Essstörungen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland. Es handelt sich um schwerwiegende Störungen, wobei vor allem die Anorexia nervosa (Magersucht) mit einer hohen Mortalitätsrate einhergeht. Aufgrund der weiten Verbreitung einerseits und der Erstmanifestation zumeist im Jugendalter andererseits verwundert nicht, dass auch das Internet hier als Hilfsmedium für Betroffene eine wichtige Rolle spielt. In diesem Beitrag wird ein einführender Überblick über die verschiedenen Formen von Essstörungen und ihre Ursachen gegeben, wobei insbesondere die Rolle der Medien herausgearbeitet wird. Anschließend wird die sogenannte Pro-Ana-Bewegung im Internet vorgestellt, eine Form der onlinebasierten Selbsthilfe, die umstritten ist.
Magersucht und andere Essstörungen: Erscheinungsformen und Prävalenz
In der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation werden in Kapitel V "Psychische und Verhaltensstörungen" vier verschiedene Formen von Essstörungen im engeren Sinne aufgeführt: die Anorexia nervosa, die atypische Anorexia nervosa, die Bulimia nervosa sowie die atypische Bulimia nervosa. Ferner werden Essattacken sowie Erbrechen im Rahmen anderer psychischer Störungen benannt. In der Fachliteratur werden noch weitere Erscheinungsformen beschrieben (zum Beispiel Anorexia athletica, bezogen auf gestörtes Essverhalten bei Leistungssportlern), die allerdings noch nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht sind, um als Störungen anerkannt zu sein.
Die Anorexia nervosa ist durch einen absichtlich herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Dabei ist die Angst vor einem dicken Körper zentral, die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich fest. Es liegt meist Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades vor, die sekundär zu hormonellen und stoffwechselbedingten Veränderungen und zu körperlichen Funktionsstörungen führt. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbstinduziertes Erbrechen und Abführen und der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika (Mittel zur Ausschwemmung von Wasser aus dem Körper). Die atypische Anorexia nervosa erfüllt einige Kriterien der Anorexia nervosa, das gesamte klinische Bild rechtfertigt die Diagnose einer Anorexia nervosa jedoch nicht. Weiterhin gilt für eine Anorexie, dass das tatsächliche Körpergewicht mindestens 15 Prozent unter dem Erwarteten liegt beziehungsweise der Body-Mass-Index kleiner/gleich 17,5 beträgt.
Die Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch wiederholte Anfälle von Heißhunger und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts. Typischerweise besteht ein Wechsel von Essanfällen und Erbrechen oder Gebrauch von Abführmitteln. Viele psychische Merkmale dieser Störung ähneln denen der Anorexie, so die übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht. Wiederholtes Erbrechen kann zu Elektrolytstörungen und körperlichen Komplikationen führen. Häufig lässt sich in der Anamnese eine frühere Episode einer Anorexia nervosa feststellen. Für die atypische Bulimia gilt dasselbe wie für die atypische Anorexia: Einige Schlüsselsymptome können fehlen. Bei der sogenannten Binge Eating Disorder (in der ICD als "nicht näher bezeichnete Essstörung" klassifiziert) kommt es ebenso zu periodischen Heißhungeranfällen mit Kontrollverlust, allerdings werden die zugeführten Nahrungsmittel anschließend nicht erbrochen, sodass längerfristig meist Übergewicht die Folge ist. Die Adipositas wird in der ICD nicht unter psychische Störungen gefasst, sondern unter die endokrinen, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten.
Aktuell wurde eine Zwölfmonatsprävalenz (Häufigkeit) von Essstörungen von 0,7 Prozent ermittelt (Frauen: 1,2 Prozent; Männer: 0,2 Prozent).
Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sind schwere psychische Erkrankungen mit beträchtlichen psychischen, aber auch physischen Begleiterscheinungen für die Betroffenen. Entscheidend für den Verlauf der Erkrankungen ist unter anderem, wie schnell und in welchem Stadium effektive therapeutische Interventionen einsetzen. Diese können jedoch nur vor dem Hintergrund eingeleitet werden, dass die Betroffenen beziehungsweise deren Angehörige und ebenso der konsultierte Arzt beziehungsweise Psychiater oder Psychologe die Störung als psychische Erkrankung (an)erkennt. Voraussetzung hierfür ist, dass auf beiden Seiten ein hinreichender Kenntnisstand zur Verfügung steht beziehungsweise Informationen über die Erkrankungsformen allgemein nutzbar und leicht zugänglich sind. Der klinische Alltag lehrt jedoch, dass sowohl in weiten Bereichen der praktischen Medizin als auch bei den Betroffenen selbst wenig Kenntnis darüber besteht, ab wann bestimmte Verhaltensaspekte und körperliche Veränderungen klinisch-diagnostische Kriterien erfüllen und therapeutisches Handeln notwendig machen.
Ursachenforschung
Ein einheitliches, empirisch belegtes Modell zur Ätiologie (Ursachen zur Entstehung einer Krankheit) und Aufrechterhaltung der Anorexie und Bulimie existiert bisher nicht. Aufgrund vorliegender Erkenntnisse ist auszuschließen, dass ein eindimensionales (beispielsweise ein rein biologisches oder ein rein soziokulturelles) Modell ausreicht, um zu erklären, wie die Störung entsteht und sich entwickelt. Die moderne Forschung geht vielmehr von einem multidimensionalen Modell aus, das biologische, soziokulturelle, familiendynamische und intrapsychische Elemente integriert, die unterschiedlich auf die Entwicklung einer Essstörung einwirken können.
Psychologische Determinanten.
Einige wissenschaftliche Befunde deuten darauf hin, dass es eine Verbindung zwischen Persönlichkeitseigenschaften und Essstörungen gibt. Nach Angabe von Beate Herpertz-Dahlmann stammt ein Großteil der Patientinnen mit Anorexia nervosa aus der Mittel- und Oberschicht; die Betroffenen haben zudem eine durchschnittliche bis hohe Intelligenz. Jugendliche mit Anorexie oder Bulimie berichten von einem hohen schulischen Ehrgeiz, obgleich sie häufig nicht zu den Klassenbesten gehören.
Aus verhaltenstherapeutischer Perspektive wird vor allem die individuelle Lerngeschichte als Erklärung für die Entstehung von Essstörungen herangezogen. Mechanismen des Modelllernens (beispielsweise Einfluss der Eltern durch eigene körperliche Unzufriedenheit und Diätverhalten), negative Bewertung des Kindes (bezüglich seiner Figur einschließlich der Aufforderung zur Diät) – auch durch die Peergroup (negative Verstärkung durch Hänseleien) – werden hier als zentrale Aspekte angeführt. Die Anorexie verstärkt sich zudem zum Teil selbst durch körperliche Veränderungen (zum Beispiel Freisetzung von Endorphinen) sowie durch Selbstkontrolle und Abgrenzung, die als Erfolg (im Sinne von Selbstwirksamkeit) erlebt wird. Zusammengefasst hat sich in der Verhaltenstherapie ein heuristisches Modell etabliert, das drei Klassen von "Ursachen" unterscheidet:
Aus psychodynamischer Perspektive werden für die Entstehung der Anorexie verschiedene Hypothesen angeführt.
Nach diesen Modellen wird auch verständlich, wieso die Pubertät am häufigsten die auslösende Situation für die Erstmanifestation der Essstörungen darstellt. Autonomiekonflikte, aber auch die Ablehnung der weiblichen Geschlechtsrolle – möglicherweise auch vor dem Hintergrund sexueller Traumatisierungen – sind hier zentral.
Soziokulturelle Determinanten.
Neben dem Einfluss von Familie und Peers richtet sich ein besonderes Augenmerk auf die Gendernormen und Rollenerwartungen einerseits sowie auf Körperideale andererseits, wobei hier die Vermittlung über die Medien eine entscheidende Rolle spielt.
Die weibliche und im zunehmenden Maße auch männliche Geschlechterrolle steht in einem engen Zusammenhang mit dem Aussehen und der körperlichen Attraktivität. Das Schönheitsideal der Frau hat sich in den vergangenen 50 Jahren stark geändert. Vornehmlich in den westlichen Industriestaaten ist es an einen zierlichen Körperbau und eine schmale Taille gebunden.
Das Thema Essstörungen ist mit den Massenmedien auf doppelte Weise verknüpft: Zum einen kann die öffentliche Thematisierung psychischer Störungen einen Beitrag zur Überwindung dieser Probleme leisten. Zum anderen stehen die Medien im Verdacht, ein Teil des Phänomens selbst zu sein, denn sie fungieren als Vermittler gesellschaftlicher Leitbilder und als Quelle von Vorbildern und Körperidealen.
Das Körperbild im Rahmen anorektischer Erkrankungen ist in den vergangenen Jahren immer mehr in den Blick bei der Behandlung Betroffener gerückt. Das gestörte Körperbild gehört nicht nur zu der zentralen Symptomatik, sondern lässt sich therapeutisch auch schwerer beeinflussen als andere Essstörungssymptome.
Pro-Ana-Bewegung im Internet
Medien liefern wichtige Ressourcen für Betroffene von Essstörungen. Insbesondere das Internet bietet eine Fülle an Hilfsangeboten,
Pro-Ana steht für Pro Anorexia nervosa, Pro-Mia für Pro Bulimia nervosa. Die Pro-Ana- und Pro-Mia-Bewegung werden als ein Zusammenschluss von Betroffenen in Internetforen beschrieben, die ihre Essstörung nicht nur nicht bekämpfen, sondern sich für diese aussprechen und aufrechterhalten wollen. Die ersten Foren sind in den 1990er Jahren auf englischsprachigen Internetseiten entstanden. 2000 kamen in US-amerikanischen Medien erste Berichte über Pro-Ana auf, in Deutschland wurden diese Foren mit einer Verzögerung von etwa fünf Jahren bekannt. Als Bewegung, die ihre Krankheit nicht überwinden, sondern kultivieren will, stößt Pro-Ana schnell auf Unverständnis und Besorgnis. Als Hauptnutzende der Pro-Ana-Foren werden entsprechend der bekannten Risikofaktoren von Essstörungen vor allem Mädchen und junge Frauen beschrieben.
Allerdings können Pro-Ana-Seiten in Ausrichtung und Inhalt stark variieren. Eine "typische" Pro-Ana-Seite ist in Pinktönen gehalten und mit kleinmädchenhaften Motiven gestaltet. Charakteristische Inhalte sind zum einen Informationen über verschiedene Essstörungen, deren Symptomatologie und Verlauf sowie Informationen rund um das Thema Ernährung wie beispielsweise Kalorientabellen. Zum anderen werden häufig Tipps und Tricks gegeben, die zu einer Aufrechterhaltung des gestörten Essverhaltens beitragen. Ein weiterer Bestandteil sind sogenannte thinspirations zum Beispiel in Form von Fotos extrem schlanker Models, die dazu motivieren sollen, dünn zu sein. Thinspirations können auch destruktive Selbstinstruktionen, Gedichte, Lieder oder Filme sein. Als wichtigstes Element aller Pro-Ana-Seiten gelten jedoch ihre interaktiven Anwendungsbereiche (Foren, Chats, Instant-Messaging).
Insgesamt sind Pro-Ana-Seiten meist so organisiert, dass zum inneren Bereich der Website nur diejenigen Zugang haben, die sich angemeldet und ein "Bewerbungsverfahren" durchlaufen haben. Der Jugendmedienschutz in Gestalt von jugendschutz.net hat nach eingehender Prüfung 80 Prozent der gesichteten deutschsprachigen Internetseiten als problematisch eingestuft und die Schließung zahlreicher Pro-Ana-Foren veranlasst.
Pro-Ana-Foren werden in Fachkreisen vorwiegend mit großer Sorge betrachtet.
Diese Einschätzungen beruhen jedoch auf theoretischen Überlegungen. Daher wurde eine eigene Studie vorgenommen, um die Funktionen und Effekte der Pro-Ana-Foren aus Nutzerinnenperspektive zu erfassen.
Als dominante Nutzungsmotive erwiesen sich: "um Menschen mit ähnlichen Problemen und Gedanken kennen zu lernen", "weil mich sonst niemand versteht" und "um andere bei Problemen zu unterstützen"– allesamt Motive, die konstruktiv sind für den Umgang mit Essstörungen. Allerdings fanden andere Motive mit Heilungspotenzial nur sehr geringe Zustimmung wie "um meine Essstörung loszuwerden" oder "um Informationen über Psychotherapie zu erhalten". Es zeigte sich, dass die Nutzerinnen von Pro-Ana-Foren keine homogene Gruppe darstellen. Vielmehr konnten drei Typen identifiziert werden, die sich hinsichtlich der Nutzungsmotive, des Alters sowie der Dauer der Mitgliedschaft und Essstörung voneinander unterscheiden. Typ 1 ("Heilungsorientierter Nutzertyp") machte knapp 40 Prozent der Stichprobe aus und kennzeichnet sich dadurch, dass die Überwindung der Essstörungen im Vordergrund steht. Dieser Typ fällt durch signifikant geringere Motivation zur Gewichtsreduktion im Vergleich zu Typ 2 und 3 auf. Befragte dieses Typs besuchen Pro-Ana-Foren insbesondere, um emotionale Unterstützung zu erhalten. Im Vergleich zu den anderen beiden Typen gab dieser Nutzertyp seltener gewichtsreduzierende Auswirkungen der Forennutzung an und verlor im Zeitraum der Nutzung von Pro-Ana am wenigsten an Gewicht. Typ 2 ("Bewältigungsindifferenter Nutzertyp", rund ein Fünftel der Gesamtstichprobe) ähnelt in seinen Motiven Typ 1, nämlich die Essstörung überwinden zu wollen, verfolgt jedoch auch ausgeprägte gewichtsreduzierende Nutzungsmotive. Typ 3 (etwa 40 Prozent der Gesamtstichprobe) besucht Pro-Ana-Foren vor allem wegen des Wunsches nach Gewichtsreduktion. Aufgrund dieser destruktiven Motivlage wurde dieser Typus als der "krankheitsaufrechterhaltende Nutzertyp" bezeichnet.
Nach dem subjektiven Verständnis von Pro-Ana befragt, gaben die meisten Teilnehmerinnen an, Pro-Ana sei für sie eine Selbsthilfegruppe, die das Ziel verfolge, mit einer Essstörung zu leben. Lediglich 15 Prozent sahen in Pro-Ana eine Selbsthilfegruppe, die dabei unterstütze, eine Essstörung zu überwinden. Pro-Ana als Lifestyle oder als ein "Hobby" erlebten insgesamt weniger als ein Zehntel der Befragten. Der Wunsch nach Aufrechterhaltung der Essstörung wurde von den Befragten am häufigsten durch Aspekte des "Gewinns" durch die Krankheit begründet, gefolgt von Angaben, die als erfolglose Überwindungsversuche zusammengefasst werden können. Die häufig der Pro-Ana-Bewegung zugeschriebene Einstellung, die Magersucht bis in den Tod aufrechterhalten zu wollen ("Ana till the end" = ATTE), wurde von der absoluten Mehrheit (70 Prozent) der Befragten stark abgelehnt.
Hinsichtlich der Auswirkungen der Forumsnutzung zeigte sich bei der Gesamtstichprobe, dass es nach Selbstangaben im Nutzungszeitraum zu einer deutlichen Gewichtsreduktion kam. Allerdings ergaben sich auch positive Effekte: Der weitaus größte Teil gab an, sich weniger einsam zu fühlen als vorher, und bei knapp einem Viertel der Nutzerinnen ist die Bereitschaft zu einer Psychotherapie im Laufe ihrer Pro-Ana-Mitgliedschaft gestiegen. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass Pro-Ana eine Untergruppe derjenigen anzuziehen scheint, die Therapien abgebrochen haben und diesbezüglich negative Erfahrungen berichten können. Demnach könnten Pro-Ana-Foren als der Versuch einer Entlastung besonders verzweifelter Betroffener verstanden werden.
Insgesamt gibt diese Studienlage keinen Anlass dazu, Pro-Ana-Foren pauschal gesetzlich verbieten zu müssen. Die Befunde lassen vielmehr insgesamt auf einen differenziellen Einfluss der Pro-Ana-Foren auf ihre Nutzerinnen schließen.