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Industrie 4.0 und die Digitalisierung der Produktion | Megatrends? | bpb.de

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Industrie 4.0 und die Digitalisierung der Produktion Hype oder Megatrend?

Sabine Pfeiffer

/ 15 Minuten zu lesen

Es gibt gute Gründe, den Visionen auf Grundlage technischer Machbarkeitseinschätzungen mit Skepsis zu begegnen. Gleichzeitig sind die Szenarien wichtig, sind sie doch Ausdruck des Wollens politischer Entscheider.

Keine Angst vor dem digitalen Tsunami. Industrie-4.0: Der Mensch steht weiterhin im Mittelpunkt" titelten die "Osthessen News" im März 2015. Industrie 4.0 scheint schicksalhaft und machtvoll wie ein Tsunami über uns zu kommen. Dabei im Mittelpunkt zu stehen beruhigt aber kaum – ist doch die Mitte eines Tsunamis nur Eines: ein Ort ohne jede Sicherheit. Ob Industrie 4.0 schicksalhaft über uns kommt oder gestaltbar ist, ob dabei der Mensch – im guten oder im beängstigenden Sinne – im Mittelpunkt steht: Über all das wird aktuell lebhaft debattiert.

Zumindest begrifflich hat Industrie 4.0 fast Tsunami-Qualität und erfüllt damit diskursiv die Merkmale eines Megatrends: Auf der Hannover Messe 2011 erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt, schwappte der Begriff in kürzester Zeit von einem engeren Fachdiskurs in die allgemeine Wahrnehmung. Mit dem Reden über Industrie 4.0 ist die industrielle Produktion nach langer Phase weitgehender Nichtbeachtung wieder ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt. Was noch vor Kurzem als old economy galt, wird als Nukleus IT-basierten Fortschritts in disruptiver Qualität gefeiert. Auf politischer Ebene gilt Industrie 4.0 als zentrales strategisches Ziel von Wirtschafts- und Industriepolitik. Der Diskurs ist vielfältig, unübersichtlich und interessengeleitet – die Liste der unter diesem Label diskutierten technischen Optionen wird täglich länger. Industrie 4.0 ist der Meinung ihrer Vorreiter nach nichts weniger als eine – eben die vierte – industrielle Revolution: "Nach Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung der Industrie läutet der Einzug des Internets der Dinge und Dienste in die Fabrik eine 4. Industrielle Revolution ein. Unternehmen werden zukünftig ihre Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel als Cyber-Physical Systems (CPS) weltweit vernetzen."

Die Begriffe "Internet der Dinge" und "Cyber-Physical Systems" zeigen, worum es im Kern geht: möglichst alle Elemente von Produktionsprozessen, die sie flankierenden Dienstleistungen und die verbindenden Logistikprozesse durchgängig digital miteinander zu vernetzen; das Stoffliche soll mit dem Digitalen verschmelzen. Von der lokalen Produktion bis zu globalen Wertschöpfungsketten soll sich alles dezentral über elektronisch eindeutig identifizier- und nachverfolgbare Produkte beziehungsweise Produktkomponenten steuern lassen. In einer auf dieser Basis entstehenden smart factory und schließlich einer "Smart Service Welt" könne Massenfertigung überwunden und Produkte nach individuellen Bedarfen erst dann hergestellt werden, wenn sie benötigt werden, so die Hoffnung.

An jeder Stelle solch komplexer Produktions- und Wertschöpfungsnetze fallen auch heute schon Unmengen an Daten an, die im Zuge von CPS weiter anwachsen und integriert werden: Nicht nur das sich durch den Prozess bewegende Teil, sondern alle Sensoren und Aktoren in den beteiligten Maschinen und Anlagen senden Daten über ihren aktuellen Zustand – bis hin zum in nicht allzu ferner Zukunft fahrerlosen Transportdienst, der das bestellte Produkt ausliefert. Es geht also um Big Data nicht nur in Bezug auf das Verhalten von Menschen, beispielsweise ihr Konsum- oder Gesundheitsverhalten, sondern auch in Bezug auf den Verschleiß von Maschinenteilen oder optimierte Lieferwege.

Auch andere technische Entwicklungen spielen in den Industrie-4.0-Szenarien eine Rolle. Bisher kennen wir die großen stationären oder axial verschiebbaren Industrieroboter. Nun sollen Leichtbauroboter, zweiarmige Roboter und adaptive Robotik neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine ermöglichen – auch dort, wo sich solche Investitionen bisher nicht gelohnt haben. Schließlich spielt auch neue Produktionstechnologie eine Rolle: Additive Verfahren wie der 3D-Druck ermöglichen eine dezentralere Produktion einzelner Teile on demand, verändern durch Ansätze wie das rapid tooling aber auch in den Unternehmen die Arbeit im Werkzeugbau und damit die Arbeitsabläufe an der Schnittstelle zur Fertigung.

Schließlich sind wearables zu nennen, also digitale Geräte, die direkt am Körper der Beschäftigten angebracht werden können – von der Datenbrille, die bei der Instandhaltung Informationen einblendet, bis zum smarten Handschuh, der vor Fehlgriffen in der Montage warnt oder den Stresslevel anhand der Vitaldaten erkennt. Die Fülle möglicher technischer Anwendungen im Kontext von Industrie 4.0 ist mit dieser Aufzählung lange nicht erschöpft. Hinzu kommen all die Dinge, die wir aus der privaten Nutzung von Smartphones, Tablets, Apps und Social Media längst kennen: Auch sie sollen an vielen Stellen bis an Produktionsarbeitsplätze vordringen.

Szenarien einer vernetzten Produktionswelt

Soweit die tour de force durch die Vielzahl technisch inspirierter Szenarien und Anwendungsfälle. Es ist an dieser Stelle weder möglich noch sinnvoll, die technischen Details tiefer zu durchleuchten – schon deshalb, weil der Fächer des Möglichen dafür schlicht zu groß ist. Zudem ließe sich jeder dieser technischen Ansätze im Einzelnen hinterfragen: Bisweilen haben wir es nur mit Neuauflagen längst etablierter Techniken zu tun, die sich ständig weiterentwickeln. So findet sich etwa das oft zitierte Teach-in-Verfahren zur intuitiven Programmierung von Robotern schon seit Jahrzehnten im industriellen Einsatz, und die Nutzung von Maschinen- und Anlagendaten zur Fernwartung oder vorausschauenden Instandhaltung ist auch keine Neuigkeit. Schon heute ist jede Karosserie, die sich bei den großen Automobilherstellern entlang von Montagelinien auf ihre "Hochzeit" mit dem dazugehörigen Motorblock zubewegt, eindeutig mit einem Barcode gekennzeichnet. Und schließlich bemühen sich IT-Anbieter seit langer Zeit – wenn auch bei Weitem noch nicht umfassend erfolgreich – um eine weitgehende Datendurchgängigkeit von der Konstruktion eines Produkts über dessen gesamten Produktlebenszyklus hinweg bis zu seiner Demontage.

Es werden aber auch Szenarien diskutiert, die noch weiter entfernt sind von einem industriellen Einsatz: Der 3D-Druck steckt technisch vergleichsweise noch in den Kinderschuhen; und ob die dezentral selbstgesteuerte Produktion von Einzelstücken on demand gegenüber der bisher vorherrschenden Großserienfertigung sich als ökonomisch tragfähig und technisch ausreichend robust erweist, muss sich noch zeigen. Erschwerend kommt hinzu, dass die mit dem Thema verbundenen Sicherheits- und Datenschutzfragen nicht annähernd gelöst sind, dass die notwendige technische Infrastruktur eines ausreichend schnellen Internets nicht existiert und dass zudem die Gefahr einer in diesem Kontext aufgekündigten Netzneutralität besteht. All dies sind Fragen, die nicht nur technisch gelöst, sondern auch gesellschaftlich ausgehandelt werden müssen.

Vor allem aber: Es gibt nicht die Industrie 4.0. Was sich in welchen Branchen und Unternehmen durchsetzen wird, hängt vielmehr von den je unterschiedlichen Settings aus Automatisierungsgrad, Produktkomplexität, Wertschöpfungsketten, Produktionstechnologien und vielem mehr ab. Über all die relevanten Aspekte des Ist-Stands industrieller Arbeit in Deutschland aber wissen wir vergleichsweise wenig – auch die amtliche Statistik muss passen, wenn es beispielsweise darum geht, wie viele Menschen in Deutschland an hybriden – also halb automatisierten, halb manuellen – Montagearbeitsplätzen arbeiten oder wo jetzt schon datengestützt vorausschauende Instandhaltung betrieben wird. Aber nicht nur mangels Daten über den Ist-Stand sollte mit Prognosen zukünftiger Entwicklungen vorsichtig umgegangen werden. Folgt man dem Diskurs in seiner Einschätzung einer revolutionären und disruptiven Entwicklung, ist genau wegen dieser unterstellten Dynamik ein Blick in die Zukunft mit Vorsicht zu genießen – was so verläuft, entzieht sich zwangsläufig einer verlässlichen Vorhersage.

Das gilt aber auch aus ökonomischem Grund: In der industriellen Fertigung hat sich noch nie etwas allein aufgrund seiner technischen Machbarkeit durchgesetzt. Wäre dem so, hätten wir seit Generationen eine hoch technisierte Textilfertigung in Deutschland – schließlich steht die Textilindustrie historisch als erste für disruptive Automatisierungsschritte. Offensichtlich aber ist es für einen Großteil der Textilproduktion kostengünstiger, in Billiglohnländern weitgehend manuell zu produzieren als in Hochlohnländern auf der Basis von Hightech-Automatisierung.

Es gibt also gute Gründe, arbeitsmarktbezogenen quantitativen Visionen auf der Grundlage technischer Machbarkeitseinschätzungen zu Industrie 4.0 – egal ob schwarz oder weiß – mit gesunder Skepsis zu begegnen. Denn ohne einen qualitativen Blick in die Realität von Arbeit in Unternehmen und auf betriebliche Strategien greifen sie systematisch zu kurz. Gleichzeitig sind die unterschiedlichen Visionen und Szenarien wichtig – denn die Vorstellungen davon, was morgen Realität werden könnte, sind auch Ausdruck des Wollens entscheidender und gestaltender Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft heute. Darum soll es im Folgenden gehen: um die Diskursakteure, ihre Intentionen und die Rolle des Menschen in den diskutierten Szenarien.

Vierte industrielle Revolution?

Der Diskurs zu Industrie 4.0 verläuft häufig zu technisch und national zentriert. Beides definiert den Kern des Redens über Industrie 4.0 als Megatrend nicht ausreichend: Der Ursprung und die Intention des Diskurses sind nicht rein technisch, sondern vor allem ökonomisch motiviert; sie folgen internationalen Strategien, denen nationale Politik eher nacheilt, statt voranzugehen. Dass wir im Jahr 2015 fast in jeder gesellschaftlichen Sphäre von Industrie 4.0 reden, ist nicht die kausale Folge eines realen Stands technischer Entwicklungen, sondern diskursanalytisch betrachtet ein Fall professionellen agenda-buildings. Gerade deshalb aber sind der Ursprung des Diskurses und die damit transportierten Vorstellungen so relevant, denn sie beeinflussen Richtung und Ausgestaltung des erwarteten, realen und letztlich technisch und auf nationaler Ebene zu konkretisierenden Wandels.

Industrie 4.0 wird von ihren Protagonisten als vierte industrielle Revolution definiert; dabei ist schon der Begriff "industrielle Revolution" alles andere als eindeutig. Dass der Terminus "zwar zu den gebräuchlichsten, zugleich aber auch zu den umstrittensten Begriffen der Wirtschaftsgeschichte" gehört, gilt sowohl für die inhaltliche Bestimmung (wirtschaftlich-technische Veränderung der Produktionsweise vs. daran anschließende soziokulturelle und politische Wandlungsprozesse) als auch für die zeitliche Eingrenzung (auf wenige Jahrzehnte eingrenzbare Periode beschleunigten Wirtschaftswachstums vs. lang anhaltender Zeitraum des Wachstums) sowie die historische Bedeutung (vergleichbar mit der Entwicklung der neolithischen Jäger- und Sammlerkulturen oder nicht). Über die wirkliche Bedeutung von Industrie 4.0 in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte werden sich erst nachfolgende Generationen – möglicherweise – ein Bild machen, aber auch die inhaltliche Bestimmung der aktuell beschworenen Revolution ist unklar, und die Entwicklungszeiträume werden ebenfalls divers eingeschätzt.

Während die Stifter des Diskurses und relevante politische Akteure einerseits von zukünftigen Entwicklungen sprechen und die Revolution gelegentlich in eine Evolution abgeschwächt wird, mahnen sie andererseits Dringlichkeit und rasches Handeln an, wolle man nicht den Anschluss – oder die Vorreiterrolle – im globalen Wettbewerb verlieren. Die immanente Widersprüchlichkeit bringt eine der vielen Studien von Unternehmensberatungen zum Thema auf den Punkt: "The idea of how Industry 4.0 should actually be addressed becomes increasingly fuzzy. It has emerged in our discussions with clients and partners that there is no common understanding of how the manufacturing business will change and how organizations need to transform. There is a risk that the hype around Industry 4.0 will bypass corporate reality. Nevertheless, the consequences for late-movers are most likely devastating: as in earlier industrial revolutions, organizations ignoring the need for change will be forced out of the market rapidly."

Selbst im engeren technischen Diskurs herrscht wenig Einigkeit über die inhaltliche Bestimmung: So hält ein Informatik-Fachausschuss den Begriff Industrie 4.0 für ein "emotional aufgeladenes Konzept"; CPS gebe es schon seit vierzig Jahren und es sei daher "vermessen und unseriös", von einer industriellen Revolution zu sprechen; technisch etwa sei selbst Echtzeit ein "alter Hut", den Konrad Zuse vor siebzig Jahren en passant erfunden habe. Der Verfasser eines Fachartikels aus der Automatisierungsperspektive wundert sich zwar auch über das ungewöhnlich frühe Ausrufen einer Revolution, betont aber: Einzelne Technologien möge es schon länger geben, das revolutionär Neue aber erwachse aus der "Kombination verfügbarer Technologien auf neue Weise", mit der wiederum eine "Fülle an bisher undenkbaren neuen Geschäftsmöglichkeiten" entstehe.

Ökonomische Hoffnungen

Damit sind wir bei den eigentlichen Erwartungen – denn diese liegen letztlich nicht im technisch Machbaren, sondern basieren vor allem auf ökonomischen Hoffnungen: So wird in einer vom IT-Branchenverband BITKOM gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation herausgegebenen Studie von einem durch Industrie 4.0 generierten Wirtschaftswachstum für Deutschland in Höhe von 78 Milliarden Euro bis 2025 ausgegangen, verbunden mit Wachstumsraten von bis zu 30 Prozent in einzelnen Branchen, etwa dem Maschinen- und Anlagenbau. Andere Autoren kritisieren deren wenig überzeugende Datenbasis und verdeutlichen nach einem systematischen Vergleich diverser Einschätzungen der wirtschaftlichen Effekte durch Industrie 4.0, dass den durchweg positiven Wachstumserwartungen auch erhebliche Investitionen gegenüberzustellen sind, die das optimistische Bild relativieren.

Die Erwartungen immensen Wachstums durch Industrie 4.0 sind gerade in Deutschland eng an die Export- und Innovationsstärke des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus geknüpft, die als Ausrüster eine zentrale Rolle für Industrie 4.0 spielen: Basis der CPS sind die physischen Produkte und die daran gekoppelten Dienstleistungen dieser Branche. Diese Stärke Deutschlands und der vergleichsweise hohe Wertschöpfungsanteil der industriellen Produktion erklären die national zentrierte Diskussion. Es geht letztlich darum, ob die neuen Möglichkeiten der globalen Vernetzung in national wirksame ökonomische Effekte umgesetzt werden können. Im Kontext des globalen Wettbewerbs – insbesondere zu China und den USA – erscheint Industrie 4.0 etwa dem Vorstandsvorsitzenden von Siemens, Joe Kaeser, gar als "Schicksalsfrage der deutschen Industrie". Kaum bescheidener sieht es die Politik: "Wir wollen Deutschland als digitales Wachstumsland Nr. 1 in Europa etablieren", so der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel.

Auch wenn der Begriff Industrie 4.0 eine deutsche Erfindung sein mag – die Idee ist es nicht: Eine Task Force des World Economic Forum (WEF) beschäftigt sich seit 2011 mit advanced manufacturing. Zentral sind auch hier Ideen zunehmender Vernetzungsqualität in der Produktion oder des Einsatzes additiver Verfahren. Seit der internationalen Finanzkrise ab 2008 beobachtet das WEF eine wachsende Bedeutung der industriellen Produktion und beschreibt Industriepolitik in diesem Zusammenhang als "eine Kunstform" mit dem zentralen Ziel, die Wirtschaft zu unterstützen und sie von Bürokratie oder anderen Störungen zu befreien. Die erste Phase des Projekts hatte das Ziel, ein "datengetriebenes Narrativ" zu initiieren – ein Vorhaben, das offensichtlich funktioniert hat, startete der deutsche Diskurs zu Industrie 4.0 doch praktisch zeitgleich mit den Aktivitäten der WEF Task Force.

Mit ähnlicher Diagnose – Wiederentdeckung der Bedeutung des industriellen Sektors für die Wertschöpfung, ökonomisches Risiko durch die Deindustrialisierung in den USA und Zentraleuropa zugunsten der Schwellenländer China und Brasilien – und expliziter Handlungsaufforderung an die Politik folgte die Unternehmensberatung Roland Berger 2014 der Linie des WEF: Immense Investitionen seien nötig, die Idee von Industrie 4.0 müsse zu einer europäischen Idee transformiert werden, und Politik habe die Aufgabe, Regulierungshemmnisse abzubauen, die nötige Infrastruktur zu schaffen und Unternehmensneugründungen zu unterstützen. Der Nachhall dieser Appelle ist in den Positionspapieren nationaler Akteure in Deutschland fast eins zu eins wiederzufinden: Sie spiegeln sich in den Handlungsfeldern der Digitalen Agenda der Bundesregierung ebenso wider wie in den Positionspapieren der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

Von Menschen, Arbeit und Maschinen

Was bedeutet all dies für Arbeitsmarkt, Beschäftigung und Qualifikation, aber auch für gesellschaftlich übergreifende Fragen, denen ebenfalls ein Megatrendstatus zugesprochen wird, wie Ökologie oder Demografie? Zunächst scheint Industrie 4.0 auf all diese Fragen positive Antworten zu liefern: Der Ansatz ermögliche die fortlaufende Optimierung der Ressourceneffizienz über gesamte Wertschöpfungsnetze hinweg, Arbeit könne nicht nur demografiesensibel und sozialer gestaltet werden, sie werde auch kreativer und von Routineaufgaben entlastet und biete künftig verbesserte Weiterbildungs- und Vereinbarkeitschancen.

Das klingt so schön wie erstaunlich – denn die Frage liegt nahe, warum neue technische Möglichkeiten quasi automatisch in der Lage sein sollten, Widersprüche und Schwierigkeiten der aktuellen Arbeitswelt zu überwinden. Die Entwicklung der Arbeit in den vergangenen dreißig Jahren hat gezeigt, dass erweiterte Autonomiespielräume für Beschäftigte stets auch mit Widerhaken verbunden waren. Die Chancen bisheriger IT-Technik wurden oft zu einseitig gestaltet; Arbeitsverdichtung und neue, vor allem psychische Belastungen waren und sind empirisch belegbare Folgen. Und wenn betont wird, Beschäftigte würden nicht zu "biologischen Robotern degradiert", sondern stünden "weiterhin als Menschen im Mittelpunkt der Produktion", stellt sich die Frage, warum in den vergangenen Jahren im Zuge der Umsetzung ganzheitlicher Produktionssysteme oft die Taktzeiten verkürzt, ganzheitliche Aufgabenzuschnitte zurückgenommen und teilautonome in geführte Gruppenarbeit umgewandelt wurde. Es gab eine Fülle an Maßnahmen, die tendenziell zu weniger guter Arbeit für Menschen in der Produktion geführt haben.

Soll Arbeit im Kontext von Industrie 4.0 tatsächlich wieder stärker den Bedürfnissen der Menschen in den Produktionsprozessen folgen, dann erfordert dies eindeutige und letztlich normative Entscheidungen darüber, wie wir zukünftig arbeiten und leben wollen. Die Technik selbst "entscheidet" nicht – aber: Wie und nach welchen Prämissen wir Technik gestalten, das eröffnet oder verhindert Optionen. Wie in jeder anderen Phase der Automatisierung geht es um die Entscheidung darüber, in welchem Verhältnis Technik und Mensch zueinander stehen sollen. Im aktuellen Diskurs treffen sich dabei meist diametrale Szenarien, die entweder von einer Aufwertung der Rolle des Menschen im Arbeitsprozess (höhere Qualifikation, zunehmende Anteile kreativer Wissensarbeit und Abnahme körperlich belastender oder Routinearbeit) oder dessen Ersetzung und Abwertung ausgehen (technologische Arbeitslosigkeit und Abwertung der Qualifikation). Die häufig zitierten Szenarien betonen dabei entweder das positive Werkzeug oder die negativ konnotierte Automatisierung beziehungsweise den positiven Schwarm gegenüber einer negativ gezeichneten, polarisierten Organisation. Auch bei der Frage, ob durch Industrie 4.0 neue Arbeitsplätze entstehen oder wir einer Phase technologisch bedingter Arbeitslosigkeit entgegensehen, scheint es nur ein Entweder-Oder zu geben: So prognostizieren etwa Forschungen für den US-amerikanischen Arbeitsmarkt, dass dramatische 47 Prozent aller Jobs der Digitalisierung zum Opfer fallen würden, andererseits stellt die Unternehmensberatung Boston Consulting Group allein durch Industrie 4.0 für Deutschland 390.000 neue Arbeitsplätze in Aussicht.

Solche Gegenüberstellungen in Schwarz-Weiß-Manier suggerieren, wir stünden an einer eindeutig auszumachenden Wegscheide, an der es gelte, sich alternativlos für den einen oder anderen Pfad zu entscheiden. Die Realität wird vielschichtiger sein, die Entwicklungen widersprüchlich und ungleichzeitig. Diametrale Szenarien sind Zuspitzungen, die im Diskurs über Industrie 4.0 helfen, zu klären, was auf dem Weg in die Zukunft der Arbeit gestaltet werden soll. Die dafür notwendigen Entscheidungen müssen aktiv auf betrieblicher und gesellschaftlicher Ebene ausgehandelt werden. Was Industrie 4.0 am Ende ist, ob der Prozess das Etikett "industrielle Revolution" verdient haben wird, ob technologische Optionen Arbeit und Leben für viele besser machen oder ob wir alle neben dem Roboter ununterscheidbares Element einer global vernetzten blended workforce werden – all das liegt in unser aller Hände.

"Einmischen, hinterfragen und mitgestalten" lautet das Gebot der Stunde. Dafür ist Deutschland tatsächlich gut gerüstet: 71 Prozent der Beschäftigten gehen heute schon an ihrem Arbeitsplatz mit hoher Komplexität und vielen Unwägbarkeiten um und bewältigen erfolgreich vielfältigen Wandel. Ihr Fach- und Erfahrungswissen macht sie fit für die Industrie 4.0. Die Ressourcen zur partizipativen Gestaltung der Industrie der Zukunft sind also da – es gilt nun, sie auch zu nutzen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Keine Angst vor dem digitalen Tsunami, 30.3.2015, Externer Link: http://osthessen-news.de/n11502115/industrie-4-0-der-mensch-steht-weiterhin-im-mittelpunkt.html (9.7.2015).

  2. Für Kritik an der Trendforschung vgl. Holger Rust, Zukunftsillusionen, Wiesbaden 2008.

  3. Vgl. Henning Kagermann/Wolf-Dieter Lukas/Wolfgang Wahlster, Industrie 4.0: Mit dem Internet der Dinge auf dem Weg zur 4. industriellen Revolution, in: VDI Nachrichten vom 1.4.2011, Externer Link: http://www.vdi-nachrichten.com/Technik-Gesellschaft/Industrie-40-Mit-Internet-Dinge-Weg-4-industriellen-Revolution (9.7.2015).

  4. Vgl. Acatech, Digitale Vernetzung und Zukunft der Wertschöpfung in der deutschen Wirtschaft, Berlin 2015.

  5. Henning Kagermann/Wolfgang Wahlster/Johannes Helbig, Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0, Frankfurt/M. 2013, S. 5.

  6. Acatech, Smart Service Welt, Berlin 2015.

  7. Vgl. die Beiträge in der APuZ "Big Data", (2015) 11–12, Externer Link: http://www.bpb.de/202236 (9.7.2015).

  8. Additive Verfahren bauen Material auf, statt es – wie etwa beim Fräsen – abzubauen. Damit werden komplizierte Formen auch ohne Werkzeugerstellung möglich und die Abläufe zwischen Werkzeugbau, Versuchs- und Produktionsabteilungen können sich verkürzen. Dies ist mit rapid tooling gemeint.

  9. Vgl. Reiner Keller, Müll. Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen, Wiesbaden 2009, S. 64.

  10. Vgl. Hans-Werner Hahn, Die industrielle Revolution in Deutschland. Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 49, München 2005, S. 51–58, Zitat: S. 51.

  11. Vgl. Thomas Bauernhansl, Die Vierte Industrielle Revolution, in: ders./Michael ten Hompel/Birgit Vogel-Heuser (Hrsg.), Industrie 4.0 in Produktion, Wiesbaden 2014, S. 5–37.

  12. Jochen Bechthold et al., Industry 4.0. The Capgemini Consulting View, Sharpening the Picture Beyond the Hype, Paris 2014, S. 4.

  13. Wolfgang A. Halang/Herwig Unger, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Industrie 4.0 und Echtzeit, Wiesbaden 2014, S. V f.

  14. Rainer Drath, Industrie 4.0 – eine Einführung, in: Open Automation, (2014) 3, S. 17–21.

  15. Vgl. Wilhelm Bauer et al., Industrie 4.0. Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland, Berlin 2014.

  16. Vgl. Steffen Wischmann/Leo Wangler/Alfons Botthof, Industrie 4.0. Volks- und betriebswirtschaftliche Faktoren für den Standort Deutschland, Berlin 2015.

  17. Zit. nach: Kaeser: Industrie 4.0 ist Schicksalsfrage der deutschen Industrie, 12.4.2015, Externer Link: http://www.finanznachrichten.de/33371314 (9.7.2015).

  18. Sigmar Gabriel, Vorwort, in: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.), Industrie 4.0 und Digitale Wirtschaft, Berlin 2015, S. 2.

  19. Vgl. World Economic Forum, The Future of Manufacturing, Davos 2015, S. 6–9, S. 25, S. 73.

  20. Vgl. ebd.

  21. Vgl. Roland Berger, Industry 4.0. The New Industrial Revolution, How Europe Will Succeed, München 2014.

  22. Vgl. Bundesregierung, Digitale Agenda 2014–2017, Externer Link: http://www.digitale-agenda.de (9.7.2015).

  23. Vgl. Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt. Rede von Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer, 3.12.2014, Externer Link: http://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/25FFD432EBE52017C1257DA40035846A/$file/Rede-IK-Digitalisierung-von-Wirtschaft-und-Arbeitswelt.pdf (9.7.2015).

  24. Siehe hierzu auch die Beiträge von Oliver Geden/Silke Beck und Thorsten Wiechmann in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  25. Vgl. H. Kagermann/W. Wahlster/J. Helbig (Anm. 5), S. 5.

  26. Vgl. Sabine Pfeiffer, Technologische Grundlagen der Entgrenzung, in: Bernhard Badura et al. (Hrsg.), Fehlzeiten-Report 2012, Berlin 2012, S. 15–21.

  27. W. Bauer et al. (Anm. 15), S. 38.

  28. Vgl. Wilfried Adami et al. (Hrsg.), Montage braucht Erfahrung, München 2008.

  29. Vgl. Lars Windelband/Georg Spöttl, Diffusion von Technologien in die Facharbeit und deren Konsequenzen für die Qualifizierung am Beispiel des "Internet der Dinge", in: Uwe Faßhauer/Bärbel Fürstenau/Eveline Wuttke (Hrsg.), Berufs- und wirtschaftspädagogische Analysen, Opladen 2012, S. 205–219.

  30. Vgl. Hartmut Hirsch-Kreinsen, Wandel von Produktionsarbeit – "Industrie 4.0", in: WSI Mitteilungen, 67 (2014) 6, S. 421–429.

  31. Vgl. Carl B. Frey/Michael A. Osborne, The Future of Employment: How Susceptible Are Jobs to Computerisation?, Oxford 2013.

  32. Vgl. Michael Rüßmann et al., Industry 4.0. The Future of Productivity and Growth in Manufacturing Industries, Boston 2015.

  33. Gemeint ist eine "collaborative workforce composed of both people and machines (…) working side by side". Ob intelligente Algorithmen oder Roboter: Menschen und Technik werden dabei auf eine Stufe gestellt, mit unterschiedlichen einzubringenden Fähigkeiten. Vgl. Accenture, Digital Business Era, Phoenix 2015, S. 88.

  34. Vgl. Sabine Pfeiffer/Anne Suphan, Der AV-Index. Lebendiges Arbeitsvermögen und Erfahrung als Ressourcen auf dem Weg zu Industrie 4.0., Stuttgart 2015, Externer Link: http://www.sabine-pfeiffer.de/files/downloads/2015-Pfeiffer-Suphan-draft.pdf (9.7.2015).

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Dr. phil. habil., geb. 1966; Professorin für Soziologie an der Universität Hohenheim, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Wollgrasweg 23, 70599 Stuttgart. E-Mail Link: soziologie@uni-hohenheim.de