Voll behindert!" ist besonders auf Schulhöfen und im Internet ein Schimpfwort für alles, was nicht funktioniert. Kommt es zur Begegnung mit einer behinderten Person, bleibt es meist bei vorsichtiger Distanz. Auch Medienschaffende berichten selten auf Augenhöhe über Menschen mit Behinderung und etikettieren sie als "Opfer", manchmal auch als "Helden". Dies sind typische Stilmittel von Massenmedien, um Schicksale von 10 Prozent der deutschen Bevölkerung zu inszenieren. Erst allmählich zeigt sich ein Perspektivwechsel, bedingt durch die Umsetzung der Inklusion: Es sollen nicht nur architektonische Barrieren, sondern auch Berührungsängste und Vorurteile abgebaut werden, damit alle Menschen von Anfang an gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben, also nicht erst nachträglich in die Gesellschaft aufgenommen werden (Integration). So wie barrierefreies Bauen Stufen für Rollstuhlfahrer_innen vermeidet, verzichtet inklusive Medienarbeit auf Klischees. Nach Artikel 8 Absatz 2 der UN-Behindertenrechtskonvention sind alle Medienorgane verpflichtet, Menschen mit Behinderung so darzustellen, dass ihre Würde geachtet, Vorurteile bekämpft und ihre Fähigkeiten betont werden. Unabhängig davon inszenieren immer häufiger behinderte Menschen ihren medialen Auftritt selbstbestimmt – nach dem Motto "Nichts über uns ohne uns!", dem Slogan der internationalen Bürgerrechtsbewegung Independent-Living. An die Stelle des Berichts über Menschen mit Behinderung tritt zunehmend das Gespräch mit ihnen.
"Blicke auf Behinderung" in den Medien
Die seit Jahrhunderten bestehenden "Blicke auf Behinderung" äußern sich in der Medienberichterstattung vielfach in klischeebeladener (Bild-)Sprache. Die nicht behinderten Leser_innen und Journalist_innen erlangen durch solche Darstellungen anscheinend "ein Gefühl von Kontrolle und vermeintlicher Sicherheit, dass man selbst ja ‚gesund‘ ist". Vorurteile gegenüber behinderten Menschen bestehen in der Gesellschaft unabhängig von Beruf, Schicht und Charaktereigenschaften. Starre, meist abwertende Vorstellungen von behinderten Menschen entwickeln sich oft ohne unmittelbaren Kontakt, da sie häufig "nur wenige soziale Interaktionspartner außerhalb des Rehabilitationssystems und des persönlichen Umfeldes haben".
Im Rahmen der Ausstellung "Der (im-)perfekte Mensch" im Deutschen Hygiene-Museum (2000/01) wurden folgende Blicke typologisiert: staunend, medizinisch, vernichtend, mitleidig, bewundernd, instrumentalisierend, ausschließend; ferner das Porträt, der fremde Blick und der Eigenblick. Dieses Projekt beförderte die Etablierung der Disability Studies in Deutschland, die sich als Gegenentwurf zu dem seit dem 19. Jahrhundert geltenden "individuellen Modell" von Behinderung verstehen, bei dem medizinisch festgestellte "Defekte" als Störung einer Person gesehen wurden (die Person ist behindert). Nun wird dem individuellen das "soziale Modell" gegenübergestellt, wonach Menschen erst durch die Barrieren ihres Umfelds behindert werden. Hinzu tritt das "kulturelle Modell", das zeigen kann, "wie kulturelles Wissen über Körperlichkeit produziert wird, wie Normalitäten und Abweichungen konstruiert werden".
Mode und Spende – der "ausschließende" und "instrumentalisierende Blick".
Auch wenn behinderte Menschen neuerdings öfter in den Medien wahrgenommen werden, sind sie keineswegs im Mainstream angekommen. Es herrscht immer noch der "ausschließende Blick" vor: Selten erscheinen sie auf einem Cover oder zur Primetime im Fernsehen; meist wird über sie im Kontext von Gesundheit und Pädagogik berichtet; Kinder mit Behinderung sind selten in Ratgebern für Eltern zu finden, und Erwachsene mit Behinderung scheinen nicht zur ästhetisierenden Welt der Werbung zu passen. Das Interesse an neuen Gesichtern wächst zwar, wie beispielsweise an Models mit Behinderung auf internationalen Laufstegen. Doch die Frage des "instrumentalisierenden Blicks" schwingt immer mit: Wird hier in erster Linie die Fashionshow oder die Modelkarriere gefördert? Der instrumentalisierende Blick entwickelte sich historisch in Aufrufen zu Spenden, etwa für Kriegsanleihen mit Bildern von Kriegsversehrten des Ersten Weltkrieges. Auch heute noch ist dieser Blick, etwa in weihnachtlichen Spendenaktionen, zu erkennen – jene "Reaktionsformen, die auf den ersten Blick ‚positiv‘ erscheinen", jedoch "letzten Endes fast immer der Abgrenzung" dienen.
Aufklärung und Voyeurismus – der "medizinische Blick".
Wird vorwiegend über die Behinderung eines Menschen berichtet, greift der "medizinische Blick". Der Aufklärungsaspekt kann hier im Vordergrund stehen. Es werden aber auch voyeuristische Wünsche erfüllt, etwa bei detaillierten Beschreibungen körperlicher Gebrechen und Nahaufnahmen während chirurgischer Eingriffe, die an wissenschaftliche Kategorisierungen von "Missbildungen" im 18. Jahrhundert erinnern. Über den Fokus auf vermeintliche "Defizite" einer Person wird auch falsches Wissen verbreitet: Gehörlose Menschen als "taubstumm" zu bezeichnen, ist diskriminierend, da sie nicht "stumm", sondern nur "taub" sind. Einige kommunizieren mittels Lautsprache, viele mit der Gebärdensprache – einer Mischung aus Gebärden und Mimik, also auch mit keiner "Zeichensprache".
Der Rollstuhl und der "mitleidige Blick".
Das Sinnbild für Behinderung, der Rollstuhl, ruft häufig den "mitleidigen Blick" hervor. Floskeln wie "an den Rollstuhl gefesselt" konstruieren das Bild eines hilflosen Menschen. Jene, die sich mit ihrer Behinderung arrangiert haben, empfinden dies als Stigmatisierung zum passiven Opfer. Sie entgegnen, dass der Rollstuhl sie mobil mache und erst die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermögliche. Wesentlich angemessener ist die Beschreibung: "Person XY benutzt oder fährt Rollstuhl" oder "ist auf den Rollstuhl angewiesen" beziehungsweise "ist im Rollstuhl unterwegs". Die Formulierungen "er lebt mit der Behinderung X" oder "hat die Behinderung X" bezeichnen eines von vielen Merkmalen, während Äußerungen wie "er leidet an seiner Behinderung" oder "tapfer meistert sie ihren Alltag" aus Sicht von Menschen mit Behinderung übertrieben wirken, da sie ihre Behinderung als eine "Lebensform" sehen, für die sie sich mit oder ohne Assistenz organisieren müssen. Ein Vorurteil kann schon aus fotografischer Perspektive entstehen: Wird die Assistentin des Rollstuhlfahrers ins Zentrum des Bildes gestellt, wird er zum Hilfsbedürftigen; wird eine Schülerin mit überdimensional groß fotografiertem Rollstuhl gezeigt, wird dieser als Hauptproblem der Inklusion inszeniert.
Menschen mit Downsyndrom – der "vernichtende" und der "bewundernde Blick".
Wird das Leben mit Behinderung generell infrage gestellt, erinnert dies an den "vernichtenden Blick", wie er in der NS-Zeit vielen Tausenden Menschen mit Behinderung das Leben versagte. Selbst gut gemeinte Darstellungen von behinderten Kindern als "Sonnenblumen" führen nach Volker Schönwiese "zur Entmenschlichung von behinderten Personen" und "direkt in Richtung Eugenik". Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang in Berichten über Pränataldiagnostik. Eine Aufwertung von Kindern mit Downsyndrom kann hilfreich sein für Eltern, die sich entgegen gesellschaftlicher Trends für ihr Kind mit Trisomie 21 entschieden haben. Obwohl Personen mit Downsyndrom durch Fortschritte in der Medizin eine längere Lebenserwartung haben und durch individuelle Förderung am gesellschaftlichen Leben teilhaben – höhere Schulen besuchen, studieren und als Schauspielerin oder Dozent arbeiten –, ist ihre geglückte soziale Partizipation nicht selbstverständlich, sodass der "bewundernde Blick" sie in den Medien begleitet. Sie seien "mit Lebensfreude" und "trotz Behinderung erfolgreich". Erwachsene mit Downsyndrom werden häufig unterschätzt. Die Verkindlichung zeigt sich unter anderem am nachlässigen Duzen und an der Abbildung in Kinderkleidung. Wird ihnen noch zugesprochen, stets fröhlich, gar engelsartig zu sein, grenzt dies an positive Diskriminierung.
Kleinwüchsige Menschen – der "staunende" und der "fremde Blick".
Der "staunende Blick" äußert sich, wenn ein "Helden"-Bild kreiert wird, wie bei den Paralympischen Spielen 2013 als "Superhumans". Ebenso staunend ist der Blick auf kleinwüchsige Menschen, wenn diese als "wundersame Wesen" dargestellt werden, etwa in der Vorführung als "Zwerge", wie in der Barockzeit am Hofe, im 19. und 20. Jahrhundert in Zirkusarenen und in "Freakshows" oder bis in die 1990er Jahre in einer "Liliputanerstadt" in Rheinland-Pfalz. Noch heute werden kleine Menschen als Attraktion für Veranstaltungen gebucht oder in Sendungen, vor allem in Boulevard-Magazinen, vorgeführt. Kleinwüchsige Menschen tauchen auch im Zusammenhang mit dem "fremden Blick" auf, etwa wenn von den "Zwergenmenschen Guineas" berichtet wird. Erst allmählich gelingt die Augenhöhe mit kleinwüchsigen Menschen, wie etwa ein gleichnamiges Modeprojekt zeigt, oder die Besetzung von tragenden Rollen in Serien wie "Dr. Klein" (ZDF).
Perspektivwechsel – "Porträt" und "Eigenblick"
Damit behinderte Menschen nicht nur als "Groß-Gruppenwesen" wahrgenommen werden, empfehlen sich Einzelporträts. Zunehmend wird dabei auch der "Eigenblick" vermittelt, den behinderte Menschen sich wünschen. Im Internet entsteht eine Subkultur, die in den gesellschaftlichen Mainstream gelangen möchte, um "aktiv in die Konstruktion des Selbst einzugreifen und damit ‚das Schicksal der traditionellen Identität abzuwenden‘". Da ist ein Rollstuhlfahrer, der Skate-Kurse anbietet; eine Indieband mit Menschen mit Downsyndrom und Sehbehinderung; eine Autistin, die ein Magazin unter anderem über das Thema Liebe herausbringt; ein gehörloser Mann, der im "Tatort" schauspielert; oder eine kleine Frau, die eine Mode-Sendung moderiert. Letztlich könnte die Behinderung auch irrelevant für einen Beitrag sein, haben Menschen mit Behinderung doch auch eine Meinung zu anderen Themen als Behinderung. Noch herrscht aber ein Schwebezustand zwischen Inklusion 1.0 – Menschen mit Behinderung werden sichtbar – und Inklusion 2.0 – ihre Sichtbarkeit ist selbstverständlich. Inklusion in der (Bild-)Sprache gelingt vor allem, wenn Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam in Aktion gezeigt werden.