Keine Angst vor dem digitalen Tsunami. Industrie-4.0: Der Mensch steht weiterhin im Mittelpunkt" titelten die "Osthessen News" im März 2015.
Zumindest begrifflich hat Industrie 4.0 fast Tsunami-Qualität und erfüllt damit diskursiv die Merkmale eines Megatrends:
Die Begriffe "Internet der Dinge" und "Cyber-Physical Systems" zeigen, worum es im Kern geht: möglichst alle Elemente von Produktionsprozessen, die sie flankierenden Dienstleistungen und die verbindenden Logistikprozesse durchgängig digital miteinander zu vernetzen; das Stoffliche soll mit dem Digitalen verschmelzen. Von der lokalen Produktion bis zu globalen Wertschöpfungsketten soll sich alles dezentral über elektronisch eindeutig identifizier- und nachverfolgbare Produkte beziehungsweise Produktkomponenten steuern lassen. In einer auf dieser Basis entstehenden smart factory und schließlich einer "Smart Service Welt"
An jeder Stelle solch komplexer Produktions- und Wertschöpfungsnetze fallen auch heute schon Unmengen an Daten an, die im Zuge von CPS weiter anwachsen und integriert werden: Nicht nur das sich durch den Prozess bewegende Teil, sondern alle Sensoren und Aktoren in den beteiligten Maschinen und Anlagen senden Daten über ihren aktuellen Zustand – bis hin zum in nicht allzu ferner Zukunft fahrerlosen Transportdienst, der das bestellte Produkt ausliefert. Es geht also um Big Data nicht nur in Bezug auf das Verhalten von Menschen, beispielsweise ihr Konsum- oder Gesundheitsverhalten,
Auch andere technische Entwicklungen spielen in den Industrie-4.0-Szenarien eine Rolle. Bisher kennen wir die großen stationären oder axial verschiebbaren Industrieroboter. Nun sollen Leichtbauroboter, zweiarmige Roboter und adaptive Robotik neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine ermöglichen – auch dort, wo sich solche Investitionen bisher nicht gelohnt haben. Schließlich spielt auch neue Produktionstechnologie eine Rolle: Additive Verfahren wie der 3D-Druck ermöglichen eine dezentralere Produktion einzelner Teile on demand, verändern durch Ansätze wie das rapid tooling aber auch in den Unternehmen die Arbeit im Werkzeugbau und damit die Arbeitsabläufe an der Schnittstelle zur Fertigung.
Schließlich sind wearables zu nennen, also digitale Geräte, die direkt am Körper der Beschäftigten angebracht werden können – von der Datenbrille, die bei der Instandhaltung Informationen einblendet, bis zum smarten Handschuh, der vor Fehlgriffen in der Montage warnt oder den Stresslevel anhand der Vitaldaten erkennt. Die Fülle möglicher technischer Anwendungen im Kontext von Industrie 4.0 ist mit dieser Aufzählung lange nicht erschöpft. Hinzu kommen all die Dinge, die wir aus der privaten Nutzung von Smartphones, Tablets, Apps und Social Media längst kennen: Auch sie sollen an vielen Stellen bis an Produktionsarbeitsplätze vordringen.
Szenarien einer vernetzten Produktionswelt
Soweit die tour de force durch die Vielzahl technisch inspirierter Szenarien und Anwendungsfälle. Es ist an dieser Stelle weder möglich noch sinnvoll, die technischen Details tiefer zu durchleuchten – schon deshalb, weil der Fächer des Möglichen dafür schlicht zu groß ist. Zudem ließe sich jeder dieser technischen Ansätze im Einzelnen hinterfragen: Bisweilen haben wir es nur mit Neuauflagen längst etablierter Techniken zu tun, die sich ständig weiterentwickeln. So findet sich etwa das oft zitierte Teach-in-Verfahren zur intuitiven Programmierung von Robotern schon seit Jahrzehnten im industriellen Einsatz, und die Nutzung von Maschinen- und Anlagendaten zur Fernwartung oder vorausschauenden Instandhaltung ist auch keine Neuigkeit. Schon heute ist jede Karosserie, die sich bei den großen Automobilherstellern entlang von Montagelinien auf ihre "Hochzeit" mit dem dazugehörigen Motorblock zubewegt, eindeutig mit einem Barcode gekennzeichnet. Und schließlich bemühen sich IT-Anbieter seit langer Zeit – wenn auch bei Weitem noch nicht umfassend erfolgreich – um eine weitgehende Datendurchgängigkeit von der Konstruktion eines Produkts über dessen gesamten Produktlebenszyklus hinweg bis zu seiner Demontage.
Es werden aber auch Szenarien diskutiert, die noch weiter entfernt sind von einem industriellen Einsatz: Der 3D-Druck steckt technisch vergleichsweise noch in den Kinderschuhen; und ob die dezentral selbstgesteuerte Produktion von Einzelstücken on demand gegenüber der bisher vorherrschenden Großserienfertigung sich als ökonomisch tragfähig und technisch ausreichend robust erweist, muss sich noch zeigen. Erschwerend kommt hinzu, dass die mit dem Thema verbundenen Sicherheits- und Datenschutzfragen nicht annähernd gelöst sind, dass die notwendige technische Infrastruktur eines ausreichend schnellen Internets nicht existiert und dass zudem die Gefahr einer in diesem Kontext aufgekündigten Netzneutralität besteht. All dies sind Fragen, die nicht nur technisch gelöst, sondern auch gesellschaftlich ausgehandelt werden müssen.
Vor allem aber: Es gibt nicht die Industrie 4.0. Was sich in welchen Branchen und Unternehmen durchsetzen wird, hängt vielmehr von den je unterschiedlichen Settings aus Automatisierungsgrad, Produktkomplexität, Wertschöpfungsketten, Produktionstechnologien und vielem mehr ab. Über all die relevanten Aspekte des Ist-Stands industrieller Arbeit in Deutschland aber wissen wir vergleichsweise wenig – auch die amtliche Statistik muss passen, wenn es beispielsweise darum geht, wie viele Menschen in Deutschland an hybriden – also halb automatisierten, halb manuellen – Montagearbeitsplätzen arbeiten oder wo jetzt schon datengestützt vorausschauende Instandhaltung betrieben wird. Aber nicht nur mangels Daten über den Ist-Stand sollte mit Prognosen zukünftiger Entwicklungen vorsichtig umgegangen werden. Folgt man dem Diskurs in seiner Einschätzung einer revolutionären und disruptiven Entwicklung, ist genau wegen dieser unterstellten Dynamik ein Blick in die Zukunft mit Vorsicht zu genießen – was so verläuft, entzieht sich zwangsläufig einer verlässlichen Vorhersage.
Das gilt aber auch aus ökonomischem Grund: In der industriellen Fertigung hat sich noch nie etwas allein aufgrund seiner technischen Machbarkeit durchgesetzt. Wäre dem so, hätten wir seit Generationen eine hoch technisierte Textilfertigung in Deutschland – schließlich steht die Textilindustrie historisch als erste für disruptive Automatisierungsschritte. Offensichtlich aber ist es für einen Großteil der Textilproduktion kostengünstiger, in Billiglohnländern weitgehend manuell zu produzieren als in Hochlohnländern auf der Basis von Hightech-Automatisierung.
Es gibt also gute Gründe, arbeitsmarktbezogenen quantitativen Visionen auf der Grundlage technischer Machbarkeitseinschätzungen zu Industrie 4.0 – egal ob schwarz oder weiß – mit gesunder Skepsis zu begegnen. Denn ohne einen qualitativen Blick in die Realität von Arbeit in Unternehmen und auf betriebliche Strategien greifen sie systematisch zu kurz. Gleichzeitig sind die unterschiedlichen Visionen und Szenarien wichtig – denn die Vorstellungen davon, was morgen Realität werden könnte, sind auch Ausdruck des Wollens entscheidender und gestaltender Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft heute. Darum soll es im Folgenden gehen: um die Diskursakteure, ihre Intentionen und die Rolle des Menschen in den diskutierten Szenarien.
Vierte industrielle Revolution?
Der Diskurs zu Industrie 4.0 verläuft häufig zu technisch und national zentriert. Beides definiert den Kern des Redens über Industrie 4.0 als Megatrend nicht ausreichend: Der Ursprung und die Intention des Diskurses sind nicht rein technisch, sondern vor allem ökonomisch motiviert; sie folgen internationalen Strategien, denen nationale Politik eher nacheilt, statt voranzugehen. Dass wir im Jahr 2015 fast in jeder gesellschaftlichen Sphäre von Industrie 4.0 reden, ist nicht die kausale Folge eines realen Stands technischer Entwicklungen, sondern diskursanalytisch betrachtet ein Fall professionellen agenda-buildings.
Industrie 4.0 wird von ihren Protagonisten als vierte industrielle Revolution definiert; dabei ist schon der Begriff "industrielle Revolution" alles andere als eindeutig. Dass der Terminus "zwar zu den gebräuchlichsten, zugleich aber auch zu den umstrittensten Begriffen der Wirtschaftsgeschichte" gehört, gilt sowohl für die inhaltliche Bestimmung (wirtschaftlich-technische Veränderung der Produktionsweise vs. daran anschließende soziokulturelle und politische Wandlungsprozesse) als auch für die zeitliche Eingrenzung (auf wenige Jahrzehnte eingrenzbare Periode beschleunigten Wirtschaftswachstums vs. lang anhaltender Zeitraum des Wachstums) sowie die historische Bedeutung (vergleichbar mit der Entwicklung der neolithischen Jäger- und Sammlerkulturen oder nicht).
Während die Stifter des Diskurses und relevante politische Akteure einerseits von zukünftigen Entwicklungen sprechen und die Revolution gelegentlich in eine Evolution abgeschwächt wird, mahnen sie andererseits Dringlichkeit und rasches Handeln an, wolle man nicht den Anschluss – oder die Vorreiterrolle – im globalen Wettbewerb verlieren.
Selbst im engeren technischen Diskurs herrscht wenig Einigkeit über die inhaltliche Bestimmung: So hält ein Informatik-Fachausschuss den Begriff Industrie 4.0 für ein "emotional aufgeladenes Konzept"; CPS gebe es schon seit vierzig Jahren und es sei daher "vermessen und unseriös", von einer industriellen Revolution zu sprechen; technisch etwa sei selbst Echtzeit ein "alter Hut", den Konrad Zuse vor siebzig Jahren en passant erfunden habe.
Ökonomische Hoffnungen
Damit sind wir bei den eigentlichen Erwartungen – denn diese liegen letztlich nicht im technisch Machbaren, sondern basieren vor allem auf ökonomischen Hoffnungen: So wird in einer vom IT-Branchenverband BITKOM gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation herausgegebenen Studie von einem durch Industrie 4.0 generierten Wirtschaftswachstum für Deutschland in Höhe von 78 Milliarden Euro bis 2025 ausgegangen, verbunden mit Wachstumsraten von bis zu 30 Prozent in einzelnen Branchen, etwa dem Maschinen- und Anlagenbau.
Die Erwartungen immensen Wachstums durch Industrie 4.0 sind gerade in Deutschland eng an die Export- und Innovationsstärke des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus geknüpft, die als Ausrüster eine zentrale Rolle für Industrie 4.0 spielen: Basis der CPS sind die physischen Produkte und die daran gekoppelten Dienstleistungen dieser Branche. Diese Stärke Deutschlands und der vergleichsweise hohe Wertschöpfungsanteil der industriellen Produktion erklären die national zentrierte Diskussion. Es geht letztlich darum, ob die neuen Möglichkeiten der globalen Vernetzung in national wirksame ökonomische Effekte umgesetzt werden können. Im Kontext des globalen Wettbewerbs – insbesondere zu China und den USA – erscheint Industrie 4.0 etwa dem Vorstandsvorsitzenden von Siemens, Joe Kaeser, gar als "Schicksalsfrage der deutschen Industrie".
Auch wenn der Begriff Industrie 4.0 eine deutsche Erfindung sein mag – die Idee ist es nicht: Eine Task Force des World Economic Forum (WEF) beschäftigt sich seit 2011 mit advanced manufacturing.
Mit ähnlicher Diagnose – Wiederentdeckung der Bedeutung des industriellen Sektors für die Wertschöpfung, ökonomisches Risiko durch die Deindustrialisierung in den USA und Zentraleuropa zugunsten der Schwellenländer China und Brasilien – und expliziter Handlungsaufforderung an die Politik folgte die Unternehmensberatung Roland Berger 2014 der Linie des WEF: Immense Investitionen seien nötig, die Idee von Industrie 4.0 müsse zu einer europäischen Idee transformiert werden, und Politik habe die Aufgabe, Regulierungshemmnisse abzubauen, die nötige Infrastruktur zu schaffen und Unternehmensneugründungen zu unterstützen.
Von Menschen, Arbeit und Maschinen
Was bedeutet all dies für Arbeitsmarkt, Beschäftigung und Qualifikation, aber auch für gesellschaftlich übergreifende Fragen, denen ebenfalls ein Megatrendstatus zugesprochen wird, wie Ökologie oder Demografie?
Das klingt so schön wie erstaunlich – denn die Frage liegt nahe, warum neue technische Möglichkeiten quasi automatisch in der Lage sein sollten, Widersprüche und Schwierigkeiten der aktuellen Arbeitswelt zu überwinden. Die Entwicklung der Arbeit in den vergangenen dreißig Jahren hat gezeigt, dass erweiterte Autonomiespielräume für Beschäftigte stets auch mit Widerhaken verbunden waren. Die Chancen bisheriger IT-Technik wurden oft zu einseitig gestaltet; Arbeitsverdichtung und neue, vor allem psychische Belastungen waren und sind empirisch belegbare Folgen.
Soll Arbeit im Kontext von Industrie 4.0 tatsächlich wieder stärker den Bedürfnissen der Menschen in den Produktionsprozessen folgen, dann erfordert dies eindeutige und letztlich normative Entscheidungen darüber, wie wir zukünftig arbeiten und leben wollen. Die Technik selbst "entscheidet" nicht – aber: Wie und nach welchen Prämissen wir Technik gestalten, das eröffnet oder verhindert Optionen. Wie in jeder anderen Phase der Automatisierung geht es um die Entscheidung darüber, in welchem Verhältnis Technik und Mensch zueinander stehen sollen. Im aktuellen Diskurs treffen sich dabei meist diametrale Szenarien, die entweder von einer Aufwertung der Rolle des Menschen im Arbeitsprozess (höhere Qualifikation, zunehmende Anteile kreativer Wissensarbeit und Abnahme körperlich belastender oder Routinearbeit) oder dessen Ersetzung und Abwertung ausgehen (technologische Arbeitslosigkeit und Abwertung der Qualifikation). Die häufig zitierten Szenarien betonen dabei entweder das positive Werkzeug oder die negativ konnotierte Automatisierung
Solche Gegenüberstellungen in Schwarz-Weiß-Manier suggerieren, wir stünden an einer eindeutig auszumachenden Wegscheide, an der es gelte, sich alternativlos für den einen oder anderen Pfad zu entscheiden. Die Realität wird vielschichtiger sein, die Entwicklungen widersprüchlich und ungleichzeitig. Diametrale Szenarien sind Zuspitzungen, die im Diskurs über Industrie 4.0 helfen, zu klären, was auf dem Weg in die Zukunft der Arbeit gestaltet werden soll. Die dafür notwendigen Entscheidungen müssen aktiv auf betrieblicher und gesellschaftlicher Ebene ausgehandelt werden. Was Industrie 4.0 am Ende ist, ob der Prozess das Etikett "industrielle Revolution" verdient haben wird, ob technologische Optionen Arbeit und Leben für viele besser machen oder ob wir alle neben dem Roboter ununterscheidbares Element einer global vernetzten blended workforce
"Einmischen, hinterfragen und mitgestalten" lautet das Gebot der Stunde. Dafür ist Deutschland tatsächlich gut gerüstet: 71 Prozent der Beschäftigten gehen heute schon an ihrem Arbeitsplatz mit hoher Komplexität und vielen Unwägbarkeiten um und bewältigen erfolgreich vielfältigen Wandel.