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Mein Dresden - Essay | Dresden | bpb.de

Dresden Editorial Mein Dresden Dresden. Eine Kurzbiografie The Benchmark: Dresden, 13. Februar 1945. Vom Umgang einer Stadt mit ihrer Geschichte Zerrissene Stadt: Kulturkampf in Dresden Stadtgespräche. Politische Bildung als Seelsorge? Einblicke in die Dresdner Fußballseele

Mein Dresden - Essay

Franziska Gerstenberg

/ 15 Minuten zu lesen

Irgendwann in den Herbsttagen 2015 passiert es, dass ich wütend werde. Pegida ist nicht Dresden. Und Pegida ist nicht das Volk. Denn wer bin denn dann ich? Zum ersten Mal in meinem Leben sage ich: Ich will Dresdnerin sein. Ich lasse mir die Stadt nicht wegnehmen. Ich mache jetzt ernst. Ich bleibe hier.

Im November 2015, da gibt es Pegida schon länger als ein Jahr, im November sage ich endlich: Ich gehe hin. Ich sehe mir das mal an. Früher habe ich manchmal wie im Fieber vor dem Fernseher gesessen, eine Staffel "Dschungelcamp" geschaut oder ein paar Wochen "Big Brother" verfolgt, nur um zuzuhören, worüber die Leute reden. Man muss schließlich wissen, in was für einem Land man lebt, habe ich gesagt. Und jetzt denke ich: Ich muss schließlich wissen, in was für einer Stadt ich hier lebe. Denn da stimmt doch was nicht mit diesem Dresden, mit dem Wind, der durch die Straßen weht.

Als ich über die Augustusbrücke laufe, überholt mich eine Familie auf Fahrrädern, der Mann trägt eine grüne Multifunktionsjacke, das Kind radelt voran. Ach, denke ich, die wollen bestimmt zur Gegendemo. Aber da zeigt der kleine Junge aufgeregt nach rechts: "Da geht’s lang!" Am Fürstenzug vorbei strömen die Leute mit ihren Deutschlandfahnen, ihren Wirmer-Flaggen, einem schwarz-gelben Kreuz auf rotem Grund. Der Theaterplatz füllt sich, Schilder mit Ortsnamen werden hochgehalten, handgemalte Sprüche begutachtet und gefeiert, einige der Rechtschreibfehler sind schon durch die Presse gegangen. Ständig zückt jemand sein Smartphone und fotografiert, wie schön das hier alles ist. Pegida-Humor: Eine Frau hat eine Burka angezogen und sich ein Schild umgehängt, auf dem steht, dass sie Schweineschnitzel mag. Irgendwann ertönt die Pegida-Hymne, danach tritt ein Redner auf die Bühne, er sagt: "Erst einmal, ich bin nicht der Lutz, der Lutz ist heute in wichtiger Mission unterwegs … seid gespannt." Es ist also nicht der Lutz, später stellt sich heraus, dass es der Siggi ist. Mir war nicht klar, dass man montags auf dem Theaterplatz automatisch per Du ist. Für den Siggi herrscht in Deutschland keine Demokratie, und er spricht jedes Mal, wenn er den Islam meint, sarkastisch von der "Religion des Friedens". Im Hintergrund sind die Gegendemonstranten herangekommen, sie rufen: "Say it loud. Say it clear. Refugees are welcome here!" Falsch, denke ich, ganz falsch, bei Pegida versteht man bestimmt nur Deutsch – und wirklich fragt neben mir eine Frau ihre Begleiterin: "Soll ich dir das übersetzen?"

Nach dem Siggi kommt der Ed. Der Ed ist kein Deutscher, der Ed spricht mit einem charmanten niederländischen Akzent. "Das ist bestimmt ein Schweizer", sagt die Frau, die neben mir steht. Sie gähnt, denn der Ed wettert auffällig langatmig gegen die Asylbewerber in ihren Hotels mit Vollpension, und dann fordert er die Schwulen, die Lesben und die jüdischen Mitbürger auf, sich Pegida anzuschließen. Um mich herum ziehen mehrere Leute zischend die Luft ein: Mit den Schwulen und Lesben hat der Ed den kleinsten gemeinsamen Nenner seines Publikums deutlich verfehlt. Bevor es schließlich losgeht mit dem Abendspaziergang – Matthias Claudius lässt grüßen – bevor es also losgeht, hat der Siggi noch einen Satz an die versammelte Presse zu richten: "Nur ganz kurz: Ihr seid widerlich." Donnernder Applaus, die Frau neben mir lacht kreischend auf.

Habt ihr zugehört?

Und ich? Ich stehe ziemlich lange auf dem Theaterplatz und denke, dass ich das alles nicht ernst nehmen kann. Das ist es jetzt? Das soll eine Volksbewegung sein? Vor diesen Leuten haben wir Angst? Mulmig wird mir erst, als die Sprechchöre aufbranden: "Volksverräter", "Widerstand", "Lügenpresse". Und endgültig, als die Menge beginnt, sich zu Musik in Bewegung zu setzen. Denn erstens begreife ich, dass ich als Einzige hier nicht eingeweiht bin: Es wurde keine Route angesagt, trotzdem wissen alle, wohin sie laufen müssen. Vor allem aber wird mir nun klar, wie groß die Menge ist. Der riesige Theaterplatz war, egal, wo man stand, nur locker gefüllt. Aber jetzt, auf der Straße, zieht sich der Zug auseinander. Er ist lang, er wird immer länger, nimmt und nimmt kein Ende.

Und das ist der Moment, um den es diesen Menschen geht. In diesem schweigenden Loslaufen liegt eine unheimliche Kraft. Nach dem heiligen, stillen Ernst der ersten Meter tauscht man sich auch gleich wieder aus. Man ist sich ja einig. "Das ist so schön", sagt jemand, "wie sich hier einfach alle gern haben." Eigentlich sind alle hier eine große Familie. Und deswegen bleiben so viele dabei, deswegen gehen sie Montag für Montag wieder hin, auf den Theaterplatz, deswegen machen sie Montag für Montag ihre Geschäfte eher zu, um anreisen zu können, aus anderen Teilen Sachsens oder sogar von noch weiter her. Weil sie sich hier unter Gleichgesinnten fühlen, weil sie endlich – bei vielen ist es das erste Mal seit den "Wir sind ein Volk"-Rufen von 1989/90 – weil sie endlich wieder Teil einer Bewegung sein können. Weil sich hier alle lieb haben und sofort per Du sind. Und da sieht man auch gern darüber hinweg, dass die Ziele von Pegida schwammig sind, widersprüchlich oder kriminell. Hauptsache, vorn auf dem Lastwagen steht jemand, der einem sagt, dass man wichtig ist und dass es Feinde gibt, gegen die man zusammenhalten muss.

Aber habt ihr denn, schreie ich innerlich, vorhin nicht zugehört, dem Siggi und dem Ed? Kommt euch dieses Feindbild nicht selbst zu einfach vor? Besteht es aus mehr als ein paar Parolen? Habt ihr Lutz Bachmann nie richtig zugehört, diesem mehrfach straffällig gewordenen Ku-Klux-Klan-Verehrer? Habt ihr Tatjana Festerling nicht zugehört, die eine neue Mauer zwischen Ost und West fordert? Habt ihr dem Gastredner Akif Pirinçci nicht zugehört, der sagt, Deutschland werde zur "Moslemmüllhalde"?

"Lass dich nicht provozieren", hat mein Freund gesagt, bevor ich losgegangen bin, "mach nichts Unüberlegtes." Ich doch nicht, habe ich gedacht, ich sehe mir das einfach mal an, was soll da passieren. Aber jetzt bin ich kurz davor, wie ein wildgewordenes Rumpelstilzchen auf und ab zu hüpfen und verzweifelt zu rufen: "Ihr seid alle Nazis! Ihr seid alle Nazis!" Irgendjemand muss es doch aussprechen. Irgendjemand muss diesem Stammtisch die gute Stimmung verderben. Pegida marschiert seit dem Herbst 2014, seit über einem Jahr. Inzwischen ist klar: Hier geht es nicht um ein diffuses Unbehagen an der deutschen Politik. Wer heute noch dabei ist, läuft knallhart rechtsextremen Führungsfiguren hinterher, und weiß das auch. Wer heute noch dabei ist, legitimiert deshalb die Gewalt in Freital, in Heidenau, in Sachsen, immer wieder vor allem in Sachsen, weil er sich nicht deutlich von diesen Auswüchsen distanziert.

Ich halte nicht einmal bis zur ersten Kreuzung durch. Ich schere aus, auf den Gehweg, drücke mich an eine Hauswand. Ich laufe die breite Wilsdruffer Straße hinunter. Die Mitte, mit den Gleisen der Straßenbahn, gehört Pegida. Nur wenige Autos stauen sich und warten das Ende des Zuges ab, ein paar chinesische Touristen stehen am Rand und machen große Augen, sonst sind die Flaniermeilen leergefegt, die Cafés und Geschäfte verlassen. Die vielbeschworene Pegida-Friedlichkeit kippt sofort, wenn jemand von der Presse versucht, eine Frage zu stellen. Ich sehe, wie ein Kameramann darum kämpft, seine Ausrüstung zu retten, er wird beschimpft, angerempelt, gestoßen, bis er sich schließlich stolpernd in eine Seitengasse rettet.

Niemand kann sich herausreden

Die Stadt steht still, jeder vernünftige Dresdner meidet am Montagabend die Innenstadt. Weil keine Bahnen fahren, laufe ich über eine andere Brücke zurück in die Neustadt. Brücken haben wir hier genug. Ich denke: Die Menschen dort hinter mir am Horizont, sie können sich nicht herausreden. Aber auch sonst kann sich niemand mehr herausreden. Das wären ja, hieß es oft, gar keine Dresdner, die Leute kämen schließlich sonst woher. Ja, aber doch nicht alle. Bei der Oberbürgermeisterwahl 2015 haben fast zehn Prozent für Tatjana Festerling gestimmt, und noch einmal fünf Prozent für den AfD-Kandidaten, das sind weit über dreißigtausend Dresdner. Nur alte Männer würden da hingehen, zu Pegida, hieß es. Nein, ich habe junge Leute gesehen, ich habe Frauen gesehen. Das werde sich bald von selbst erledigen, hieß es. Und wirklich sah es so aus, bis die Flüchtlingskrise den Trend umkehrte. Immer mal wieder sinken die Teilnehmerzahlen von Montag zu Montag, doch wann kommt die nächste Krise? Und der harte Kern bleibt.

Niemand kann sich herausreden. Die Stadt kann sich nicht mehr herausreden, das Ordnungsamt nicht und der Bürgermeister nicht. Der Mythos Pegida funktioniert über die Bühne, über das Bühnenbild, das die Semperoper, der Zwinger, die Frauenkirche jeden Montag abgeben. Es muss doch möglich sein, diese Inszenierung zu unterbinden. Es muss doch möglich sein, zu verhindern, dass diese Leute ausgerechnet am 9. November ausgerechnet den Theaterplatz besetzen. Der, wie ich erst seit Kurzem weiß, früher Adolf-Hitler-Platz hieß – und deshalb auch bei der NPD als Versammlungsort begehrt war. Es muss doch möglich sein, wenigstens in der Vorweihnachtszeit zu sagen: Tut uns leid, aber vor der Semperoper findet jetzt ein Weihnachtsmarkt statt. Die komplette Dresdner Innenstadt ist ein einziger großer Weihnachtsmarkt – wie leicht wäre es gewesen, auch dort noch Büdchen aufzubauen und Glühwein auszuschenken. Es muss doch möglich sein, diese Kundgebungen, wenn man sie schon nicht verbieten kann, wenigstens zu verlagern, andere Städte schaffen das schließlich auch.

Es wäre möglich, wenn es gewollt wäre. Stattdessen lässt man zu, dass Montag für Montag die komplette Innenstadt lahmgelegt wird. Von dem Geld, das die wöchentlichen Polizeieinsätze kosten, könnten sehr viele Flüchtlinge sehr lange sehr gut versorgt werden. Innerhalb eines Jahres hat Dresden seinen Ruf in der Welt verspielt. Das Risiko steigt, dass Firmen sich gegen eine Ansiedlung in Dresden entscheiden – um ausländische Mitarbeiter zu schützen. Der Rektor der Technischen Universität warnt, Pegida schrecke internationale Wissenschaftler ab. Er spricht von einem "erheblichen Imageschaden" für den Wissenschaftsstandort Dresden. Oft genug würde ich gern sagen: "Nein, ich bin nicht von hier. Das hat nichts mit mir zu tun." Nur dass das leider nicht stimmt. Ich wurde in Dresden geboren. Ich habe hier gelebt, bis ich neunzehn war, und vor anderthalb Jahren bin ich wieder hergezogen.

Meine Stadt?

Als ich diesen Text zu schreiben begann, begriff ich, dass ich kein Verhältnis zu Dresden habe. Das ist eigentlich erstaunlich, für eine Dresdnerin jedenfalls untypisch. Aber da fängt es schon an: Ich habe mich nie als Dresdnerin bezeichnet. Ich habe immer nur gesagt, dass ich in Dresden geboren wurde und aufgewachsen bin. Vielleicht liegt sie in mir selbst begründet, vielleicht gehört sie einfach zu mir, diese seltsame Ortlosigkeit. Ich kann mit dem Wort Heimat nichts anfangen. Ich habe in Leipzig gelebt, wäre aber auch nie auf die Idee gekommen, mich deshalb als Leipzigerin zu bezeichnen, und kaum war ich aus Leipzig weggezogen, hatte ich alles vergessen, jeden einzelnen Straßennamen. Man könnte sagen, dass ich nie richtig ankomme, ich bleibe immer ein Stück außen vor. Am besten funktioniert eine Stadt für mich, wenn ich beim Hinziehen schon weiß, wann ich wieder weggehen werde. Ich habe in Hannover gelebt, ich habe in Bamberg gelebt, in Stuttgart, zwischendurch immer noch ein paar Monate hier und da, in der Schweiz, in Italien, in Ungarn, und am Ende etliche Jahre in Berlin. Und vielleicht habe ich mich dort am meisten zu Hause gefühlt, weil dort alle fremd waren, weil die Stadt so groß ist, dass es nicht die Stadt gibt, sondern viele kleine Städte, für jede Stimmung eine.

Als Kind habe ich Dresden gemocht, wie Kinder eine Stadt eben mögen: Dresden, das war für mich der Sandkasten hinterm Haus. Als ich etwas älter war, mochte ich Striesen mit seinen freistehenden, von Gärten umgebenen Altbauvillen. In dem Quartier neben unserem wurden die Grundstücke von Mauern begrenzt, man konnte auf diese Mauern klettern, auf die Garagendächer und Schuppen, und so von einem Garten in den anderen gelangen. Und ganz in der Mitte, da gab es ein vergessenes Stückchen, mit wildem Gras und einer Pforte, die immer geschlossen blieb. Als Jugendliche mochte ich die Hänge zwischen Loschwitz und Pillnitz, die alten Dorfkerne, ich mochte es, stundenlang dort am Wasser entlangzulaufen, auf den breiten, unbebauten Wiesen.

Als ich aus Dresden weggezogen bin, habe ich jahrelang gedacht – in Leipzig habe ich es gedacht, in Hannover sowieso – dass Dresden die schönere Stadt ist. Ich habe gedacht: Ich gehe erst mal aus Dresden weg, aber irgendwann ziehe ich zurück. Ein paar Jahre später, mit dem Blick von außen, habe ich dann gedacht: Nein, ich kann da nie wieder hin. Da ist es zu schön, da ist es zu ruhig, und vor allem ist es da zu langsam, die Leute sind so langsam, das macht mich wahnsinnig, das schläfert mich ein. Die Sache war vom Tisch, ich dachte: endgültig.

Was ich wirklich geliebt habe, als Kind, als Jugendliche und auch als Abwesende in meiner Erinnerung, das war nicht die Stadt. Es war der Fluss. Vielleicht liegt auch das in mir selbst begründet, vielleicht gehört das einfach zu mir: dass ich eigentlich überall nur die Natur liebe. Und Dresden gehört zu den grünsten Großstädten in Europa. Da ist ein Wald mitten in der Stadt, da liegt ein Gebirge vor der Tür, und wie sich die Stadt am Wasser entlangzieht – das war das Einzige, das ich nicht vergessen konnte. Ich musste immer an die Zeile von Heinz Czechowski denken: "Sanft gehen wie Tiere die Berge neben dem Fluss."

Aber dann haben sie diese Brücke gebaut. Die Dresdner, die mir aus der Ferne noch fremder waren als aus der Nähe, die Dresdner, die sich so viel einbilden auf ihre Bildung, die so stolz sind auf ihre Kultur, sie haben eine unfassbar hässliche, viel zu breite Brücke über die Elbe gezogen. An der schönsten Stelle. Mit dem typisch sächsischen Schildbürgertrotz haben sie gesagt: "Uns doch egal, wenn uns das Welterbekomitee den Titel aberkennt, von diesem Welterbedings können wir uns sowieso nichts kaufen." Und schon damals: "Zum Teufel mit den Touristen, wir brauchen hier keine Fremden." Als die Waldschlösschenbrücke offiziell eröffnet wurde, war ich gerade auf dem Weg nach Amerika. Ich schüttelte den Kopf, Dresden war weit weg, es erschien mir unendlich provinziell.

Dresdner Krankheit

Und dann bin ich doch wieder hergezogen. Es war, als müsste ich plötzlich ans Schicksal glauben. Zum Kinderkriegen, hatte ich mit neunzehn gesagt, zum Altwerden. Und genauso kam es: Zum Kinderkriegen zogen wir nach Dresden, weil mein Freund nicht nach Berlin wollte und ich nicht ins Ruhrgebiet. Weil mir plötzlich alles logisch erschien. Nur das mit dem Altwerden, das sah ich noch nicht.

Ein paar Wochen später ging es mit Pegida los, ein paar Wochen später lag ich hochschwanger auf dem Sofa und durfte nicht mehr aufstehen, ein paar Wochen später schon haderte ich. Mit der Stadt, mit mir, mit dem Schicksal. Ich fühlte mich in Dresden nicht zu Hause, und das fiel mir umso stärker auf, weil alle sagten: Das muss doch schön sein, zurück in der Heimat. Mir kam es aber gar nicht schön vor. Mir kam auch Dresden nicht schön vor, ich fand einfach nicht hinein in die dresdentypische Überhöhung, diesen selbstverliebten, stolzen Blick nach innen.

Die Schönheit ist ein Mythos. Mehr als jede andere Stadt, in der ich gelebt habe, zerfällt Dresden in unterschiedliche Viertel. Es gibt kein Gesamt-Dresden. Die Innenstadt existiert nicht. Wenn ich heute über die Augustusbrücke zum Theaterplatz laufe, wo sich montags Pegida versammelt, denke ich beim Anblick des Canaletto-Blicks zwar jedes Mal reflexartig: Oh, ist das schön. Aber der Anblick ist eben genau das: nur ein Bild, nur eine Idee. Hinter der schmalen Front der Brühlschen Terrasse geht es mit künstlich wirkenden, historisierenden Fassaden weiter, einer barocken Darbietung, gefolgt von breiten Flächen sozialistischer Bebauung. Die Dresdner Innenstadt ist vor allem weitläufig und leer. Der Wind, der hier durch die Straßen weht, hat jede Menge Platz.

Ja, heißt es an dieser Stelle oft, aber früher, vor der Bombennacht des 13. Februar … Und da ist sie, die Dresdner Krankheit, die Uwe Tellkamp "die süße Krankheit Gestern" genannt hat. Pegida ist auch deshalb in dieser Stadt zu Hause, weil es hier so leicht ist, sich zum Opfer zu stilisieren. Aber wurden denn andere Städte nicht zerstört? Was ist mit Hamburg, was ist mit Köln?

Nur dass ich mich eben auch zum Opfer stilisierte. Ich lag schwanger auf dem Sofa, Woche für Woche strömten mehr Leute zu Pegida, dann bekam ich das Kind, die erste Zeit war schwierig, immer noch ging ich kaum nach draußen. Und ich tat, was ich am besten konnte: Ich fühlte mich fremd, zog den Kopf ein, hielt mich raus. Schließlich hatte ich schon genug um die Ohren, nicht wahr? Doch egal, wie sehr ich mich abseits halten wollte: Die Zerrissenheit der Stadt ließ sich nicht übersehen. Pegida war der Gradmesser, und der Riss verlief, der Riss verläuft bis heute mitten durch die Büros, durch die Familien. Wenn ich zum Frisör gehe, fragt die Frisörin, noch während sie mir den Umhang umlegt, wie ich es mit Pegida halte.

Um mich endlich mit Dresden auseinanderzusetzen, entwickelte ich mit einigen Freunden eine Ausstellung, die sich mit der Zwangsarbeit während der Nazizeit befasste. Im ehemaligen Goehle-Werk der Zeiss-Ikon-AG hatte es eine Judenabteilung gegeben. Die mittlerweile hundertjährige Henny Brenner, die als junges Mädchen dort hatte arbeiten müssen, gab uns ein langes Interview. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie Dresden damals war. Nicht die feine Kunst- und Kulturstadt nämlich, für die man es heute im Rückblick hält, nein: Die Dresdner Nazis seien die schlimmsten gewesen, schlimmer als die Münchner Nazis, schlimmer als die Berliner Nazis. Hier wurde man angespuckt, wenn man mit dem gelben Stern auf die Straße ging. Henny Brenner hatte Dresden in all den Jahren im Auge behalten, aus der Ferne schien sie die Stadt zu beobachten, sie wusste Bescheid. Kurz vor der Eröffnung der Ausstellung kam es zu den Ausschreitungen in Heidenau, und Henny Brenner sagte ihren Besuch in Dresden ab. Ein paar Wochen zuvor hatte mein Freund sie an ihrem Wohnort besucht, da hatte sie ihm beim Abschied hinterhergerufen: "Sagen Sie den Dresdnern, sie sollen sich bessern!" Aber sie hatten sich nicht gebessert. Im Gegenteil: Erneut wurde Pegida stärker und stärker.

Sich die Stadt nicht wegnehmen lassen

Vielleicht war das schon der Moment. Vielleicht ist er auch erst an dem Abend gekommen, an dem ich selbst auf dem Theaterplatz stehe, zwischen diesen Leuten, die glauben, sie wären Dresden. Die glauben, sie wären Sachsen. Die glauben, sie wären "das Volk". Die glauben, ihre Stadt bekäme jetzt endlich wieder die Wichtigkeit, die ihr zustünde. Am Dresdner Wesen soll die Welt genesen.

Oder vielleicht passiert es auch erst, als in meinem Viertel ein Übergangswohnheim für Flüchtlinge geschaffen wird. Wenige Tage später sitze ich beim Arzt, im Wartezimmer, ich kann nur hören, was an der Rezeption gesprochen wird. Und ich höre, wie ein Mann hereinkommt, sich anmelden möchte, um einen Termin bittet. Der Mann spricht gebrochen Deutsch. Ich höre, wie die Schwester an der Rezeption dem Mann sagt, dass keine Patienten mehr aufgenommen werden. "Patientenstopp", sagt sie, sie wiederholt das Wort mehrmals, jedes Mal lauter, als würde es dadurch verständlicher. Und zwanzig Minuten später sitze ich immer noch im Wartezimmer, und wieder höre ich, wie jemand hereinkommt, sich anmelden möchte, nur dass der Mann diesmal perfekt Deutsch spricht, und er hat seine neue Krankenkassenkarte noch nicht zugeschickt bekommen, aber das ist überhaupt kein Problem. "Wenn Sie so um die Ecke wohnen", sagt die Schwester herzlich, und für die nächste Woche gibt es schon einen Termin.

Irgendwann in den Herbsttagen 2015 passiert es, dass ich wütend werde. Und ich begreife, dass diese Wut nicht verschwinden wird, wenn ich jetzt einfach wieder aus Dresden wegziehe. Denn was wird passieren, wenn alle wegziehen, die diesen Wind in Dresden nicht mehr ertragen, diesen offenen Rassismus von der Bühne herab, den kaum versteckten Rassismus im Alltag? Wird es dann besser? Nein, das wird es nicht.

Im Gegenteil müsste man doch erreichen, dass jetzt ganz viele Leute hier herkommen. Kluge Leute, schnelle Leute. Mutige Leute, die nicht nur schlecht gelaunt den Arzt wechseln, sondern die aufstehen und laut sagen, wie beschissen sie es finden, auf dem Rücken der Schwächsten das eigene Jammern auszutragen. Es müssten Leute kommen, die eine Vision von der Zukunft haben, statt sich nur auf der Vergangenheit auszuruhen. Leute, die etwas von der Welt gesehen haben, die einen Blick von außen haben. Leute, die sagen: Dresden ist nichts Besonderes, sondern eine ganz normale Stadt, nicht besonders schön, nicht besonders hässlich, vielleicht wohnen hier mehr Idioten als anderswo, aber das kriegen wir schon hin. Und diese Leute sollten aus Syrien kommen, aus Afghanistan, aus dem Irak, aus dem Kosovo, und natürlich sollten sie auch aus Deutschland kommen.

Sie könnten den klugen, schnellen, mutigen, nach vorn schauenden, weltoffenen und "ganz normalen" Leuten helfen, die schon da sind. Denn die gibt es natürlich, hier in Dresden, und ich würde gern zu ihnen gehören. Die Leute, die kommen, könnten uns nicht nur beim Hierbleiben helfen. Pegida ist nicht Dresden. Und Pegida ist nicht das Volk. Denn wer bin denn dann ich? Zum ersten Mal in meinem Leben sage ich: Ich will Dresdnerin sein. Ich lasse mir die Stadt nicht wegnehmen. Ich mache jetzt ernst. Ich bleibe hier. Nur das mit dem Altwerden, zugegeben, das sehe ich noch nicht. Aber wenn es doch so weit kommen sollte: Vielleicht können wir dann noch mal über den Rückbau der Waldschlösschenbrücke verhandeln?

Geb. 1979 in Dresden; Autorin; studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig; ihre neuesten Erzählungen sind soeben im Buch "So lange her, schon gar nicht mehr wahr" erschienen.