"We all live in Chernobyl" prangte am 3. Mai 1986 auf einem Plakat, das ein Demonstrant auf der Baustelle des Atomkraftwerks Shoreham auf Long Island, knapp 7500 Kilometer Luftlinie vom explodierten sowjetischen Reaktor entfernt, in die Höhe streckte.
Obgleich auf der sowohl geografisch als auch ideologisch äußerst weit entfernten anderen Seite des Eisernen Vorhangs, reaktivierte und veränderte die Katastrophe von Tschernobyl zumindest zeitweilig einen Teil der nordamerikanischen Antiatomkraftbewegung, die ihren Höhepunkt bereits in den 1970er Jahren überschritten hatte und meist nur noch auf lokaler Ebene aktiv war. Die Nachrichten und Gerüchte über den Unfall beendeten diese Starre vorerst. Plötzlich war Atomenergie auch außerhalb der Aktivistenszene wieder zu einem heftig umstrittenen Thema geworden – nicht nur in den Bundesstaaten, in denen Kernkraftwerksbetreiber ungeduldig darauf warteten, den Startknopf zu drücken. Auch in anderen Regionen mit geplanten oder operierenden Kernkraftwerken flammte die Debatte über die Risiken der Atomenergie wieder auf.
Doch nicht nur im Lager des ideologischen Hauptgegners, das vom radioaktiven Fallout nicht einmal unmittelbar betroffen war, hatte die Reaktorexplosion an der ukrainisch-belarussischen Grenze das Thema Atomenergie in die Öffentlichkeit zurückkatapultiert. In der Türkei ließ sich Ministerpräsident Turgut Özal scherzend beim Teetrinken ablichten, um die besorgte Bevölkerung der Schwarzmeerregion zu beschwichtigen, deren Tee die westeuropäischen Länder als zu stark belastet abschlugen.
"Tschernobyl" – gemeint ist hier und im Folgenden nicht allein das Unfallereignis, sondern der gesamte Katastrophenprozess – setzte Sensibilisierungs- und Mobilisierungsprozesse in breiten Teilen der Bevölkerung verschiedener Länder in Gang, insbesondere in den sozialen und ökologischen Bewegungen. Darüber hinaus beeinflusste es die Entwicklung der Atomindustrie weltweit. Mehr oder weniger offen kommunizierten und mehr oder weniger freiwillig inspizierten Ingenieure und Atomkraftwerksbetreiber die Anlagendesigns und Schutzmechanismen ihrer Reaktoren, während politische Institutionen geflissentlich die bestehenden Notfallregularien prüften.
Dass Tschernobyl einen Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt, wird heute kaum noch bezweifelt. Allein den transnationalen Verflechtungen und komplexen Ambivalenzen, die diesen Wendepunkt ausmachen, gilt bis heute selten vertieftes historisches Interesse. Einerseits wissen wir so viel über Tschernobyl und andererseits so wenig.
26. April 1986: Unfallhergang
In den zurückliegenden zwanzig Jahren ist kaum neues Wissen über den Unfall und dessen Ursachen hinzugekommen. Als gesichert gilt der Unfallhergang: In der Nacht vom 25. zum 26. April 1986 führten die Operatoren einen Sicherheitstest im jüngsten der vier RMBK-Reaktoren
Einige Details der Zerstörung des Reaktors, der erst seit drei Jahren in Betrieb war, sind immer noch unvollständig und werden es vermutlich immer bleiben, weil sich nicht alle chemischen und physikalischen Prozesse, die zur Explosion führten, gänzlich nachvollziehen lassen. Lücken werden mit schwer belegbaren Theorien, Mythen und Verschwörungsfantasien gefüllt, die von lokalen Erderschütterungen über explosionsauslösende Magnetfelder bis hin zu Sabotageakten des amerikanischen Feindes reichen. Abgesehen von diesen Theorien dominieren drei Narrative, um die Ursachen des Unfalls zu erklären: menschliches Versagen, Mängel im technischen Design des Reaktors und Missmanagement.
Laut offizieller Angaben lebten zum Zeitpunkt des Unfalls etwa sieben Millionen Menschen in dem Gebiet, dass durch den radioaktiven Fallout kontaminiert wurde. Bis zu 350.000 Menschen wurden evakuiert, umgesiedelt oder verließen das Gebiet auf eigene Initiative. Heute leben noch etwa fünf Millionen Menschen in mehr oder weniger kontaminierten Landschaften. In Belarus, dem am stärksten vom radioaktiven Fallout betroffenen Land, der Ukraine und Russland haben sich seit Tschernobyl nicht nur Besiedelungsmuster durch Evakuierung, Umsiedlung und Wiederansiedelung geändert, sondern auch Landschaften, Ernährungsgewohnheiten und kulturelle Praktiken.
Wissen und Nichtwissen
Viel ist über Tschernobyl geschrieben worden, vor allem im Stile der sogenannten Dokumentarprosa: Zeitzeugen- und Expertenberichte im Grenzgebiet zwischen Erinnerung und Fiktion. Im Oktober 2015 erhielt Swetlana Alexijewitsch unter anderem für ihre Tschernobyl-Tagebücher den Literaturnobelpreis.
Warum wissen wir immer noch so wenig? Warum wird immer noch über die Zahl der "Tschernobyl-Opfer" gestritten, herrscht immer noch so viel Uneinigkeit über die durch die freigesetzte Radioaktivität verursachten Krankheiten? Welches Nichtwissen ist unvermeidbar, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt? Hier muss noch viel stärker nach den Grenzen gefragt werden zwischen "Nicht-wissen-Können" und institutionellen Barrieren im Wissenschaftssystem einerseits und den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnungen, in denen dieses System eingebettet ist, andererseits. Die von der Wissenssoziologie längst umrissenen "unterschiedlichen sozialen Konstruktions-, Definitions- und Anerkennungsprozesse",
Als die einzigen unbestrittenen Todesopfer Tschernobyls gelten noch immer die drei während des Unfalls ums Leben gekommenen Kraftwerksangestellten sowie die 28 Personen, die noch 1986 an den Folgen akuter Strahlenkrankheit starben. Die unterschiedlichen Schätzungen über die Anzahl der Menschen, die in den darauffolgenden Jahren an den Folgen der Katastrophe starben, reichen von "etwa 50" plus geschätzten 4000 zusätzlichen Krebstoten bis zu fast einer Million.
Wegen ihres militärischen Potenzials ist die Geschichte der Atomenergienutzung von Beginn an von Geheimhaltung und Verschleierung geprägt. Diese Zensur beeinflusste auch den Umgang mit Wissen und Nichtwissen unmittelbar nach der Reaktorexplosion von Tschernobyl. Das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe verschwieg die sowjetische Regierung unter Michail Gorbatschow drei Jahre lang. Sonja Schmid argumentiert in ihrem jüngst erschienenen Buch über die Geschichte der sowjetischen Atomindustrie allerdings zu Recht, dass komplette Geheimhaltung genauso wenig existiere wie komplette Transparenz. Indes, von einem "well-controlled information management" zu sprechen,
Darauf, dass das Wissen über den Unfall nur teilweise kontrolliert werden konnte, lässt schon die ungewohnt emotionale und deswegen von der Bevölkerung sehr ernst genommene Fernsehansprache Gorbatschows vom 14. Mai 1986 schließen. Viel mehr noch aber konnten die Massenbewegungen im Land nicht unbemerkt bleiben: Hunderttausende Evakuierte sowie sogenannte Liquidatorinnen und Liquidatoren, die die gefährlichen Aufräumarbeiten zu verrichten hatten, waren in der gesamten Sowjetunion unterwegs. Darüber hinaus konnten in Teilen der Sowjetunion auch ausländische Nachrichtensender empfangen werden, die über den Unfall berichteten. Briefe besorgter Leserinnen und Leser an Zeitungsredaktionen und Zeitzeugenberichte belegen, dass sich Gerüchte lange vor Aufhebung der Zensur im Mai 1989 verbreitet hatten und ihren Teil zur tief greifenden Verunsicherung der Bevölkerung beitrugen.
Ökologischer Boom
Das Ende der Tschernobyl-Informationssperre löste einen ökologischen Enthüllungsboom aus, der auch zur "Entdeckung" anderer katastrophaler Folgen der Modernisierung sowjetischen Stils führte. Es war die Sturm-und-Drang-Zeit des ökologischen Interesses und Umweltengagements in der Sowjetunion und gleichzeitig aufgebrachter Abrechnungen mit dem bestehenden System insgesamt. Litauische und ukrainische Umweltgruppen beschuldigten die Sowjetführung des "Genozids" an ihren Nationen, der belarussische Schriftsteller und Aktivist Ales Adamowitsch forderte einen "ökologischen Nürnberger Prozess", und der seinerzeit im Exil lebende russische Dissident Alexander Sinowjew schuf aus "Perestroika" und "Katastrophe" die Zustandsbeschreibung "Katastroika" für die Stimmung in der späten Sowjetunion.
Es war indes nicht nur die sowjetische Staatsführung, die versuchte, Informationen zu kontrollieren. Auch westliche Regierungen, Interessenverbände und internationale Organisationen wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) verfügten über ausreichend Informationen, um die Sowjetunion in ihrem Umgang mit den Unfallfolgen zu mehr Offenheit drängen zu können. Dabei bedurfte es keines komplizierten geheimdienstlichen Einsatzes, um an die Informationen zu gelangen. Zum einen zeichneten Messstationen in ganz Europa die Bewegung und Zusammensetzung der "Wolke" auf. Zum anderen konnten sich ausländische Ärzte, allen voran der kalifornische Knochenmarkspezialist Robert Gale, in Moskau selbst ein Bild von der Situation machen. Der verheerende Zustand der über 200 Angestellten und Rettungskräfte auf der Spezialstation ließ Rückschlüsse auf das Ausmaß der Katastrophe insgesamt zu. Doch darum ging es nicht. Vielmehr sollten die amerikanischen Ärzte dem sowjetischen Vorgehen "Glaubwürdigkeit verleihen".
Gales neutrale bis positive Darstellung des sowjetischen Katastrophenmanagements, seine Behandlungsmethoden und seine Entscheidung, mit Frau und Kindern nach Kiew zu reisen, um die Unbedenklichkeit der Lage zu demonstrieren, blieben nicht ohne Kritik. So wurde er der "reactor diplomacy" bezichtigt.
In den USA gab es auch andere Stimmen, die vom allgemeinen Tenor der "genuin sowjetischen" Katastrophe, die unter den Bedingungen einer liberalen Demokratie so nicht passieren könne, abwichen. Diese kamen unter anderem von Mitgliedern einflussreicher staatlicher Institutionen: So erklärte James Asselstine, Kommissionsmitglied der Atomaufsichtsbehörde NRC (Nuclear Regulatory Commission) noch im selben Jahr der Katastrophe, dass ähnliche Unfälle in den USA nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich seien, zumal die Verbesserungen der Sicherheitsvorkehrungen, die nach dem Unfall in Three Mile Island 1979 beschlossen worden waren, nur unzulänglich umgesetzt worden seien. Unter dem herrschenden Sicherheitsregime, warnte Asselstine, würde es mit einer Wahrscheinlichkeit von 45 Prozent in den nächsten 20 Jahren zu einer Kernschmelze in einem US-Reaktor kommen.
Eines der Hauptthemen im US-amerikanischen öffentlichen Diskurs über das Katastrophenmanagement nach Tschernobyl war die Notfallplanung. Die Einrichtung einer 30-Kilometer-Sperrzone in der Sowjetunion führte in den USA dazu, dass Umweltorganisationen und besorgte Bürgerinnen und Bürger die in den Vereinigten Staaten vorgesehene Evakuierungszone von zehn Meilen (16 Kilometer) als nicht ausreichend kritisierten. Unter starkem Druck aus der Bevölkerung verweigerten die Gouverneure von Massachusetts, Vermont, Ohio und New York Ende der 1980er Jahre ihre Zustimmung zu den Notfallplänen, die für die Lizensierung neuer Reaktoren notwendig waren. Damit verzögerten oder stoppten sie die Inbetriebnahme neuer Anlagen. Zu einer Ausweitung der vorgesehenen Evakuierungszone kam es jedoch nicht. Die zehn Meilen sind bis heute aktuell, was allerdings oft noch die Planungen europäischer Länder, die im Schnitt fünf bis zehn Kilometer zur Evakuierung im Katastrophenfall vorsehen, übertrifft. Auch die durch die Katastrophe von Fukushima 2011 aufgefrischte Kritik an diesen Regelungen führte zu keiner Änderung.
Das soziale Sicherungssystem der Sowjetunion war nicht darauf vorbereitet, Hilfe für mehrere Hunderttausend Katastrophenopfer über einen Zeitraum von vielen Jahren zu gewährleisten. Auch das wohlhabende Japan steht nach Fukushima vor einer – wenn überhaupt – nur schwer zu bewältigenden Aufgabe. Im Vergleich zu Japan waren die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die das Erbe von Tschernobyl tragen, für eine solche Aufgabe noch viel schlechter ausgerüstet und oft schlichtweg finanziell wie logistisch überfordert. Die ehemaligen Sowjetrepubliken waren in vielerlei Hinsicht auf Hilfe von außen angewiesen – sowohl auf staatlicher als auch auf nichtstaatlicher Ebene. Schon in den späten 1980er Jahren, der späten Perestroika-Phase, begannen verschiedene nichtstaatliche ausländische Initiativen ihre Arbeit in den am meisten betroffenen Regionen. Dabei waren die USA, Italien, Japan und Deutschland Vorreiter in der privaten humanitären Hilfe.
Individuelle Lebenswege
Eine in den großen Debatten oft unterbelichtete Dimension der Katastrophe sind die Brüche in den individuellen Biografien. Dabei führte Tschernobyl doch gerade in den Lebensentwürfen von Millionen von Menschen zu einem entscheidenden Wendepunkt. Während für manche die neue Zeiteinteilung in "davor" und "danach" nur eine temporäre Zeitumstellung bedeutete, dauert für Hunderttausende die neue Zeitrechnung an. Das sind in erster Linie die unmittelbar Betroffenen, die sogenannten Tschernobylzy, die selbst oder deren Familien aus kontaminierten Regionen in der ehemaligen Sowjetunion stammen beziehungsweise dort immer noch oder wieder leben, oder die an den Aufräumarbeiten beteiligt waren oder noch sind. Nicht selten wurden und werden sie stigmatisiert – mal als "Verstrahlte", mal als Abstauber, für die allein materielle Wiedergutmachungsleistungen und kostenlose Erholungsreisen zählen. Oft sind die Biografien der Menschen, die ihre Wohnungen und Häuser räumen mussten oder seit dem Unfall mit der Gewissheit oder Angst leben, sie selbst oder ihre Angehörigen könnten gesundheitlichen Schaden erlitten haben, mehrfach gebrochen: Ihre Ängste fielen zudem in eine beginnende Phase des kompletten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umbruchs, was ihre Situation zusätzlich verschärfen konnte. Die Ängste sowie deren psychische und körperliche Folgen lediglich als unbegründete "Radiophobie" abzutun, ist nicht nur unzulänglich und zynisch, sondern vergibt auch die Chance, das damit verbundene Erfahrungswissen der Laien zu systematisieren und für das Expertenwissens nutzbar zu machen.
Aber auch auf der Seite der nicht unmittelbar Betroffenen konnte Tschernobyl zu einem biografischen Wendepunkt werden. Aktivistinnen und Aktivisten im In- und Ausland beschrieben die Katastrophe als lebensverändernde Erfahrung. Der belarussische Philosoph Gennadi Gruschewoi etwa schilderte zum 20. Jahrestag des Unglücks, wie die Konfrontation mit Tschernobyl sein bisheriges Leben erschütterte und schließlich dazu führte, dass er in Belarus den ersten nichtstaatlichen Hilfsfonds "Für die Kinder von Tschernobyl" gründete.
Ambivalenzen
Dreißig Jahre sind vergangen seit jener verhängnisvollen Frühlingsnacht, die für Millionen von Menschen eine neue Zeitrechnung einläutete: die Zeit vor und nach Tschernobyl. Längst steht Tschernobyl nicht mehr nur für das eingetretene "Restrisiko", den "größten anzunehmenden Unfall" (GAU) im Atomkraftwerk. Vielmehr hat die Explosion im vierten Reaktor eine schier unendliche Fülle von anderen, sich über Zeit und Raum wandelnden, manchmal aber auch konstant bleibenden oder vergessen geglaubten und zurückkehrenden Sinnzuschreibungen erfahren. Diese Deutungen haben nur mehr oder weniger mit der Katastrophe zu tun, sie prägen die Erinnerung an und den Umgang mit ihr aber erheblich. Dabei wäre eine Unterteilung in Atomkraftbefürworter und Atomkraftgegner, in Ost und West, direkt Betroffene und Außenstehende viel zu einfach – zumal es in dem transnationalen Katastrophenprozess Außenstehende nicht wirklich gibt. Einerseits sprechen direkt Betroffene, deren Solidargemeinschaften sowie Atomkraftgegnerinnen und -gegner tendenziell zwar mehr von den potenziellen Gefahren radioaktiver Verstrahlung, von Tod, Krebs und anderen Krankheiten, Behinderungen, von Heimatverlust oder sogar, wie im Falle der Nationalbewegungen in der späten Sowjetunion, von einem Völkermord. Andererseits heben andere aber auch die menschliche Energie nach dem Katastrophenereignis hervor, das Engagement über den Eisernen Vorhang hinweg, den Neuanfang, die Erfahrungen von Auslandsreisen und das dadurch angehäufte soziale Kapital, das ihr Leben positiv beeinflusst habe. Nicht wenige derjenigen, die ihre Heimatorte verlassen mussten, befürworten weiterhin den Ausbau der Atomkraftanlagen – sowohl in ihrem eigenen Land als auch in anderen Ländern.
Gleichzeitig argumentieren Strahlenphysiker, technische Expertinnen, Mediziner, Politikerinnen und Bürokraten, die Atomenergie für eine vertretbare Energiequelle halten, gegen das Katastrophennarrativ und pochen auf naturwissenschaftlich korrekte Beschreibungen. Begriffe wie "Verstrahlung" und "Katastrophe" gelten unter ihnen als tendenziös, da sie die Realität von Kontamination durch einen Industrieunfall nicht adäquat widerspiegeln würden. Allerdings ist auch hier in den meisten Fällen zwischen den Zeilen eine Ambivalenz zu erkennen, am häufigsten, wenn es um die Einschätzung der Folgen von Niedrigstrahlung geht.
Die Tschernobyl-Rezeption hat inzwischen auch populärkulturelle Erscheinungsformen angenommen. Das Computerspiel "Stalker. Shadow of Chernobyl" etwa, das in der Sperrzone um den explodierten Reaktor spielt, ist im Internet Gegenstand angeregter Diskussionen über die Authentizität von Bildern und Beschreibungen. Längst hat es die Katastrophe von 1986 auch ins Hollywoodkino und den "Tatort" am Sonntagabend geschafft. Wer es "authentischer" haben will, geht auf Tour durch die Zone, um dann die immer gleichen Bilder in den sozialen Netzwerken zu posten: das Riesenrad, das niemals dazu kam, seine Runden zu drehen, die hinterlassene Puppe neben den schaurig arrangierten Gasmasken im Kindergarten, bröckelnde kommunistische Wandmalereien, Bäume in und auf Häusern, den in den Kamerafokus gehaltenen Geigerzähler. Auch der Schnappschuss vor dem explodierten Meiler darf nicht fehlen: Statt Eifelturm oder Kolosseum ragt hinter den Anhängern dieses dark tourism der Kühlturm des explodierten Meilers in den Himmel. In den vergangenen Jahren häufen sich auch Schilderungen von paradiesischen Zuständen in der Sperrzone: heulende Wölfe im Mondschein oder friedlich galoppierende Wildpferde in vermeintlich unberührter Natur. Alles in Ordnung also? Ökosysteme können sich radioaktiven Strahlungsbelastungen anpassen, sagen die einen. Sie widersprechen damit den anderen, Laien wie Wissenschaftlern, die in akribischer Kleinarbeit genetische Veränderungen an Pflanzen und Tieren dokumentieren.
Fernab der Natur bemühen ukrainische und belarussische Akteurinnen und Akteure jedweder Couleur immer wieder ein "politisches Tschernobyl", um Ausnahmesituationen zu umschreiben oder politische Gegner bloßzustellen. Auch hier ist die Ambivalenz offenkundig: Sowohl Opposition als auch Regierung können sich das Verursachen eines "politischen Tschernobyls" gegenseitig vorwerfen. Die Liste der Tschernobyl-Sinnzuschreibungen scheint schier endlos und zeugt davon, dass die Faszination, die das Atom seit seiner Entdeckung umhüllt hat, in gewisser Hinsicht geblieben ist, auch wenn sie, zumindest teilweise, die Richtung geändert hat. Das positiv strahlende Fortschrittsparadigma, das im Kalten Krieg auf beiden Seiten existierte und durch die Systemkonkurrenz noch angefeuert wurde, musste der Ernüchterung und in vielen Fällen auch der Bestätigung von Ängsten weichen. Dabei ist das alles verbindende Element die Unsicherheit beziehungsweise der Umgang mit ihr: das Verleugnen von Unsicherheit, der Ausdruck von Unsicherheit, die Instrumentalisierung von Unsicherheit, die mehr oder weniger erfolgreiche Bewältigung von Unsicherheit und letztlich auch die Lust an der Unsicherheit. Es geht um Unsicherheit, die buchstäblich in der Natur der Sache liegt, der Radioaktivität selbst, ihrer einzigartigen physikalischen Eigenschaften, die der Anthropologe Joseph Masco in Anlehnung an Freud "the nuclear uncanny" nannte.
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek erklärte die eingangs zitierte Identifizierung "We all live in Chernobyl" später damit, dass Tschernobyl als "Symptom" eines transnational gültigen Problems wahrgenommen werde, "as precisely the exception where the repressed truth of the totality emerges".
Die Wahrnehmung und der öffentliche Ausdruck dieser Verletzlichkeit nach Tschernobyl führte schließlich auch dazu, dass das eingangs erwähnte Atomkraftwerk Shoreham nie in Betrieb genommen wurde.