wahrscheinlich auf Regierungen beschränkt sein. Ferner könnte diese Norm auf die Situation bewaffneter Konflikte beschränkt werden, da es im internationalen humanitären Völkerrecht einfacher ist als im internationalen Recht der Menschenrechte, die Mechanismen zum Schutz des Rechts auf Leben zu überwinden. Von Regierungen, die diese Praxis anwenden, wird vermutlich erwartet werden, dass sie stringente Rechenschafts- und Transparenzstandards erfüllen, wie die Obama-Administration anmerkte, als sie kürzlich die Daten zu den zivilen Opfern ihres Drohnenprogramms offenlegte.

Der Normenlebenszyklus verläuft jedoch alles andere als friedlich: Besonders in der Anfangsphase, wenn eine neue Praxis noch nicht breit akzeptiert wird, handelt es sich um einen schwierigen Aushandlungsprozess, in dem Befürworter und Gegner die Folgen einer etwaigen Entwicklung zu einer Norm debattieren und darüber verhandeln, welche spezifischen Verhaltensweisen unter welchen Bedingungen erlaubt sein sollen. Dabei kann der Stand einer neuen Praxis geschwächt werden und ihre durch den Rückhalt der internationalen Gemeinschaft verliehene Legitimität wieder abnehmen. Dazu kann es allerdings zu jedem Zeitpunkt des Zyklus kommen, wie etwa das Beispiel der sogenannten Schutzverantwortung (responsibility to protect, R2P) zeigt.

Aus der weit verbreiteten Unzufriedenheit über die humanitären Interventionen der 1990er Jahre entstanden, erfreute sich das Prinzip einer breiten Unterstützung durch internationale Schlüsselakteure wie die Vereinigten Staaten und viele europäische Länder, und es schien gewiss, dass es sich zu einer voll ausgebildeten Norm entwickeln würde. Doch nach der Intervention in Libyen 2011, bei der unter Berufung auf das UN-Mandat letztendlich ein Regimewechsel unterstützt wurde, gelang es Gegnern des Prinzips, die zuvor bestehende Unterstützung für R2P auszuhöhlen. Nachdem Russland und China mit Blick auf den Einsatz in Libyen ein frühes Eingreifen der internationalen Gemeinschaft in den Syrien-Konflikt verhinderten, scheint die Unterstützung für Zwangsmaßnahmen unter Berufung auf das Prinzip der Schutzverantwortung zu schwinden, sodass ihr normativer Status heute unklar ist.

Bei gezielten Tötungen könnte aus mehreren Gründen aus der Praxis keine Norm hervorgehen. So betonen etwa Menschenrechtsorganisationen wie das Centre for Civilians in Conflictund Amnesty International das Ausmaß ziviler "Kollateralschäden" durch gezielte Tötungen. Ferner gelten gezielte Tötungen für betroffene Staaten als mit der Norm der Nichteinmischung unvereinbar. Sowohl Syrien als auch Pakistan protestieren gegen gezielte Tötungen innerhalb ihrer Grenzen und argumentieren, es handle sich dabei um eine unzulässige Verletzung ihrer Souveränität. Zudem besteht die Sorge, dass Terrorgruppen sich Zugriff auf Drohnen verschaffen und damit selbst auf gezielte Tötungen zurückgreifen könnten. Sollte eines dieser Argumente in der Debatte Durchsetzungskraft entwickeln, könnte das die derzeitige Dynamik im Normentstehungsprozess zu gezielten Tötungen zum Stillstand bringen.

Für Gegner von gezielten Tötungen handelt es sich derzeit also um einen Schlüsselmoment. Schließen sie sich zusammen, um ihre Bedenken und Opposition effektiv zu artikulieren, könnten sie verhindern, dass die durch bin Ladens Tod entstandene Möglichkeit der Etablierung einer entsprechenden Norm genutzt wird, oder zumindest den Inhalt der aufkommenden Norm dergestalt beeinflussen, dass ihre Anliegen angemessen berücksichtigt werden.

Übersetzung aus dem Englischen: Sandra H. Lustig, Hamburg.

ist Assistant Professor für Politikwissenschaft am College of Liberal Arts and Sciences der University of Colorado in Denver. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören bewaffnete Konflikte, der Wandel globaler Normen und das humanitäre Völkerrecht. E-Mail Link: betcy.jose@ucdenver.edu