Jahrestage spielen in der politischen Historiografie – nicht nur jener der Volksrepublik (VR) China – eine zentrale Rolle, dienen sie doch der Rekapitulation der Vergangenheit im Sinne der Legitimierung der Gegenwart. Neben dem Tag der Staatsgründung der VR China (1. Oktober 1949) werden vor allem Ereignisse der Revolutionsgeschichte zum Anlass genommen, um der Rolle der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) bei der Befreiung des Landes von der Fremdbestimmung durch die "imperialistischen" Kolonialmächte und bei der Abschaffung feudalistischer Strukturen zu gedenken. Dabei bindet die Parteigeschichte auch Ereignisse ein, die zeitlich vor der Gründung der KPCh (1921) wie auch vor der Ausrufung der VR China liegen – so die Xinhai-Revolution des Jahres 1911, die das Ende der dynastischen Ära einläutete, oder auch die sogenannte Vierte-Mai-Bewegung des Jahres 1919. Beide Ereignisse stehen für die Forderung nach einer Erneuerung der politischen Systemstrukturen, nach Modernisierung und Reform der Gesellschaftsordnung. Auch der (Widerstands-)Krieg Chinas gegen Japan (1937 bis 1945) wird im Zusammenhang mit ausgewählten Jahrestagen immer wieder thematisiert.
Während all jene Ereignisse, die in die Geschichte der Machteroberung durch die KPCh eingebunden werden, einer permanenten Nacherzählung und kontextabhängigen Umschreibung unterliegen, stehen andere historische Ereignisse, die in die Phase des Staatsaufbaus der VR China unter Mao Zedong ab 1949 fallen, nicht zur Diskussion. Für die maoistischen Massenkampagnen wie den "Großen Sprung nach vorn" (1958 bis 1961) oder die Kulturrevolution (1966 bis 1976) finden sich nur sehr sparsame offizielle Interpretationen, wie diese zu bewerten seien. Eine Aufarbeitung der Fehlentwicklungen ist nur bedingt erfolgt.
So wird Mao Zedong weiterhin als charismatischer Staatsgründer gefeiert – sein Mausoleum findet sich im Herzen des chinesischen Systems, direkt auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem Tian’anmen, in Beijing. Es steht in einer Sichtachse mit dem Monument für die Helden des chinesischen Volkes, das mit acht großformatigen Reliefs die chinesischen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts in Marmor und Granit gemeißelt abbildet,
Kulturrevolution unter kapitalistischen Vorzeichen?
2016 jährt sich der Beginn der Kulturrevolution zum 50. Mal. Bis heute hält die KPCh an der Deutung fest, dass die Verantwortung für die damalige politische Radikalisierung und die bürgerkriegsähnlichen Zustände allein der sogenannten Viererbande um Maos Frau Jiang Qing zuzuschreiben seien. Weitere Entwicklungsfehlschritte und das partielle Scheitern der Politik in der Mao-Ära werden zudem damit begründet, dass die VR China seinerzeit in einer "falschen" Entwicklungsphase verortet worden sei. So betonen die verschiedenen postmaoistischen Politikergenerationen in ihren Erklärungen immer wieder, dass sich die VR China in der Frühphase des Sozialismus befinde und symbolische 100 Jahre noch in dieser verweilen werde. In dieser Phase sei die Koexistenz sozialistischer und kapitalistischer Wirtschaftsformen erlaubt, da als oberstes Ziel Modernisierung, Armutsbekämpfung und der Aufbau einer Gesellschaft des bescheidenen Wohlstands (xiaokang shehui) festgeschrieben seien. Mit der Zauberformel der "zwei Hundert" (liang’ge yi bai nian) hat der Staatschef Xi Jinping die Entwicklungs- und Modernisierungsutopien seiner Vorgänger aufgegriffen und mit einem neuen Zeitplan versehen: Bis 2021, dem 100-jährigen Jubiläum der KPCh, soll die VR China die Zielvorgaben einer "Gesellschaft des bescheidenen Wohlstands" erreicht haben; bis 2049, wenn sich der Tag der Staatsgründung zum 100. Mal jährt, soll aus der Volksrepublik eine hochentwickelte Großmacht geworden sein.
Das, was der Große Sprung und die Kulturrevolution nicht zu leisten vermochten, scheint nun unter "kapitalistischer" Flagge, verpackt als Modell des "Sozialismus mit chinesischen Charakteristika", in greifbare Nähe gerückt zu sein: China ist zur weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft nach den USA aufgestiegen; der chinesische Renminbi ist in den Währungskorb des Internationalen Währungsfonds aufgenommen worden; als globaler Investor und Financier sorgt "China" weltweit für Schlagzeilen. Erneut ist das Land auf einem Modernisierungskurs, diesmal allerdings nicht basierend auf einem radikalen Ikonoklasmus, sondern unter Rückbesinnung auf eigene, "chinesische" Werte. So werden seit einigen Jahren Forschungsprojekte gefördert, die unter Rückgriff auf die vormoderne chinesische Staatsphilosophie "alternative" Governance-Konzeptionen erarbeiten sollen. Parallel zu der politischen Reaktivierung konfuzianischer Konzepte aber zeichnet sich unter Xi Jinping eine Wiederkehr maoistischer Formeln und Symbole ab – die bei nicht wenigen Beobachtern Erinnerungen an den Personenkult um Mao während der Phase der Kulturrevolution wachrufen.
Wiederaufleben der "Massenlinie"
Unter Xi Jinping erleben diverse Konzepte der maoistischen Gedankengebäude eine Renaissance.
Die unter Xi Jinping im Juni 2013 zunächst auf den Zeitraum eines Jahres angelegte Kampagne hatte primär die Gleichschaltung der Führungskader und die Wiederherstellung der Parteidisziplin zum Inhalt. Bekämpft werden sollten die "vier Übel" Formalismus, Bürokratismus, Hedonismus und Extravaganz.
Neben der Massenlinienkampagne und der Korrektur des Arbeitsstils der Partei stieß Xi zudem eine Kampagne gegen "westliche" Werte an, die auch vor der Beschneidung der akademischen Freiheiten der Universitäten keinen Halt machte. Ein parteiinternes Papier hatte dafür "sieben Übel" identifiziert, die als systemgefährdend eingestuft wurden: westlich-konstitutionelle Demokratie, universelle Werte, Zivilgesellschaft (als Opposition zum Staatsapparat), Neoliberalismus (als Gegenmodell zum staatsgesteuerten chinesischen Kapitalismus), Medien (und Meinungsfreiheit), "historischer Nihilismus" sowie Kritik an der Politik von Reform und Öffnung und dem chinesischen Modell des Sozialismus.
Die letzten beiden Punkte treffen dabei die ideologische Schlagader des chinesischen Systems. Denn Historiografie ist ein Politikum: Die Geschichtsinterpretation dient der Rechtfertigung und Fortschreibung des Herrschaftsanspruchs der jeweiligen Führungsgruppe. Die unter der derzeitigen (fünften) Führungsgeneration der VR China an die Oberfläche gelangenden, zuvor nicht offen ausgetragenen Kontroversen innerhalb der politischen und intellektuellen Eliten manifestieren sich als Wettstreit der "Ideologien", als Konkurrenz zwischen einem liberalen (westlich inspirierten) und einem chinesisch-sozialistischen Entwicklungsweg. Die Generallinie der Partei ist dabei – auch unter Xi – mit einem entschiedenen Festhalten an Chinas Sonderform des Sozialismus gesetzt.
Der Rückgriff auf maoistische Slogans und die verklärende, zum Teil sogar vergötternde Erinnerung an Mao bleiben heikle, politisch hochgradig explosive Unterfangen. Für die Gewaltexzesse und die Verwüstungen der Kulturrevolution wurde allein die "Viererbande" verurteilt, der Mythos Mao aber blieb weitgehend unangetastet. Offiziell gilt Mao zwar als "zu 70 Prozent gut, zu 30 Prozent schlecht", aber das Fehlen einer aufrichtigen Aufarbeitung der maoistischen Massenkampagnen hat dazu geführt, dass zahlreiche innergesellschaftliche Wunden noch längst nicht verheilt sind.
So zog im Januar 2016 eine überlebensgroße, goldfarbene Mao-Statue in der Provinz Henan die Aufmerksamkeit der internationalen Presse auf sich: Direkt nach ihrer Errichtung war auf chinesischen Mikroblogs eine emotionale Kontroverse über die Perfidität dieser neuen Heldenverehrung entbrannt – schließlich hatte die Provinz Henan seinerzeit besonders heftig unter den Folgen der gescheiterten maoistischen Modernisierungskampagnen gelitten. Die Kritik führte schließlich dazu, dass die Statue, die angeblich von einem lokalen Unternehmer beauftragt worden war, schon kurze Zeit später und ohne weitere Erklärungen wieder demontiert wurde. Der Vorgang erinnert an das Gastspiel einer Konfuzius-Statue auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing im Januar 2011, die ebenfalls sehr rasch nach ihrer Aufstellung in einer Nacht- und Nebelaktion wieder entfernt wurde.
Die KPCh schreckt vor einem Austausch ihrer offiziellen Leitideen und philosophischen Referenzsysteme zurück – ebenso wie vor einer Wiederbeschwörung der Geister der maoistischen Vergangenheit. Letzteres zeigte sich 2012/2013 exemplarisch mit der klaren Absage der KPCh-Führung an das in der Stadt Chongqing unter dem dortigen Parteichef Bo Xilai etablierte neomaoistische Modell. Bo, der nicht nur in Politik und Ökonomie, sondern auch kulturell eine Rückbesinnung auf Mao anstrebte, wurde abgesetzt und unter anderem wegen Amtsmissbrauchs verurteilt. Auch die Onlineforen der "Neuen Linken", die Bo unterstützt hatten, wurden daraufhin geschlossen.
Umgang mit der Vergangenheit
Die Kulturrevolution steht für die "zehn dunklen Jahre" in der politischen Geschichte der VR China, die tiefe Narben und Eindrücke in der kollektiven Erinnerung der chinesischen Bevölkerung hinterlassen haben. Eine Besonderheit ist allerdings, dass diese Phase der chinesischen Geschichte nicht offen debattiert wird, sondern mit einer offiziellen Interpretation versehen wurde.
Die gesellschaftlichen Folgen der Kulturrevolution wurden zunächst in der Literatur der späten 1970er Jahre aufgegriffen. Namensgebend für diese Literaturgattung, die "Narbenliteratur", war die Erzählung "Narben" (1978) von Lu Xinhua, in der die politische Diffamierung und die Auslieferung engster Familienangehöriger durch die Generation der Rotgardisten thematisiert werden. Zu einem weiteren Hauptwerk dieser Strömung zählt Liu Xinwus Erzählung "Der Klassenlehrer" (1977), in dem die Verführung der chinesischen Jugendlichen durch die "Viererbande" und der Sog der an Fahrt gewinnenden Kulturrevolution dargelegt werden. Verschiedentlich ist die Kulturrevolution auch von chinesischen Filmemachern abgehandelt worden – viele dieser Filme sind allerdings nie in China gezeigt worden. Vielfach geht es in Literatur und Kunst um Schuld und (nicht abzuleistende) Sühne, um den Versuch, in die Normalität zurückzufinden. Die "neue" Normalität der postmaoistischen Ära ist zum Teil noch immer durch eine Sprachlosigkeit, durch die Unfähigkeit der Vergangenheitsverarbeitung geprägt.
Einzelne ehemalige Rotgardisten haben das Schweigen zwar mit der Veröffentlichung ihrer Memoiren durchbrochen,
Renaissance des Personenkults
Mit der Abschaffung des Amts des Parteivorsitzenden sollte in der 1978 eingeleiteten Reform-Ära das Prinzip der kollektiven Führung als ehernes Grundaxiom verankert und eine erneute Massenmobilisierung durch einen übermächtigen charismatischen Führer unterbunden werden. Die Parteiführung wurde an den Generalsekretär übergeben, der als primus inter pares agieren sollte. Seit der Übertragung der Staats- und Parteigeschäfte an die fünfte Führungsgeneration zeichnet sich nun aber eine neuerliche Machtkonzentration in den Händen des Generalsekretärs Xi Jinping ab. Xis Kampagnen greifen dabei bereits seit Langem debattierte Fehlentwicklungen auf: Korruption und Machtwillkür lokaler Kader werden als akute Gefahr für die Effizienz des Systems eingestuft. Um das verloren gegangene Vertrauen der Bevölkerung wiederherzustellen, hat Xi eine Stärkung des Rechtssystems sowie eine Sanktionierung korrupter Kader ausgerufen und parallel hierzu eine generelle Korrektur des Arbeitsstils der Parteikader angestoßen.
Neben der Massenlinien-Kampagne sind es vor allem Elemente eines neuen Personenkultes um Xi, die an die Vergötterung Maos im Zuge der Kulturrevolution erinnern. So liegt eine Auswahl der wichtigsten Reden Xis vor, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.
So wird er zum Beispiel in einem Musikvideo unter dem Titel "Wenn du jemanden heiraten willst, dann heirate jemanden wie Xi", als heroischer Parteiführer besungen, der im Kampf gegen "Tiger und Fliegen" der Korruption ein Ende bereitet. Unterlegt ist das Ganze mit Bildern, die Xi bei der Abnahme einer Militärparade in Beijing zeigen. Die Einbettung in einen militärischen Kontext und die Betonung der Integrität und moralischen Vorbildfunktion erinnert dabei an ein Schlüsselnarrativ der chinesischen Parteigeschichte: die Stilisierung des Soldaten Lei Feng zum loyalen Mustersoldaten der Volksbefreiungsarmee ab 1963. Auch zu den von Xi konzipierten "Vier Umfassenden" (si ge quanmian) – gemeint sind Leiformeln, mit denen alte Ideologeme und aktuelle Entwicklungsstrategien zusammengeführt werden – kursieren ähnlich verherrlichende Videos. Zudem findet sich eine Neuauflage von Ansteckbuttons, auf denen Xi im Kreise seiner vier Vorgänger zu sehen ist – eine Ikonografie, die starke Anklänge an kulturrevolutionäre Plakate aufweist, auf denen Mao mit den Theoretikern des Marxismus-Leninismus in eine Reihe gestellt wurde.
Rückbesinnung auf "chinesische" Werte
Wenngleich der Personenkult und die Neuauflage der Massenlinie terminologisch wie auch konzeptionell Erinnerungen an die Mao-Ära wecken, sollte doch nicht übersehen werden, dass ein grundlegender Unterschied zwischen den gegenwärtigen Kampagnen und der Phase der Kulturrevolution vorliegt: Diese hatte sich gegen bourgeoise, reaktionäre Kräfte in der Partei und traditionelle (bourgeois-feudalistische) Werte in der Gesellschaft gerichtet. Sie knüpfte damit an den Ikonoklasmus früherer Modernisierungswellen wie die Vierte-Mai-Bewegung an. Xi Jinping hat jedoch wiederholt betont, dass sich die KPCh als Bewahrerin der chinesischen Kultur und Tradition verstehe und diese "chinesischen" Werte die DNA des Systems darstellten. Mehrfach hat Xi den Geburtsort des Konfuzius in Qufu aufgesucht; auch die Konfuzius-Tempel und -Gedenkstätten sind restauriert worden. Insgesamt zeichnet sich somit eine Rückbesinnung auf die philosophischen Grundlagen Chinas ab, zu denen neben dem Konfuzianismus auch der Daoismus und der Buddhismus zählen.
Eine Gleichsetzung der politischen Kampagnen unter Xi Jinping mit jenen der Mao-Ära wäre somit irreführend. Was sich allerdings abzeichnet, ist eine aktive Rezentralisierung und Bündelung politischer Macht in den Händen der obersten Parteiführung. Dingceng sheji, "top-level design", lautet das Schlagwort, mit dem Xi den Anspruch unterstreicht, umfassende Reformen einzuleiten und diese zentral zu koordinieren. Erschwert wird die Umsetzung dieser Reformen allerdings durch unter der Oberfläche ablaufende Linienkämpfe zwischen den konkurrierenden Flügeln innerhalb der KPCh, die teils neomaoistischen, teils neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwürfen anhängen.
Am 17. Mai 2016 veröffentlichte die "Volkszeitung", die als Sprachrohr der Partei dient, unerwartet einen Kommentar, der vor einem Rückfall in die Kulturrevolution warnt. Die Partei ringt angesichts sich zuspitzender Faktionskämpfe um Geschlossenheit und die Wahrung der historiografischen Deutungshoheit – und reagiert damit präemptiv auf die Debatten über 50 Jahre Kulturrevolution, die außerhalb der VR China geführt werden.