Ende Mai 2016 landete die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (FAS) einen Scoop, der tagelang Nachrichten und Debatten dominierte. In einem Gespräch mit zwei Redakteuren soll der stellvertretende Bundessprecher der AfD, Alexander Gauland, über den Fußballnationalspieler Jérôme Boateng gesagt haben: "Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben." Boateng ist in Berlin geboren und Sohn eines Ghanaers und einer Deutschen. Die FAS machte die Aussage zum Thema ihres Aufmachers. Am 29. Mai erschien sie mit der Schlagzeile: "Gauland beleidigt Boateng".
In der Folge entwickelte sich nicht nur eine lebhafte Debatte über Rassismus, sondern auch eine über guten und schlechten Journalismus. Letztere taugt als Lehrstück darüber, wie sich die Bedingungen, unter denen Journalistinnen und Journalisten arbeiten, in den vergangenen Jahren gewandelt haben – und was das für den professionellen Journalismus heute bedeutet.
Gauland gab in seinen Verteidigungsversuchen keine gute Figur ab, aber auch die Zeitung sah sich massiver Kritik ausgesetzt. AfD-Anhänger kritisierten nicht nur die Zuspitzung der Schlagzeile, sondern zweifelten an Richtigkeit und Zulässigkeit der Berichterstattung. In ihren Verteidigungsversuchen gab dann wiederum die FAS keine gute Figur ab. Der Politikchef des Online-Auftritts der Zeitung twitterte zunächst: "gesagt ist gesagt alles auf Band", musste das aber wenige Stunden später korrigieren: "Gauland nicht auf band aber von beiden Kollegen handschriftlich aufgezeichnet".
Darin sahen Kritiker nun ein Eingeständnis der Zeitung, dass sie es war, die den Namen des Fußballspielers überhaupt in die Diskussion gebracht hat. Aus all den scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüchen, den Ungenauigkeiten und Unklarheiten, schlossen sie, dass die FAS Gauland eine Falle gestellt und ihn unfair behandelt habe. Rechte Publizisten griffen das Blatt wütend an. Der frühere "Welt"- und "Spiegel"-Redakteur Matthias Matussek schrieb auf Facebook: "Ich hatte mich über Gauland empört, wie wahrscheinlich die halbe Nation. Jetzt empöre ich mich über den versuchten Rufmord zweier übereifriger Redakteure auf der Jagd. Ich hatte bisher felsenfest auf die Seriosität der FAS gebaut. Auch diese Gewissheit ist dahin."
Spirale der Medienkritik
Natürlich hat es das immer schon gegeben, dass ein Medium sich kritische Fragen gefallen lassen muss, dass es sich Kritik ausgesetzt sieht – von Lesern, von Betroffenen, von Kollegen – wegen seiner Berichterstattung. Aber Größe, Geschwindigkeit und Heftigkeit der Gegenreaktion im Fall Gauland sind Ausdruck einer speziellen, neuen Situation, in der sich der professionelle Journalismus befindet: Ein erheblicher Teil des Publikums misstraut den Journalisten. Die Leute finden andere Quellen, die sie in ihrem Misstrauen bestärken. Sie finden andere Menschen, die ihr Misstrauen teilen. Das ist nicht nur ein Kreislauf. Es ist eine Spirale.
Es mischen sich, in diesem Fall und grundsätzlich, gute und schlechte Gründe für das Misstrauen. Die FAS hat durch die Art, wie sie mit dem Zitat Gaulands umgegangen ist, tatsächlich Anlass für Kritik gegeben, aber ein Teil der Kritik entsteht auch aus Unwissenheit über die Praxis des Journalismus. Schon die Tatsache, dass Journalisten sich bei einem solchen Gespräch Notizen machen anstatt ein Band mitlaufen zu lassen, bestätigt ihren Argwohn – dabei ist das bei Zeitungsjournalisten keine ungewöhnliche Praxis.
Es mischt sich auch allgemein nachvollziehbare Skepsis mit interessengeleiteter Kritik: Die AfD und ihre Anhänger schüren bewusst (und auch mit irreführenden Aussagen) Misstrauen, um die Gegenseite in diesem Konflikt zu diskreditieren. Auch das ist prinzipiell nicht neu; neu ist aber, dass sich die Machtverhältnisse verschoben haben. Die offizielle Seite der AfD hat auf Facebook über eine Viertelmillion Freunde. Allein diese Zahl lässt erahnen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Leitmedien wie die FAZ die Kommunikation dominierten; in denen sie die einzigen waren, die über ein Megafon verfügten, mit dem sie zu Hunderttausenden Menschen sprachen. Sie haben nicht mehr automatisch die Diskurshoheit – wenn man überhaupt noch davon sprechen kann, dass es einen Diskurs gibt und nicht viele Konversationen, die parallel stattfinden und gar nicht mehr unbedingt aufeinander eingehen.
Medien sehen sich heute in gleichem Maße kritischer Beobachtung ausgesetzt, wie es früher nur die Objekte ihrer Berichterstattung waren. Nach einer Veröffentlichung wie der über Gauland wird nicht nur jedes Wort von Gauland auf die Goldwaage gelegt, sondern auch jedes Wort der FAZ. Die klassischen Medien tun sich immer noch schwer, damit umzugehen. Die Situation verschärft sich, wenn die Medien von Teilen des Publikums als Gegner wahrgenommen werden. Auch das ist eine Wahrnehmung, die einerseits gezielt von Parteien und Gruppen aus ideologischen und strategischen Gründen gefördert wird, um sich als Opfer darzustellen und unliebsame – auch korrekte – Berichterstattung zu diskreditieren. Aber es ist eine Wahrnehmung, die andererseits zum Beispiel damit korreliert, dass einige Medien die AfD als Gegner behandeln, als neue Gruppierung, die es nicht nur kritisch zu begleiten gilt, wie alle anderen auch, sondern zu bekämpfen.
Journalisten werden nie, egal wie geschickt sie handeln, all diese "Gegner" überzeugen. Aber sie haben die Chance, ihnen zumindest nicht unnötig Munition zu geben. Und sie haben die Chance, den Teil des Publikums zu überzeugen, der kritisch ist, aber nicht feindselig: Menschen, die (noch) keine Gegner sind, sondern Zweifler und Kritiker, die bei einer Auseinandersetzung zwischen AfD und FAZ nicht automatisch der Darstellung der FAZ glauben, die sich kritisch mit Medien und ihrer Berichterstattung, aber auch mit der Politik und den anderen Akteuren auseinandersetzen – kurz: Menschen, die offen sind für Argumente, aber die tatsächlich auch überzeugt werden wollen und müssen. Das ist, einerseits, natürlich genau das Publikum für Leitmedien wie die FAZ. Es ist aber, andererseits, nicht mehr automatisch deren Publikum. Sie können es nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen. Und sie können nicht mehr mit ihm kommunizieren, als sei ihre Berichterstattung über jeden Zweifel erhaben, als stünde ihre Autorität außer Frage und bürge allein ihr behaupteter Anspruch schon für Qualität.
Den Eigenen Wert Erklären
Seit Jahren wird beschrieben, wie die digitale Revolution die Bedeutung von Massenmedien erodiert. Aber erst seit kurzem sind diese Auswirkungen auch praktisch greifbar und unübersehbar. Die klassischen Medien haben in vielfacher Hinsicht ein Monopol verloren, ihre Gatekeeper-Rolle. Sie sind nicht mehr die einzigen, die an ein großes Publikum senden – jeder kann publizieren. Sie kontrollieren nicht mehr allein, welche Informationen an eine breite Öffentlichkeit kommen – jeder kann sich aus den unterschiedlichsten Quellen informieren. Sie sind nicht einmal mehr diejenigen, die exklusiv bestimmen, welche Nachrichten wichtig sind und große Verbreitung finden – das tun inzwischen die Algorithmen von Unternehmen wie Google oder Facebook. Und als wäre der Verlust an Bedeutung, Macht und Einfluss nicht schlimm genug, verlieren sie auch noch Einnahmen und damit Ressourcen, um hochwertigen Journalismus zu produzieren, der ihre Einzigartigkeit oder Unverzichtbarkeit beweisen könnte.
Professionelle Journalisten und klassische Medien bestimmen immer noch in einem sehr großen Maße, worüber die Menschen reden und wie sie das tun. Aber der Verlust des Monopols ist real – und er betrifft den gesamten Kommunikationsprozess vom Akteur bis zum Rezipienten. Prominente kommunizieren inzwischen oft über Instagram oder Twitter direkt mit ihren Fans – die Medien erzählen das dann nur noch nach. Politiker nutzen eigene Fotografen und Kanäle jenseits der klassischen Medien, um mit ausgewählten Bildern ihr Image zu prägen – Medien greifen auf diese Fotos zurück, weil sie attraktiv und nah sind. Pressestellen fertigen eigene Videos von Ereignissen an und gewähren nur so Einblicke hinter die Kulissen – Medien zeigen sie mangels Alternative. Parteien kommunizieren via Facebook und Twitter mit der Öffentlichkeit – und gelten dabei nicht automatisch als weniger vertrauenswürdig: Dass sie Partei sind, mag ihre Aussagen in den Augen eines Teils des Publikums sogar noch überzeugender wirken lassen. Die Faktoren Nähe und Authentizität rivalisieren mit Qualitäten journalistischer Distanz und Unabhängigkeit.
Scheinbar ist man als intensiver Social-Media-Nutzer besser informiert denn als treuer Zeitungsleser: Man bekommt die Informationen schneller und ungefilterter, sie sind oft auch viel aufregender (wenn auch im Zweifel nicht unbedingt wahr). Professioneller Journalismus muss hier viel mehr erläutern: Warum manche Meldungen später kommen (weil sie erst überprüft werden), warum manche Details fehlen (weil sie nichts zur Sache tun, Persönlichkeitsrechte verletzen oder Minderheiten diskriminieren, dazu unten mehr) – und, ganz fundamental: Warum er überhaupt nötig ist, wenn man sich doch aus allen möglichen Quellen "direkt" informieren kann. Der Wert von Journalismus scheint weniger Menschen einleuchtend als in den Jahrzehnten zuvor, und das hängt nicht nur damit zusammen, dass man online so viel umsonst bekommt, sondern auch mit einem fundamentalen Unwissen über den Wert der Arbeit von Menschen, die vor der Veröffentlichung von Informationen prüfen, kritisch nachfragen, recherchieren. Journalisten müssen das – und sich – in einem viel größeren Maße erklären: ihr konkretes Handeln (wie im Fall Gauland) und journalistische Handlungsweisen generell. Und sie müssen gleichzeitig beweisen, dass sie diesem höheren Anspruch auch genügen: dass sie tatsächlich alles tun, um möglichst gut zu informieren, nicht auf Gerüchte und Falschmeldungen hereinfallen, PR-Drehs und Manipulationen entlarven, fundiert und kenntnisreich berichten.
Das ist schwer, aber alternativlos: Professionelle, seriöse Medien müssen anders sein, wenn sie eine Chance haben wollen gegen das, was man auf allen möglichen Wegen aus allen möglichen Quellen gratis im Netz findet. Aber gleichzeitig wird diese Andersartigkeit vom Publikum nicht automatisch als Vorteil wahrgenommen. Seriöse Medien sehen sich doppelt gering geschätzt: von Leuten, die ohnehin keinen Wert im Journalismus sehen, und von Leuten, die ihre hohen Ansprüche an den Journalismus von ihnen nicht erfüllt sehen.
Schnell sein oder genau sein?
Der Verlust der Gatekeeper-Rolle stellt den Journalismus vor neue Herausforderungen. Besonders deutlich wurde das jüngst angesichts der Diskussion um die Richtlinie 12.1 im Pressekodex, die empfiehlt, die Nationalität oder Herkunft von Straftätern und Verdächtigen nur dann zu nennen, wenn "für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht". Diese Richtlinie war immer schon umstritten, gerade auch unter Journalisten, aber derzeit steht sie besonders unter Druck: nicht nur aufgrund der speziellen Lage wegen der vielen Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, und der aufgeregten Debatte nach den Übergriffen ausländischer Männer in der Silvesternacht in Köln, sondern allein schon, weil die Richtlinie ohnehin nicht verhindern kann, dass bestimmte Informationen die Öffentlichkeit erreichen.
Wer wissen möchte, welcher Nationalität oder Ethnizität ein Täter oder Verdächtiger angehört, findet heute Quellen dafür. Sowohl offizielle Quellen, die früher nur Journalisten zugänglich waren (etwa Polizeiberichte) oder auch Gerüchte aus der Nachbarschaft, die mal mehr, mal weniger fundiert sind, sind plötzlich einem globalen Massenpublikum zugänglich. Rechte Stimmungsmacher sammeln und kommentieren jede Meldung darüber, wenn ein Asylbewerber eine Frau vergewaltigt hat – und weil sie ausschließlich solche Fälle sammeln, ist jeder Einzelfall Beweis dafür, dass alle Asylbewerber chronische Vergewaltiger sind. Klassische Medien können nicht nur nicht verhindern, dass sich auf diese Weise Vorurteile entwickeln und verfestigen. Sie stehen, wenn sie – aus guten Gründen
Die Alternative ist allerdings auch nicht besser: Wenn klassische Medien im Wettlauf mit Social Media ungeprüft Gerüchte verbreiten und reflexhaft reagieren, verlieren sie ebenfalls Vertrauen – und berauben sich darüber hinaus eines gewichtigen Arguments dafür, dass ihre Existenz wichtig und ihre Inhalte zum Teil kostenpflichtig sind. Die einzige Chance für Qualitätsjournalismus besteht darin, dass er seine Andersartigkeit täglich neu beweist: durch handwerklich saubere Arbeit – das Recherchieren und professionelle Aufbereiten von Informationen – und dadurch, dass er sich erklärt, Rechenschaft ablegt, kommuniziert. Die deutschen Medien sind besser darin geworden, teilweise auch aus der Not und unter dem Druck skeptischer Leser. Als etwa in der Folge der Kölner Silvesternacht die Presserats-Richtlinie 12.1 von Lesern angeprangert wurde, erklärten viele Zeitungen die eigene Praxis und die Logik dahinter. Das ist richtig und hilfreich, war aber möglicherweise zu spät und zu wenig angesichts der Vertrauenskrise des Journalismus.
Im Zusammenhang mit der großen Zahl von Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kam, haben viele Medien eine neue Rolle für sich gefunden: als Entlarver von Falschmeldungen, die – teils unbedarft verbreitet, teils gezielt befördert – im Netz kursieren. Immer wieder gehen sie Schauermärchen über Untaten von Asylbewerbern nach und demonstrieren den Wert einer Recherche, die sich nicht nur auf Hörensagen und Zusammengereimtes verlässt. Aber selbst das ist im neuen Klima des Misstrauens nicht unproblematisch, stellt sich doch manchem Beobachter die Frage: Sind die Recherchen primär durch den Kampf gegen Falschmeldungen motiviert – oder durch den Kampf für die Illusion, dass die Migranten keine Probleme mit sich bringen? Es ist gut, dass die Medien nüchtern überprüfen, wie viele Verbrechen tatsächlich von Asylbewerbern verübt werden. Es ist nicht so gut, wenn dabei der Eindruck vermittelt wird, dass Asylbewerber überhaupt keine Verbrechen begehen könnten.
Auch deshalb traf die Wut die Medien mit einer solchen Wucht, als erst mit ein paar Tagen Verzögerung bekannt wurde, dass es in der Silvesternacht in Köln zu massenhaften Übergriffen durch Ausländer gekommen war. Die Ereignisse wurden als Beleg dafür wahrgenommen, dass die Medien den Menschen etwas vormachen wollen, dass jedes einzelne Aufdecken eines falschen Gerüchtes über Ausländerkriminalität nur ein Ablenkungsmanöver ist, dass sie Komplizen der Mächtigen sind. Diese Vorwürfe sind sicher zum Teil falsch. Aber die Medien selbst haben genügend Anlass gegeben, ihnen zu misstrauen.
Kritik Ernst nehmen, Haltung beweisen
Der behaupteten oder tatsächlichen Nähe zu den Eliten entspricht eine wahrgenommene Distanz zur Bevölkerung und sogar dem eigenen Publikum. In den vergangenen Monaten, als sich abzeichnete, dass sich die "Lügenpresse"-Rufe nicht ausschließlich als Hassparolen von Unverbesserlichen abtun ließen, sondern einen Resonanzraum in einem gefährlich großen Teil der Gesellschaft fanden, tauchte plötzlich in mehreren großen Medien das Genre des Hausbesuchs auf. Journalisten trafen Leser, ehemalige Leserinnen, Kritiker, und ließen sich erklären, was ihnen eigentlich an ihrer Berichterstattung missfällt, woher das Misstrauen kommt. Es waren Erkundungen und Erkundigungen, Versuche einer Verständigung und eines Dialogs. Das war gut oder mindestens gut gemeint, aber es wirkte auch wie ein Armutszeugnis: dass sich die Journalisten dem Publikum nähern mussten wie fremden Wesen, und dass sie das so spät taten. Zu lange hatten sie angenommen, sich nicht erklären zu müssen, handelten, als hätten sie immer noch ein Meinungsmonopol, als wäre man selbst immer noch ein Gatekeeper, der unbequeme Wahrheiten und bequeme Unwahrheiten einfach ignorieren könnte. Journalisten müssen sich stellen, der berechtigten Kritik und den unberechtigten Vorwürfen. Wegducken gilt nicht mehr.
Dass ein Buch wie Udo Ulfkottes "Gekaufte Journalisten", das sich über viele Wochen oben in den Bestsellerlisten hielt, fast nirgends in den klassischen Medien vorkam, um sich mit seinen Behauptungen auseinanderzusetzen oder wenigstens mit der offenkundigen Anziehungskraft, die sie auf viele Menschen hatten, ist ein bestürzendes Versäumnis und nicht untypisch. Die etablierten Medien müssen sich damit beschäftigen, wie die Kritiker oder Verächter die Welt sehen, welchen Missverständnissen sie aufsitzen, welchen Lügen sie glauben – aber auch, welche berechtigten Vorwürfe sie ihnen machen. Das ist in Zeiten des Internets leicht, geschieht aber viel zu selten. So wie sich ein Teil des Publikums abgewandt hat und gar nicht mehr überprüft, ob sein Urteil über die Medien stimmt, so scheinen die Medien einen Teil des Publikums abgeschrieben zu haben.
Dabei würde es helfen, die zentralen und manchmal geradezu mythisch überhöhten Ereignisse zu kennen, auf die sich Kritiker berufen, um zu "belegen", dass die Presse nicht wirklich frei ist. Dazu gehört zum Beispiel ein "sonderbares Treffen" im Kanzleramt 2008, über das der "Freitag"-Verleger Jakob Augstein zwei Jahre später in der "Süddeutschen Zeitung" schrieb: Zum Ausbruch der großen Finanzkrise soll Merkel "die bedeutenden Chefredakteure der bedeutenden Medien" eingeladen und gebeten haben, keine Panik zu verbreiten. "Sie haben sich daran gehalten, die Chefredakteure", schrieb Augstein.
Journalisten müssen dahin gehen, wo es wehtut, sie müssen wissen, was ihnen vorgeworfen wird, und sie können Vorwürfe, auch wenn sie ihnen lächerlich erscheinen, nicht einfach ignorieren – und wenn sie nicht lächerlich sind, schon gar nicht. Auch das ist, natürlich, eine Gratwanderung. Es geht nicht um Anbiederung; es kann auch nicht gut sein, sich in aussichtlosen Debatten zu verkämpfen und noch auf die letzte Kritik einzugehen. Was ein Medium glaubwürdig und vertrauenswürdig macht, ist nicht nur Demut, sondern auch Selbstbewusstsein. Journalisten dürfen stolz sein auf gelungene Arbeiten, und zur oft von ihnen geforderten Haltung gehört auch, einen Empörungssturm auszuhalten, ohne einzuknicken.
Aber Haltung und Selbstbewusstsein sind nicht dasselbe wie Arroganz und Hybris. Journalisten müssen Rechenschaft ablegen, so wie sie es ganz selbstverständlich von den Protagonisten, über die sie berichten, auch verlangen. Sie müssen streiten, erklären und – ein in diesem Zusammenhang erstaunlich selten erwähntes Konzept – argumentieren. Das ist mühsam, und oft genug wird es scheitern – auch am Unwillen eines Teils der "Gegenseite", sich überhaupt noch auseinanderzusetzen. Aber wenn wir nicht mehr glauben würden, dass sich Menschen von Worten, Tatsachen, Argumenten überzeugen ließen, dann müssten wir den Beruf des Journalisten aufgeben.