Das britische Außenministerium beauftragte 1918 einen jungen Historiker, Charles Webster, Professor an der Universität Liverpool, eine Darstellung des Wiener Kongresses zu schreiben.
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Beide fanden im Anschluss an einen "Großen Krieg" statt, dessen Ausmaß und Intensität alles bis dahin Bekannte weit übertroffen hatte. Die Koalitionskriege hatten zwischen 1792 und 1814 ganz Europa, den Mittelmeerraum und den Nahen Osten erfasst.
Zudem waren die Revolutions- und napoleonischen Kriege sowie der Erste Weltkrieg gleichermaßen ideologische Kriege gewesen: Zwischen 1792 und 1814 standen sich das revolutionäre und das gegenrevolutionäre Prinzip gegenüber:
Im Ersten Weltkrieg hatte es ebenfalls zwei ideologische Lager gegeben, am Ende sollten es sogar drei sein: Bei Kriegsausbruch 1914 einerseits die Mittelmächte, angeführt durch das Deutsche Reich, die sich mit den "Ideen von 1914" ein antiwestliches Kampfprogramm gaben,
Schließlich gab es noch eine weitere Parallele zwischen den beiden Kriegen und den ihnen folgenden Neuordnungsversuchen in Wien 1814/15 und in Paris 1919/20: der Wille der Beteiligten, einen dauerhaften Frieden zu schaffen, der das durch die vorangegangenen großen Konflagrationen entstandene Chaos wieder ordnen sollte. Deshalb versammelten sich in Wien wie in Paris Vertreter fast aller kriegführenden Parteien, angeführt von ihren leitenden Politikern, wenn nicht sogar von ihren Staatsoberhäuptern: in Wien Klemens Wenzel Lothar Nepomuk, Fürst von Metternich für Österreich, Robert Stewart Viscount Castlereagh für Großbritannien und Charles-Maurice de Talleyrand für Frankreich, aber ebenso die Kaiser Franz I. von Österreich und Alexander I. von Russland sowie der preußische König Friedrich-Wilhelm III.; in Paris Frankreichs Regierungschef Georges Clemenceau, der britische Premier David Lloyd George, Italiens Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando und US-Präsident Woodrow Wilson.
Überdies waren die beiden Konferenzen ähnlich organisiert. Es gab ein Führungsgremium der vier wichtigsten Siegermächte – in Wien: Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen; in Paris: die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien. Diese "Großen Vier" trafen jeweils alle Vorentscheidungen im Hinblick auf die jeweiligen Nachkriegsordnungen. Dabei konnten sie sich in beiden Fällen wiederum auf Expertenkommissionen stützen, die über Detailfragen berieten.
Unterschiedliche Wege
Jenseits dieser Parallelen fielen allerdings die Antworten der Entscheidungsträger in Wien und Paris auf die Frage nach den Bedingungen für eine stabile Nachkriegsordnung und folglich auch für die neue Friedenskultur gänzlich unterschiedlich aus. Ungeachtet erheblicher Differenzen über Detailfragen, die in der Sachsen-Polen-Frage kurzzeitig sogar zu einem neuen militärischen Konflikt zu eskalieren drohten, war der Wiener Kongress durch eine bemerkenswerte Eintracht geprägt: Nach fast einem Vierteljahrhundert des Krieges und gesellschaftlicher Umstürze war das gemeinsame Ziel der Unterhändler, jede Wiederauflage der Französischen Revolution zu verhindern. Denn eine solche würde, so zumindest die Schlussfolgerung aus der Erfahrung von 1792, unweigerlich in einen internationalen Konflikt münden.
Um gleichermaßen erfolgreich Kriegs- und Revolutionsprophylaxe betreiben zu können, waren sie nicht nur bereit, beispielsweise in Frankreich oder auf dem ehemaligen Gebiet des Heiligen Römischen Reiches auf eine einfache Restauration des Ancien Régime zu verzichten, sondern auch, das besiegte Frankreich in die neue Nachkriegsordnung zu integrieren – bereits 1814 als Teilnehmer des Wiener Kongresses, dann 1815 als Mitglied der "Heiligen Allianz" und ab 1818 schließlich auch als Partner innerhalb des Europäischen Konzerts.
Ein Jahrhundert später waren die Pariser Unterhändler weit von einem vergleichbaren Konsens entfernt.
Entsprechend groß sollte ihre Enttäuschung über die Ergebnisse sein: Vor allem Frankreich fühlte sich keineswegs sicher vor einem neuen deutschen Angriff, und Italien trauerte seinen "Irredenta" nach, während den neu entstandenen Staaten in Mittelost- und Südosteuropa wegen ihrer ethnischen Gemengelage eine permanente innere Instabilität und Grenzkonflikte drohten. Kurzum: Am Ende der Pariser Friedenskonferenz standen Abmachungen, die noch nicht einmal alle Siegermächte befriedigten, geschweige denn die Besiegten oder das isolierte Russland.
Zudem vermochte der neu gegründete Völkerbund die Mängel der Pariser Friedensordnung nicht zu kompensieren, im Gegenteil – er wurde geradezu zu deren Symptom: Zum einen gehörten ihm zwei so wichtige Großmächte wie Deutschland (ab 1926) und Russland beziehungsweise die Sowjetunion (ab 1934) erst relativ spät an, was ihn von Beginn an schwächte. Zum anderen traten ihm die USA gar nicht erst bei. Die europäische Entspannungspolitik wiederum, für die der Vertrag von Locarno von 1925 stand, blieb nur eine Episode. Befeuert durch einen verbreiteten Nationalismus obsiegten letztlich Misstrauen und Rivalität zwischen jenen Mächten, die den Status quo der Pariser Friedensordnung weitgehend kompromisslos wahren wollten, und jenen, die ihn in Gänze infrage stellten und schließlich selbst mit kriegerischen Mitteln zu revidieren bereit waren.
Während also in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress eine relativ stabile Nachkriegsordnung bestand,
"Legitimität schließt in sich ein, dass alle Großmächte im Großen und Ganzen eine bestimmte internationale Ordnung respektieren (…). Eine legitime Ordnung schließt Konflikte nicht aus (…), doch sie werden ausgefochten im Namen der bestehenden internationalen Struktur, und der nachfolgende Friede wird als besserer Ausdruck der ‚legitimen‘ allgemeinen Überzeugung gerechtfertigt. (…) Sobald eine Macht die internationale Ordnung oder die Art ihrer Legitimität ablehnt, werden die Beziehungen zwischen ihr und den anderen Mächten revolutionär. Dann geht es nicht um die Beilegung von Differenzen innerhalb eines gegebenen Systems, sondern dann geht es um das System selbst".
Insofern war die Wiener Nachkriegsordnung "legitim", denn ihre Prinzipien und Regeln wurden von allen Akteuren, einschließlich dem besiegten Frankreich, respektiert und vorübergehend aufflammende Konflikte im Rahmen des Europäischen Konzerts meistenteils konsensuell beigelegt. Die Pariser Nachkriegsordnung hingegen war von Beginn an "revolutionär", weil zumindest eine Großmacht, Deutschland, den Status quo nachdrücklich verändern wollte – ein Ansinnen, dem sich in den 1930er Jahren Italien, Japan und die Sowjetunion anschlossen, womit die Ergebnisse der Pariser Friedenskonferenz endgültig obsolet wurden.
Zweierlei Kriege – Zweierlei Friedenskulturen
Wer sich die Unterschiede zwischen diesen beiden Friedenskulturen erklären will, muss bei allen zuvor aufgeführten Parallelen zunächst einmal die Unterschiede zwischen den beiden vorangegangenen Kriegen in den Blick nehmen. Derjenige, der zur französischen Niederlage von 1814 führte, wurde in letzter Konsequenz nicht gegen Frankreich insgesamt, sondern gegen Napoleon I. geführt.
Zudem gab es in diesem Zusammenhang noch einen anderen wichtigen Unterschied: Obwohl der Kampf gegen Napoleon I. in Spanien, Tirol und schließlich auch in Deutschland zeitweise durchaus Züge eines Volkskampfes annahm, blieb er jedoch am Ende ein traditioneller Krieg, der von den hergebrachten aristokratischen Eliten des Ancien Régime geführt wurde, die sich wiederum ihre Kriegsziele keineswegs von populären Stimmungen vorschreiben ließen. Insofern markiert diese militärische Auseinandersetzung eine Scheidelinie – einerseits zwischen den Kabinettskriegen des frühneuzeitlichen Mächtesystems und den großen Volkskriegen des anbrechenden Zeitalters der Nationalstaaten; andererseits zwischen der Vorherrschaft der aus der Zeit des Absolutismus stammenden leichter steuerbaren Autokratien und den sich bald zunehmend Bahn brechenden, im Hinblick auf ihren Gefühlshaushalt schwerer kalkulierbaren Demokratien. Der Erste Weltkrieg war hingegen weitgehend durch den neuen Kriegs- und Gesellschaftstypus geprägt und erfasste die Bevölkerungen aller kriegführenden Staaten, sodass sich zunehmend ein absoluter Hass auf den Gegner entwickelte – ein Hass, der Züge einer veritablen Feindideologie annahm, zumal er auf allen Seiten von der Kriegspropaganda weiter angestachelt wurde.
Schließlich waren auch die jeweiligen Friedenskonferenzen völlig verschieden: Der Wiener Kongress war "ein europäischer Friedensvollzugskongress";
Urteil der Historiker
Die heutige Geschichtsschreibung erkennt sowohl die relative Weisheit jener an, die sich 1814/15 in Wien versammelten, als auch die Zwänge, denen die Unterhändler in Paris 1919/20 unterlagen.
Gleichzeitig ist die Wiener Nachkriegsordnung mittlerweile geradezu zum "kollektiven Sicherheitssystem" und damit zum Vorreiter multi- und supranationaler Strukturen unserer Tage überhöht worden.
Andererseits ist diese Analogie aber gleich in mehrfacher Hinsicht überspitzt: Erstens fehlten dem Europäischen Konzert wesentliche Attribute der kollektiven Sicherheitssysteme des 20. und 21. Jahrhunderts – die breite Basis in der Völkergemeinschaft, die Institutionalisierung und Permanenz der Beratungen, das differenzierte Sanktionsinstrumentarium.
Zweitens verkennt die heute verbreitete Idealisierung des Europäischen Konzerts dessen Realität: Eine alle Großmächte einbeziehende Abstimmung im engeren Sinne wurde lediglich über wenige Jahre praktiziert – in Form der Treffen von Aachen (1818), Troppau (1820), Laibach (1821) und Verona (1822). Danach wurde sie durch den zunehmenden ideologischen Gegensatz zwischen Ost- und Westmächten in der Frage eines etwaigen Interventionsrechts im Falle neuer Revolutionen konfliktuell aufgeladen: hier die aktionsbereiten Autokratien Russland, Österreich und Preußen, dort die zurückhaltenderen Verfassungsstaaten Großbritannien und Frankreich. Dadurch zerfiel der regelmäßige Konzertierungsmechanismus erneut zum reinen Ad-hoc-Krisenmanagement, wobei statt Einstimmigkeit wechselnde Zweckbündnisse dominierten. So löste sich Großbritannien nicht nur aus Protest gegen dessen zunehmend reaktionäre Praxis aus den Verbindlichkeiten des Kongresssystems, sondern auch, um sich neue Märkte in den ehemaligen spanischen Kolonien in Südamerika zu erschließen sowie mit den neuen europäischen Verfassungsstaaten potenzielle Verbündete zu gewinnen. Und in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre intervenierte Russland Seite an Seite mit den Westmächten zugunsten der griechischen Unabhängigkeitsbewegung und damit gegen den politischen und territorialen Status quo in Europa.
Durch den Übergang in die Ära der konflikt-, ja kriegsträchtigen, weil rein machtgestützten Realpolitik Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Krimkrig von 1853 bis 1856 als erstem Höhepunkt, sowie schließlich in jene des Nationalismus verlor das in Wien beschworene gemeinsame ius publicum europaeum (europäisches öffentliches Recht) dann weiter an Bedeutung, sodass schließlich 1914 noch nicht einmal mehr die letzte verbliebene Leitidee dieser internationalen Friedenskultur, die Verhinderung eines neuen "Großen Krieges", Konsens war. Nicht zuletzt ist drittens zu bedenken, dass der Preis für die relative Stabilität der Wiener Nachkriegsordnung die jahrzehntelange scharfe Repression der liberalen und nationalen Bewegungen in Europa war.
Lehren für die Gegenwart
Ist damit der positive Gehalt des Wiener Kongresses gänzlich relativiert? Keinesfalls: Die dortige Verständigungsbereitschaft und die rasche Reintegration des besiegten Frankreichs bleiben ebenso anerkennenswert wie die Einsicht in die Notwendigkeit multilateraler Abstimmung. Eine anachronistische Überhöhung ist gleichwohl fehl am Platze: Der Wiener Kongress und das Europäische Konzert gaben realiter weder im 20. Jahrhundert ein Vorbild ab – nicht 1919 in Paris, als Websters Auftragsstudie faktisch unbeachtet blieb, und erst recht nicht 1945 –, noch können sie es heute sein. Verbindendes Element zwischen dieser Vergangenheit und unserer Gegenwart bleibt allerdings die Erkenntnis, dass eine gleichermaßen mental-kulturelle und nationale Grenzen überschreitende Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit, wie sie nach dem Wiener Kongress längere Zeit bestand, eine unabdingbare Voraussetzung für ein stabiles multipolares internationales System ist. Dies ist umso bedenkenswerter, als angesichts der aktuellen Dämonisierungs- und Ideologisierungstendenzen in der internationalen Politik "eine Meinungsdiplomatie"