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Innen-, außen- und wirtschaftspolitische Setzungen des "Systems Orbán"

Kai-Olaf Lang

/ 19 Minuten zu lesen

Ministerpräsident Viktor Orbán regiert Ungarn seit 2010 mit klaren Mehrheiten. Seitdem kam es zu ebenso weitreichenden wie umstrittenen Reformen. Was für seine Partei Fidesz legitime Schritte der Erneuerung sind, ist für Kritiker semiautoritäre Machtpolitik.

Viktor Orbán gehört zu den umstrittensten Politikern Europas. Nachdem er im April 2010 mit seiner Partei Fidesz-MPSZ (im Verbund mit der kleinen christdemokratischen Gruppierung KDNP) einen triumphalen Wahlsieg eingefahren hatte und (bis Anfang 2015) mit Zweidrittelmehrheit regieren konnte, implementierte er eine weitreichende Politik des Umbaus von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, die mit einer Neujustierung der Außen- und Europapolitik einherging. Diese Setzungen sorgten für aufgeladene Debatten in Ungarn und in der Europäischen Union. Während Viktor Orbán und die Seinen behaupten, ein durch Vorgänger ruiniertes Land zu reformieren und zu modernisieren, werfen ihm Kritiker autoritäres Gebaren, die Isolierung Ungarns in der EU, ja sogar die Infragestellung demokratischer Grundprinzipien und westlicher Werte vor. Jüngstes Beispiel für derlei Auseinandersetzungen ist die Flüchtlingskrise. In dieser wird Ungarn vielfach ein brutales Umgehen mit Asylsuchenden vorgeworfen, wohingegen die Regierung Orbán erklärt, sie setze nur konsequent europäisches Recht um und wehre sich gegen einen von außen aufgezwungenen Zustrom von Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, wie die Gesamtheit der inneren Reformschritte und der außenpolitischen Positionierungen der von Fidesz-MPSZ und KDNP getragenen Regierungen (nachfolgend kurz Fidesz-Regierungen) einzuschätzen ist. Kurz: Was sind die zentralen Bausteine des "Systems Orbán"?

Wertefundament und ideologische Basis

Viktor Orbán ist mehr als ein bloßer Machtpolitiker. Amt und Herrschaft sind nicht nur Selbstzweck, sondern dienen auch der Umsetzung einer breiteren, ideologisch fundierten Agenda. Blickt man auf Wort und Tat der Orbán-Regierungen seit 2010, aber auch auf frühere Äußerungen des jetzigen ungarischen Regierungschefs, wird deutlich, dass sich der starke Mann des Fidesz als Staatsmann mit einer historischen Mission sieht und somit ein genuiner policy seeker ist. Hierbei orientiert er sich an einer Reihe von Prämissen, Zielen und Werten, die den weltanschaulichen Kanon der Fidesz-Politik sowie ihrer Regierungspraxis bilden. Angelpunkt dieser Überlegungen ist die Einschätzung, dass Ungarn sich nach einer langen Periode der Krise und des Niedergangs von Grund auf erneuern müsse. Die Ursachen für diese Fehlentwicklung seien im Übergang vom Kommunismus in neue Realitäten zu sehen. Dieser sei von teils alten, teils neuen liberalen und linken Eliten in deren Sinn und nicht zuletzt unter Wahrung spezifischer Bereicherungsinteressen gestaltet worden.

Der als Fidesz-Chefideologe geltende Orbán-Berater Gyula Tellér beschrieb das Ungarn der Nachwendezeit als dysfunktionales und liberal geprägtes "System des Systemwechsels". Dieses habe sich erschöpft und werde nun durch ein "nationales System" ersetzt, welches auf einer klaren "Gemeinschaftsorientierung" beruhe. Die Gesellschaft sei demnach nicht nur eine "Menge aus Individuen, sondern eine Gemeinschaft, eine organische Struktur". Ungarn befinde sich deswegen jetzt am Beginn einer neuen Phase des Aufbaus und der Einigung der Nation. Es ist offensichtlich, dass ein solches Vorhaben nicht nur eine politische Zäsur bedeutet, sondern einen tiefen und umfassenden Umbau von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft erfordert. Diese Umgestaltung hat insofern einen Doppelcharakter: Sie ist nachholender Systemwechsel und wertegebundene Stärkung Ungarns.

Im Zentrum des ungarischen Erneuerungs- und Umbauprozesses stehen Werte, Kategorien und Prinzipien, die sich im Großen und Ganzen unter der Überschrift "konservativ und patriotisch" zusammenfassen lassen. Hierzu gehören das Bekenntnis zur Familie in ihrer klassischen Form wie auch die Betonung von Nation und Heimat oder die positive Bezugnahme auf Religion und das Christentum als identitätsstiftende Basis für Ungarn und Europa. Auffallend ist die immer wieder vorgetragene Aufwertung von "Arbeit", die, als Wert und gesellschaftlich-staatliches Grundprinzip verstanden, gerechte und leistungsbasierte wirtschaftliche Aktivität symbolisiert – im Gegensatz zu als unfair empfundener Spekulation und zur "verkommenen" Finanzwelt.

Prominent sind auch die historischen Referenzpunkte. Der Blick zurück und die Wertschätzung von Persönlichkeiten und positiven Momenten in der Vergangenheit soll mindestens zweierlei bewirken. Einerseits wird an die glorreichen Abschnitte der ungarischen Geschichte angeknüpft: Die jetzige Regierung sieht ihre Politik in einer Reihe mit den erfolgreichen Epochen Ungarns und mit Führungsfiguren, die sich in schwierigen Zeiten für die Nation aufopferten. Die Auflistung ungarischer "Helden, Könige und Heiliger" (so der Titel einer Ausstellung, die auf der Budaer Burg bei Inkrafttreten der neuen Verfassung Anfang 2012 eröffnet wurde) soll Mut, Tragik und Kampfeswillen als permanenten Bestandteil des ungarischen Seins vor Augen führen. Andererseits sendet die orbánsche Geschichtspolitik ein außenpolitisches Signal. Trotz aller Beschränkungen und Anfeindungen ist Ungarn immer wieder in der Lage, sich äußerem Widerstand entgegenzustellen und sich zu behaupten.

Um diesen Normen Geltung zu verschaffen, bedarf es des Miteinanders, des Zusammenhalts und der Richtungsgebung. Ideen wie die der gesamtgesellschaftlichen harmonischen Kooperation (nemzeti együttmüködés) und der nationalen Einheit werden flankiert von dem mehr oder minder offen formulierten Konzept des Fidesz als Hegemonialpartei mit politischer und gesellschaftlicher Integrationsfunktion. Diese Vorstellung schien auf im von Viktor Orbán einst formulierten Bild vom "zentralen Kraftfeld" (centrális erőtér), das der Fidesz im politischen Spektrum darstellen sollte. Links und rechts hiervon würden kaum relevante Kräfte existieren. Begründet wird das Erfordernis des Zusammenwirkens mit der Dominanz wertrelativistischer Kräfte. Der "liberale Universalismus" im In- und Ausland habe das ungarische Gemeinwesen geschwächt und insbesondere dessen althergebrachtes Wertefundament unterspült. Ungarns moralischer Neubeginn und der Rekurs auf traditionelle Werte ist daher in fideszscher Lesart auch ein Feldzug gegen die vermeintliche ideologische und diskursive Vorherrschaft liberaler und kosmopolitischer Kräfte.

Machtkonzentration

Die seit Sommer 2010 in Ungarn unternommenen Schritte in Gesetzgebung und Regierungspraxis stellen nichts weniger als eine fundamentale Transformation von Staat und Politik dar. Diese ist nicht ohne Auswirkungen auf die Qualität und Realität der ungarischen Demokratie geblieben. So betrieb die Fidesz-Regierung von Anbeginn an eine Politik der systematischen Machtkonzentration. Mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, abgesichert durch die starke politische Stellung des Regierungs- und Parteichefs und flankiert durch zahlreiche institutionelle Reformen, die darauf abzielten, alternative Entscheidungszentren wie das Verfassungsgericht, die Justiz oder die Nationalbank in ihrer Autonomie oder ihren Befugnissen einzuschränken, ergab sich ein System der hierarchischen Machtballung mit ausgeprägten Zentralisierungstendenzen und starker Stellung der Regierung und ihrer Spitze.

Für wichtige Bereiche des öffentlichen Lebens hat sich die Regierungsmehrheit Lenkungs-, Einhegungs- und Kontrollinstrumente geschaffen. Personalpolitik, rechtliche Vorgaben oder neue Strukturen haben der Regierung beispielsweise im Justizwesen oder den öffentlichen Medien die Möglichkeit verliehen, Einfluss auszuüben und neue Loyalitätsstrukturen zu etablieren. Dazu kommen informelle Praktiken zur Limitierung von kritischen Gegenöffentlichkeiten in der Medienlandschaft und dem Nichtregierungssektor. Die extensive Anwendung von "Kardinalgesetzen", also Legislativakten, die nur mit Verfassungsmehrheiten beschlossen werden können, stellt die Frage nach der Reversibilität der durch die jetzige politische Option festgeschriebenen Regelungen.

Das Regierungslager argumentiert, dass es durch die übergroße Mehrheit im Parlament dazu mandatiert sei, auch radikale Veränderungen herbeizuführen. Damit wird der Gedanke der Mehrheitslegitimität in das Zentrum der politischen Rechtfertigungsdebatte gestellt. Andere Formen der Legitimitätsgewinnung etwa durch Verfahren, Deliberation, Kompromiss oder Inklusion werden hintangestellt. Prominentestes Beispiel hierfür war der Verfassungsprozess, der formal korrekt auf parlamentarischem Weg, aber im Eilverfahren umgesetzt wurde. Dabei ist die Dialog- und Kooperationsbereitschaft mit politischen Widersachern gering. Dies gilt mit wenigen Ausnahmen für alle Teile des politischen Spektrums und resultiert nicht zuletzt aus der immensen Polarisierung zwischen den großen politischen Blöcken.

Wie sind diese Entwicklungen ganzheitlich einzuschätzen und was bedeuten sie für das Funktionieren der ungarischen Demokratie? Seit 2010 haben die beiden Regierungen von Viktor Orbán den Charakter der ungarischen Demokratie verändert, diese aber nicht abgeschafft. Ungarn ist unter den Fidesz-Regierungen nicht zu einem autoritären oder semi-autokratischen Regime mutiert. Ebenso wenig existiert im Land an der Donau jedoch eine konsens- und kompromissbasierte Verhandlungsdemokratie, die auf das Gespräch mit der Opposition setzt und die Einbeziehung einer Pluralität gesellschaftlicher Akteure in den politischen oder vorpolitischen Prozess anstrebt. Ein selbstzugeschriebener transformatorischer Auftrag und die dazugehörige Machtkumulation haben im Kontext einer tief verwurzelten gesellschaftlichen Polarisierung einen konfrontativen Typus der Mehrheitsdemokratie hervorgebracht, bei der die Anliegen des minoritären Gegners unter Berufung auf die Legitimität der eigenen Sache und auf ein effizientes Regieren an den Rand geschoben werden. Insgesamt hat sich in Ungarn somit eine antagonistische Mehrheitsdemokratie mit veritabler Machtzentralisierung und Exekutivdominanz herausgebildet. Vorbedingung und Charakteristikum dieser Situation ist das Bestehen einer (in historischer Perspektive den ungarischen Normalfall darstellenden) Hegemonialpartei und einer fragementierten Opposition. Ungarns politisches Gefüge bewegt sich dabei nach wie vor in den Bahnen eines kompetitiven und pluralistischen Repräsentativsystems, hat sich aber nahe an den Fahrspurrand der gewaltenteiligen parlamentarischen Demokratie manövriert.

Unorthodoxe Wirtschaftspolitik

Bei seinem Wahlsieg im April 2010 erbte Viktor Orbán eine Volkswirtschaft mit Schieflagen, Ungleichgewichten und Großproblemen. Es war von Anfang an klar, dass Fidesz die von Haushaltsdefiziten, Überschuldung und sinkender Konkurrenzfähigkeit geplagte ungarische Wirtschaft nur mit entschlossenen Schritten aus dem Morast führen könnte, in den die Vorgängerregierungen sowie die internationale Finanzkrise sie manövriert hatten. Orbáns Antwort auf die Krise war eine "unorthodoxe" Wirtschaftspolitik, ein Mix unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen, die weniger ein geschlossenes Programm als eine unkonventionelle Sammlung von Reformschritten teils marktkonformer, teils marktskeptischer Couleur darstellt. Dementsprechend finden sich in der fideszschen Wirtschaftspolitik einerseits Aktivitäten, die klar Richtung Marktwirtschaft und Haushaltssolidität deuten. Hierzu gehören die Einführung einer linearen Einkommensteuer, Arbeitsmarktreformen mit restriktiver Sozialhilferegelung, das Eintreten für mehr Wettbewerbsfähigkeit und die Bejahung von Defizitreduktion und Staatsschuldenabbau. Andererseits tragen Denken und Handeln der Fidesz-Regierungen spürbar etatistische und interventionistische Züge. Dies belegen der angestrebte Aufbau nationaler Champions oder die (Teil-)Rückführung strategischer Unternehmen in staatliches Eigentum etwa im Energiesektor. Zielstrebig wird insbesondere im Bankensektor vorgegangen. Viktor Orbán hatte frühzeitig angegeben, man wolle mehr als die Hälfte der im Land tätigen Kreditinstitute wieder in ungarische Hände bringen. Diese Marke wurde offensichtlich bereits 2014 übertroffen. Die Rolle des Staates wird auch anhand der großangelegten Entwicklungs- und Stimuluspläne (zum Beispiel der neue Széchenyi-Plan oder Funding-for-growth-Programme für die bessere Versorgung der Wirtschaft mit Krediten) deutlich, die in den vergangenen Jahren aufgelegt wurden und deren Effekte umstritten sind.

Augenfällig ist eine national-emanzipatorische Rhetorik, die explizite Kritik an den Finanzmärkten und internationalen Finanzinstitutionen, insbesondere dem Internationalen Währungsfonds übt und gleichzeitig die Voraussetzung für eine unabhängige ungarische Wirtschaftspolitik schaffen möchte. Da sich Ungarn in einem "wirtschaftlichen Freiheitskampf" (gazdasági szabadságharc) befinde, müsse der Staat ungarische Interessen schützen, sei es, dass ausländische Unternehmen nach Jahren satter Gewinne nun durch Sondersteuern zur Kasse gebeten werden, sei es, dass gesellschaftliche Gruppen real oder symbolisch unterstützt werden, etwa durch Deckelung von Wohnnebenkosten und Energiepreisen (rezsicsökkentés) oder die Zwangskonvertierung von Fremdwährungskrediten in ungarische Forint zu Lasten der Banken und zu Gunsten von Darlehensnehmern. Hierbei wird ersichtlich, dass die fideszsche Wirtschaftspolitik stets auch eine gesellschaftspolitische Dimension aufweist: Sie soll dazu beisteuern, ein "bürgerliches Ungarn" zu schaffen – und hierfür braucht es eine starke Mittelschicht und einen nationalen Mittelstand.

Nicht zu vergessen ist die Ausrichtung an einer produktions- und arbeitsbasierten Volkswirtschaft. Ungarns Reindustrialisierung, so das selbstgesetzte Ziel, soll das Land international konkurrenzfähig machen. Während das produzierende Gewerbe (gleich ob ungarischer oder ausländischer Herkunft) unterstützt wird, sieht sich der Dienstleistungs- und Finanzsektor Skepsis und Einhegungstendenzen gegenüber. Eine solide gewerblich-industrielle Basis soll überdies einen zukunftsfesten Umbau der Sozialsysteme im Sinne eines workfare state ermöglichen.

Orbáns Wirtschaftspolitik kann in der Gesamtschau als Versuch interpretiert werden, eine Art Budapest Consensus zu etablieren, ein Wirtschaftsmodell in Abgrenzung zu Neoliberalismus und Kasinokapitalismus, das fiskalkonservativ und marktwirtschaftsorientiert, zugleich aber etatistisch und internationalisierungskritisch ist und letztlich an eine national-konservative innenpolitische Agenda angebunden bleibt. Ob dieser Weg gangbar ist, wird sich erst zeigen. In der Tat ist festzustellen, dass der unkonventionelle Ansatz zunächst einmal zur Stabilisierung einer maroden Wirtschaft beigetragen hat und Orbáns Ungarn trotz schwieriger Startbedingungen Verwerfungen wie in Griechenland vermeiden konnte. Zwar ist die Wirtschaftspolitik bislang keine Erfolgsgeschichte, aber sie hat bei allen weiterhin bestehenden Fragezeichen doch erste positive Resultate erzielt, mit denen in den ersten Jahren kaum jemand gerechnet hatte. Hierzu gehören ein moderates Wachstum und eine verantwortliche, wenn auch nicht radikale Konsolidierungspolitik. Größter Unsicherheitsfaktor bleibt aber weiterhin die Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit etwa in der Steuerpolitik. Sie hat zu einem beachtlichen Vertrauensverlust beigetragen und ihre Verbindungen mit der politischen Macht haben den Verdacht von Klientelismus und Intransparenz eher geschürt als entkräftet. Die unorthodoxe Wirtschaftspolitik ist weder gescheitert noch durchweg geglückt. Und vor allem bleibt sie einen Nachhaltigkeitsbeweis schuldig.

Außen- und Europapolitik: Schaukeln zwischen West und Ost?

Es überrascht angesichts der innen- und wirtschaftspolitischen Ambitionen wenig, dass die von Viktor Orbán geführten Regierungen auch in der Außen- und Europapolitik neue Akzente setzten. Zu einem Markenzeichen der Außenpolitik gehörte schon bald der Versuch, Ungarn stärker nach Osten hin zu orientieren (keleti nyitás). Die Idee, das Land gegenüber östlichen Partnern zu "öffnen", hat primär mit Wirtschaft, Handel und Investitionen zu tun. Die Verbesserung ungarischer Exportchancen auf den Märkten Ostasiens und Russlands, in Zentralasien, im Südkaukasus oder im Nahen Osten seien für die außenhandelsstarke ungarische Volkswirtschaft von strategischer Bedeutung. Investitionen und möglicherweise Finanzierungshilfen aus diesen Ländern sollen zusätzliche Impulse für die ungarische Wirtschaft bringen. Kennzeichnend für die "Öffnung gen Osten" ist die Hintansetzung von Werten: Im Umgang mit Partnerländern aus dem weit ausgelegten Begriff des Ostens dominiert ein pragmatischer, wirtschaftsbasierter Ansatz.

Dementsprechend wird diese Ausrichtung offiziell auch mit ökonomischen und handelspolitischen Argumenten begründet. Ähnlich wie andere europäische Länder trachtet Ungarn somit danach, seine Handelsströme und Wirtschaftsbeziehungen zu diversifizieren, um so die Angewiesenheit auf den EU-Binnenmarkt (wohin etwa drei Viertel der Ausfuhren gehen) zu reduzieren.

Die ungarische Regierung wird folglich auch nicht müde, die Hinwendung zu östlichen Gefilden als Außenwirtschaftspolitik und nicht als ideologisch motivierte Abkehr vom Westen darzustellen. Ungarn, so Außenminister Péter Szijjártó, wolle sich nicht vom Westen abkoppeln, sondern außenwirtschaftlich auf zwei Beinen gehen. Ministerpräsident Orbán betonte vor den Botschaftern seines Landes, dass es keinen Gegensatz zwischen der Westbindung Ungarns einerseits und der Vertiefung von Kooperationsbeziehungen mit Ländern des Ostens, aber auch des globalen Südens oder mit anderen Regionalpolitiken gebe, da Ungarn integraler Bestandteil von EU und NATO sei und dieser Sachverhalt auch künftig nicht infrage gestellt werde.

Es ist zutreffend, dass auch zahlreiche andere EU-Mitgliedstaaten ihre wirtschaftliche Präsenz gerade auf den "Zukunftsmärkten" in Asien verstärken wollen und auch diese harte Interessenpolitik und nicht unbedingt Demokratieförderung betreiben. Gleichwohl ist im ungarischen Werben um östliche beziehungsweise asiatische Partner aber eine politische Dimension unverkennbar. Durch die Verflechtung mit nicht-westlichen und "illiberal" regierten Staaten erhofft sich Budapest offensichtlich, ein Gegengewicht zu europäischem oder amerikanischem Einfluss zu schaffen – obschon hierdurch neue Abhängigkeiten entstehen können. Gerade die Zusammenarbeit mit Russland demonstriert die Ambivalenzen und möglichen Risiken eines intensivierten Austauschs mit einem wichtigen Partner aus dem Osten.

Viktor Orbán misst den Wirtschaftsbeziehungen Ungarns mit Russland besondere Bedeutung zu. Bei einem Treffen mit Vladimir Putin in Novo-Ogaryovo Anfang 2014 erklärte Orbán, Russland sei der wichtigste Partner Ungarns außerhalb der EU. Die wirtschaftliche Kooperation beider Länder habe "strategischen Charakter". Insbesondere die energiewirtschaftlichen Kontakte haben sich in der Zeit seit 2010 vertieft. So wollte sich Ungarn am Bau der von Russland propagierten South-Stream-Gaspipeline (eines Gastransportkorridors durch das Schwarze Meer, der die Ukraine als Transitland umgehen würde) beteiligen. Nachdem das Projekt in seiner ursprünglichen Form gescheitert war, signalisierte Ungarn Interesse, sich an dem von Russland vorgeschlagenen Nachfolgeprojekt Turk Stream zu beteiligen. Im Januar 2014 wurde in Russland im Beisein von Viktor Orbán und Vladimir Putin ein bilaterales Abkommen unterzeichnet, das den Ausbau des Atomkraftwerks im ungarischen Paks vorsieht. Die Finanzierung soll durch einen russischen Kredit in Höhe von 10 Milliarden Euro sichergestellt werden. Die Rahmenbedingungen der Vereinbarung (es gab keine öffentliche Ausschreibung, die von Russland in Aussicht gestellten Kredite haben eine Laufzeit von drei Jahrzehnten und entsprechen etwa einem Zehntel der ungarischen Jahreswirtschaftsleistung) haben in Ungarn und der EU Kritik laut werden lassen. Denn während aus Sicht der ungarischen Regierung der Bau zweier neuer Reaktorblöcke in Paks Ungarns Energiesicherheit verbessern wird, ergibt sich aus der ohnehin hohen und nun wachsenden energiewirtschaftlichen und finanziellen Anbindung an Russland das Risiko zunehmender Abhängigkeit und politischer Nähe.

Eine wichtige Rolle in den Beziehungen zu Russland spielen überdies Gaslieferungen. Niedrige Energie- und speziell Gaspreise sind ein wichtiger innenpolitischer Faktor für Viktor Orbán. So spielte die Senkung der Wohnnebenkosten eine beachtliche Rolle im Wahlkampf zu den Parlamentswahlen von 2014. Daher war auch eine Nachfolgevereinbarung des Ende 2015 auslaufenden Liefervertrags für den Bezug von russischem Erdgas eine Priorität beim vieldiskutierten Budapest-Besuch Vladimir Putins Mitte Februar 2015. Dass Russland der ungarischen Seite die flexible Nutzung nicht verbrauchter Mengen in den kommenden Jahren zugestand und überdies auf eine Konventionalstrafe für die Unterschreitung von Abnahmeverpflichtungen aus der Vergangenheit verzichtete, soll Ungarn laut Premier Orbán mehrere Milliarden Euro erspart haben. Gerade die Zusammenarbeit im Gassektor deutet auf einen weiteren Aspekt der ungarisch-russischen Beziehungen hin: Skeptiker weisen darauf hin, dass intransparente Geschäftsbeziehungen, konkret die Existenz von Zwischenhändlern (allen voran die im Rohstoffhandel tätige MET-Holding), Gewinne abwerfen, von denen unter anderen ungarische oder Fidesz-nahe Akteure profitieren sollen. Derlei undurchsichtige Schemata existierten auch schon vor Fidesz-Zeiten und sind auch in anderen EU-Mitgliedstaaten nicht ungewöhnlich.

Jenseits des wirtschaftlichen Kerns sind aber in den ungarisch-russischen Beziehungen auch zahlreiche politische Elemente augenfällig. Hierzu gehören die ungarische Kritik an der westlichen Sanktionspolitik gegenüber Russland vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise, traditionelle Parallelitäten mit Russland bezüglich des Eintretens für Landsleute jenseits der eigenen Grenze oder die Anerkennung russischen Engagements zur Stärkung christlicher Gemeinschaften. Sie sind zwar einerseits eine Manifestation ungarischer Interessenpolitik, doch gleichzeitig baut Ungarn offensiv ein Netzwerk von Kooperationsprojekten mit Russland auf und unterstreicht hierbei weltanschauliche Affinitäten. Dass Vladimir Putin im Februar 2015 nach Budapest kam, hob diese Nähe hervor und verlieh angesichts der angespannten Beziehungen zwischen dem Westen und Russland dem ungarisch-russischen Miteinander fast schon den Status einer Sonderbeziehung.

In der Europäischen Union eckte die Regierung Orbán schon bald nach dem Amtsantritt 2010 immer wieder an. So riefen umstrittene Maßnahmen wie die Verabschiedung des Mediengesetzes oder andere innere Reformen Brüsseler Institutionen auf den Plan. Die inneren Verhältnisse in Ungarn brachten eine EU-weite Diskussion über die Gefahren von Demokratierückbau und die Wirksamkeit der existierenden Instrumente zum Schutz von Rechtsstaat und Pluralismus.

Budapest reagierte hierauf abgestuft und durchaus elastisch. Sobald die Kommission tätig wurde und zum Beispiel Vertragsverletzungsverfahren drohten, war Ungarn bereit, in einen Dialog einzutreten und etwaige Anpassungen strittiger Normen vorzunehmen, sofern diese eindeutig nachweisbar waren. Instruktiv ist der Fall des Mediengesetzes. Budapest ging hier auf die von Brüssel beanstandeten Monita ein und führte die entsprechenden Gesetzesänderungen durch. Dabei handelte es sich um zwar nicht unerhebliche Modifikationen (so wurde die Pflicht zur "ausgewogenen Berichterstattung" nicht mehr auf private Medien angewendet und der Quellenschutz besser geregelt), doch blieb die Substanz des Gesetzes gewahrt. Vor allem aber konnten andere, nicht durch das Mediengesetz geregelte Maßnahmen mit durchaus handfesten Konsequenzen für die Pressefreiheit umgesetzt werden. Hierzu gehören ein tiefgreifender Personalwechsel in den öffentlichen Medien (den es auch schon unter Vorgängerregierungen gab, was dieses Vorgehen aber nicht besser macht) oder das Herunterfahren von Annoncen öffentlicher oder Fidesz-naher Unternehmen in unabhängigen Zeitungen oder Rundfunksendern.

Orbáns Ansatz beruht also vielfach darauf, Dinge infrage zu stellen, die Reaktionen Brüssels zu testen, um danach formale Regeltreue zu demonstrieren. Dieser Legalismus, dessen eigentliche Idee darin besteht, politische Probleme in rechtliche Einzelfragen zu zerlegen, eignet sich gut, um Wertekonflikte in der Rechtsgemeinschaft EU technisch zu kanalisieren. Der gleichen Philosophie folgt Ungarns Vorgehen in der Flüchtlingskrise, wo man Budapest zwar ruppiges und inhumanes Verhalten, aber nur schwer Regelbruch vorwerfen kann. Im Gegenteil, Viktor Orbán argumentiert, dass Ungarn zu den wenigen Ländern gehöre, die die Vorgaben der europäischen Justiz-, Innen- und Asylpolitik stringent umsetzen. Wo Orbán, etwa aus innenpolitischen Gründen, klar und offen europäische Grundwerte infrage stellt und Taten zu ernsthaften Reaktionen seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten führen würden, rudert er aber auch wieder zurück. Anschaulichstes Beispiel hierfür sind Orbáns Überlegungen zur Einführung der Todesstrafe, die er nach eindeutigen Stellungnahmen aus Brüssel, die bis zur Ausschlussdrohung reichten, rasch fallen ließ. Seine Politik des Vorpreschens und der elastischen Dialogbereitschaft ist auch deswegen wichtig, weil sie ihm hilft, die eigene Politik gegenüber befreundeten Parteien in der EU (also vornehmlich den Schwestergruppierungen aus der Europäischen Volkspartei) als hart, aber konstruktiv zu präsentieren.

Bei alldem hält Budapest der ungarischen Opposition wie der europäischen Öffentlichkeit vor, die internationale und EU-weite Kritik an der Politik der Fidesz-Regierungen sei nur unzureichend informiert und habe ideologische Schlagseite. In diesem Zusammenhang wurde regelmäßig auf die in der Tat streckenweise verzerrte mediale Berichterstattung und den öffentlichen Diskurs in zahlreichen Mitgliedstaaten über das Geschehen in Ungarn hingewiesen. Dem halten Viktor Orbán und der Fidesz ein grundsätzlicheres Narrativ der inneren und äußeren Emanzipation Ungarns entgegen. Dessen Tenor lautet: Mächtige "liberale" Kräfte in der Außenwelt möchten die konservative Erneuerung Ungarns verhindern. Daher muss Ungarn seine nationale Bewegungsfreiheit sichern beziehungsweise wiedererlangen, da es sonst zu einer "Kolonie" Brüssels werde. Dies alles müsse aber in der EU stattfinden, die ihrerseits jedoch die Falle eines überbordenden Supranationalismus vermeiden müsse. Die Orbánsche Europapolitik wendet sich klar gegen ein Austreten aus der EU (wie von der Jobbik gefordert), doch gleichzeitig dürfe die "tausendjährige ungarische Staatlichkeit nicht auf dem Altar Vereinigter Staaten von Europa geopfert werden". Eingebettet ist diese teils defensive, teils offensive Befreiungserzählung in eine grundsätzlichere Krisenanalyse. Dieser zufolge markieren die vielfachen Krisen Europas und des Westens "das Ende einer geistig-ideologischen Ära", nämlich der des "liberalen Blabla". Trotz vieler Risiken biete sich daher auch eine immense Chance: Das "national-christliche Gedankensystem" könne nun "nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa" wieder eine Vormachtstellung erlangen. Trotz dieser kämpferischen Ansagen und der zahlreichen Zwistigkeiten in Sachen Demokratiestandards und Rechtsstaatlichkeit blieb Budapest in vielen Bereichen der europäischen Politik ein eher unspektakulärer, ja letztlich kooperativer Partner. Dies gilt etwa für die großen Linien der EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik. Hier unterstützt Ungarn einen Ansatz zielstrebiger Haushaltskonsolidierung und verbesserter Wettbewerbsfähigkeit – wie er von Deutschland und anderen Ländern des europäischen "Nordens" favorisiert wird. Auch in der Ukraine-Krise zeigte Ungarn, dass es trotz enger Beziehungen zu Russland kein Störfaktor in der Sanktionsdebatte ist. Auch wenn Budapest gehörige Zweifel an der Politik der Ukraine hat, wird das ungarische Pipelinenetz für Gaslieferungen in das östliche Nachbarland genutzt.

Die ungarische Außen- wie auch die Europapolitik zeichnen sich in der Summe seit 2010 dadurch aus, dass sie von einer innenpolitischen Reformagenda geprägt sind, eine klare weltanschauliche Komponente aufweisen und eine explizite, ja angriffslustige Rhetorik immer wieder mit Taktieren und Realpolitik einhergeht. Die Regierung Orbán ist offenkundig bereit, gewichtige diplomatische und politische Konflikte mit Schlüsselpartnern im Westen (nicht zuletzt den USA) in Kauf zu nehmen. Sichtbar ist auch die ideologische Ummantelung einer nationalen Interessenpolitik, die ihrem Selbstverständnis nach pragmatisch sein will, aber faktisch sehr wohl von einem Set von Leitwerten inspiriert wird. Budapests "Öffnung nach Osten" ist ebenso wie seine special relationship mit Russland weder ein ungarischer pivot to Asia noch eine Schaukelpolitik zwischen den Machtzentren. Vielmehr geht es um den ambitionierten (und wohl wenig realistischen) Versuch, Ungarn mit seinem spezifischen Erneuerungsansatz im Westen zu stärken und diesen Westen im Sinne einer Koexistenz liberaler und konservativ-traditioneller Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle zu rekonstruieren. Dies erfordert Handlungsspielräume und die Nichteinmischung von außen, also die Verteidigung von Kernbeständen nationaler Souveränität einschließlich deren kultureller und normativer Grundlagen.

Ausblick

Viktor Orbán bediente und bedient die Sehnsucht vieler seiner Landsleute nach Stabilität, besserer Regierungsführung und vor allem nach materieller und wirtschaftlicher Sicherheit. Sein Programm des Umbaus und der Erneuerung zielt aber weit über diese Erwartungen hinaus. Nach innen wie nach außen geht es ihm auch um die Realisierung einer ambitionierten politischen Agenda, die in einem neotraditionalistisch-konservativen und national-etatistischen Grund verwurzelt ist. Getragen und katalysiert wird diese Agenda von der Durchsetzungsstärke und dem Selbstbehauptungswillen Viktor Orbáns. Die ständigen Erschütterungen, die sein Transformationsprogramm mit sich bringt, muten ebenso riskant an wie die immerwährenden Dispute mit der Außenwelt und den Partnern in der EU – stehen sie doch im Widerspruch zum Versprechen von Festigung und Normalität. Tatsächlich scheint aber gerade diese "permanente Unberechenbarkeit", also eine Art Dauerausnahmezustand das zu sein, was den Modus Operandi der orbánschen Regierung bestimmt und dem Chef von Regierung und Partei immer wieder aufs Neue Kraft verleiht.

Was im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise sichtbar wurde, nämlich Durcheinander und Unorganisiertheit, gereicht Viktor Orbán innenpolitisch ebenso zum Vorteil wie die Proteste der Opposition oder die Auseinandersetzungen mit multinationalen Konzernen. Viktor Orbán inszeniert sich hierbei als einzig effektiver Faktor, der Ordnung und Stabilität garantiert oder wiederherstellt. Die innen-, wirtschafts- und außenpolitischen Setzungen seit 2010 dienen daher sowohl der Verwirklichung des ideologischen Themenportfolios als auch der politischen Selbstreproduktion des Systems Orbán. Dementsprechend wird mit ihnen auch in Zukunft zu rechnen sein. Sollte sich das Modell verfestigen, ist überdies davon auszugehen, dass dieses in der EU und deren östlichen und südlichen Teilregionen Nachahmer finden wird.

Dr. sc. pol., geb. 1967; Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ludwigkirchplatz 3–4, 10719 Berlin. E-Mail Link: kai-olaf.lang@swp-berlin.org