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Wiener Kongress 1814/15 und Pariser Friedenskonferenz 1919/20 | Wiener Kongress | bpb.de

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Wiener Kongress 1814/15 und Pariser Friedenskonferenz 1919/20 Zwei Friedenskulturen im Vergleich

Reiner Marcowitz

/ 15 Minuten zu lesen

Der Wiener Kongress 1814/15 und die Pariser Friedenskonferenz 1919/20 weisen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf, deren Analyse angesichts aktueller Konflikte besonders lohnt. Dabei führen allerdings einfache historische Analogieschlüsse in die Irre.

Das britische Außenministerium beauftragte 1918 einen jungen Historiker, Charles Webster, Professor an der Universität Liverpool, eine Darstellung des Wiener Kongresses zu schreiben. Offensichtlich glaubten die Verantwortlichen, aus jenem Mächtetreffen, das gut hundert Jahre zuvor in der österreichischen Hauptstadt stattgefunden hatte, für die zukünftigen Friedensverhandlungen lernen zu können, die im Jahr darauf in Paris begannen. War dies eine naive, ja absurde Idee? Nicht unbedingt, denn zweifellos gab es starke Parallelen zwischen den beiden Ereignissen.

Ähnliche Vorgeschichten

Beide fanden im Anschluss an einen "Großen Krieg" statt, dessen Ausmaß und Intensität alles bis dahin Bekannte weit übertroffen hatte. Die Koalitionskriege hatten zwischen 1792 und 1814 ganz Europa, den Mittelmeerraum und den Nahen Osten erfasst. Zudem sprengte der französische Bellizismus vor allem unter Napoleon I. jedes geläufige Maß einer auch bis dahin an großen Kriegen und hegemonialen Versuchungen nicht armen europäischen Geschichte und kostete letztlich sechs Millionen Menschen das Leben. Auch der "Große Krieg" von 1914 bis 1918 hatte globale Auswirkungen: Er wurde nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika und Asien ausgetragen und forderte enorme menschliche und materielle Opfer: Das viel beschworene "Stahlbad", das die beteiligten Gesellschaften von den vermeintlichen Schlacken einer langen Friedenszeit befreien sollte, erwies sich am Ende als ein gigantisches Blutbad, in dem 17 Millionen Soldaten und Zivilisten ihr Leben verloren.

Zudem waren die Revolutions- und napoleonischen Kriege sowie der Erste Weltkrieg gleichermaßen ideologische Kriege gewesen: Zwischen 1792 und 1814 standen sich das revolutionäre und das gegenrevolutionäre Prinzip gegenüber: Ersteres gab den französischen Heeren das Gefühl, ihr Land und damit den acquis der "Grande Révolution" verteidigen und die Ideen von "Freiheit", "Gleichheit" und "Brüderlichkeit" auch in andere Länder tragen zu müssen. Dies erklärte ebenfalls den besonderen Charakter der französischen Besatzung: Die siegreichen französischen Truppen und insbesondere der "große Beweger" Napoleon eroberten nicht nur Territorien, sondern stürzten dort im Namen der Ideen von 1789 und unter Missachtung aller hergebrachten Legitimität auch die traditionellen Herrscher und führten mittels Code Civil sowie Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen das eigene Gesellschaftsmodell ein. Gleichzeitig provozierten dieses revolutionäre Prinzip und seine philosophischen Vordenker aus der Zeit der Aufklärung die Entstehung einer Gegenbewegung – jene des Konservatismus, den Edmund Burke mit seinen 1790 veröffentlichten "Reflections on the Revolution in France" begründete. Er inspirierte wiederum die antifranzösische und antinapoleonische Koalition, deren Ziel die weitgehende Wiederherstellung des Ancien Régime war.

Im Ersten Weltkrieg hatte es ebenfalls zwei ideologische Lager gegeben, am Ende sollten es sogar drei sein: Bei Kriegsausbruch 1914 einerseits die Mittelmächte, angeführt durch das Deutsche Reich, die sich mit den "Ideen von 1914" ein antiwestliches Kampfprogramm gaben, das sich gegen die Demokratie, gegen den Liberalismus und gegen die westliche Kultur richtete, die als "Zivilisation" diskreditiert wurde; andererseits die Entente mit Frankreich, Großbritannien und zunächst Russland sowie ab 1917 auch mit den USA an der Spitze, die sich in einem legitimen Verteidigungskrieg gegen die deutsche Aggression sah und deren westliche Mitglieder zudem glaubten, die Demokratie gegen den Despotismus verteidigen zu müssen. Die Situation verkomplizierte sich noch zusätzlich, als Russland im Zuge der Oktoberrevolution zum völlig neuen bolschewistischen Gegenentwurf sowohl zu den "Ideen von 1914" als auch zu jenen des Westens mutierte.

Schließlich gab es noch eine weitere Parallele zwischen den beiden Kriegen und den ihnen folgenden Neuordnungsversuchen in Wien 1814/15 und in Paris 1919/20: der Wille der Beteiligten, einen dauerhaften Frieden zu schaffen, der das durch die vorangegangenen großen Konflagrationen entstandene Chaos wieder ordnen sollte. Deshalb versammelten sich in Wien wie in Paris Vertreter fast aller kriegführenden Parteien, angeführt von ihren leitenden Politikern, wenn nicht sogar von ihren Staatsoberhäuptern: in Wien Klemens Wenzel Lothar Nepomuk, Fürst von Metternich für Österreich, Robert Stewart Viscount Castlereagh für Großbritannien und Charles-Maurice de Talleyrand für Frankreich, aber ebenso die Kaiser Franz I. von Österreich und Alexander I. von Russland sowie der preußische König Friedrich-Wilhelm III.; in Paris Frankreichs Regierungschef Georges Clemenceau, der britische Premier David Lloyd George, Italiens Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando und US-Präsident Woodrow Wilson.

Überdies waren die beiden Konferenzen ähnlich organisiert. Es gab ein Führungsgremium der vier wichtigsten Siegermächte – in Wien: Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen; in Paris: die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien. Diese "Großen Vier" trafen jeweils alle Vorentscheidungen im Hinblick auf die jeweiligen Nachkriegsordnungen. Dabei konnten sie sich in beiden Fällen wiederum auf Expertenkommissionen stützen, die über Detailfragen berieten.

Unterschiedliche Wege

Jenseits dieser Parallelen fielen allerdings die Antworten der Entscheidungsträger in Wien und Paris auf die Frage nach den Bedingungen für eine stabile Nachkriegsordnung und folglich auch für die neue Friedenskultur gänzlich unterschiedlich aus. Ungeachtet erheblicher Differenzen über Detailfragen, die in der Sachsen-Polen-Frage kurzzeitig sogar zu einem neuen militärischen Konflikt zu eskalieren drohten, war der Wiener Kongress durch eine bemerkenswerte Eintracht geprägt: Nach fast einem Vierteljahrhundert des Krieges und gesellschaftlicher Umstürze war das gemeinsame Ziel der Unterhändler, jede Wiederauflage der Französischen Revolution zu verhindern. Denn eine solche würde, so zumindest die Schlussfolgerung aus der Erfahrung von 1792, unweigerlich in einen internationalen Konflikt münden.

Um gleichermaßen erfolgreich Kriegs- und Revolutionsprophylaxe betreiben zu können, waren sie nicht nur bereit, beispielsweise in Frankreich oder auf dem ehemaligen Gebiet des Heiligen Römischen Reiches auf eine einfache Restauration des Ancien Régime zu verzichten, sondern auch, das besiegte Frankreich in die neue Nachkriegsordnung zu integrieren – bereits 1814 als Teilnehmer des Wiener Kongresses, dann 1815 als Mitglied der "Heiligen Allianz" und ab 1818 schließlich auch als Partner innerhalb des Europäischen Konzerts. Dieser neue Großmächteklub sollte zugunsten einer kooperativen Konfliktregulierung mit den bisherigen egoistischen Traditionen der Außenpolitik brechen und über die Einhaltung der in Wien getroffenen Entscheidungen wachen, um im Falle etwaiger Verstöße gegen den Verursacher vorzugehen. Beides zusammen erklärt die lange Lebensdauer der Wiener Friedensordnung bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges: "In Wien vermied man (…) eine Gruppierung in Sieger und Besiegte (…) und richtete so das Interesse zumindest aller europäischen Großmächte auf die Erhaltung der etablierten Ordnung."

Ein Jahrhundert später waren die Pariser Unterhändler weit von einem vergleichbaren Konsens entfernt. Selbst Russland war wegen der Oktoberrevolution von 1917 und des ein halbes Jahr später geschlossenen Separatfriedens von Brest-Litowsk mit den Mittelmächten von den Verhandlungen ausgeschlossen, und erst recht die Vertreter der Besiegten. Zudem herrschten zwischen den vier Hauptsiegermächten große Meinungsunterschiede über die zukünftige Nachkriegsordnung: Strebte der französische Ministerpräsident Clemenceau nach der deutschen Aggression vor allem die größtmögliche Schwächung Deutschlands an, ging es dem US-Präsidenten Wilson darum, einen reinen Siegfrieden zu vermeiden und mit dem Völkerbund eine neue Institution zu schaffen, die, weit effektiver als etwaige Gebietsabtretungen und Reparationen der Besiegten, einen neuerlichen Krieg verhindern sollte. Der britische Premierminister Lloyd George wiederum war an der Wiederherstellung der balance of power in Europa interessiert, also eines Mächtegleichgewichts, das Deutschland zwar schwächen, indes Frankreich nicht über Gebühr stärken sollte, und der italienische Ministerpräsident Orlando schließlich verfolgte den Plan einer Vergrößerung seines Landes aus den Trümmern der zerfallenen Habsburgermonarchie.

Entsprechend groß sollte ihre Enttäuschung über die Ergebnisse sein: Vor allem Frankreich fühlte sich keineswegs sicher vor einem neuen deutschen Angriff, und Italien trauerte seinen "Irredenta" nach, während den neu entstandenen Staaten in Mittelost- und Südosteuropa wegen ihrer ethnischen Gemengelage eine permanente innere Instabilität und Grenzkonflikte drohten. Kurzum: Am Ende der Pariser Friedenskonferenz standen Abmachungen, die noch nicht einmal alle Siegermächte befriedigten, geschweige denn die Besiegten oder das isolierte Russland.

Zudem vermochte der neu gegründete Völkerbund die Mängel der Pariser Friedensordnung nicht zu kompensieren, im Gegenteil – er wurde geradezu zu deren Symptom: Zum einen gehörten ihm zwei so wichtige Großmächte wie Deutschland (ab 1926) und Russland beziehungsweise die Sowjetunion (ab 1934) erst relativ spät an, was ihn von Beginn an schwächte. Zum anderen traten ihm die USA gar nicht erst bei. Die europäische Entspannungspolitik wiederum, für die der Vertrag von Locarno von 1925 stand, blieb nur eine Episode. Befeuert durch einen verbreiteten Nationalismus obsiegten letztlich Misstrauen und Rivalität zwischen jenen Mächten, die den Status quo der Pariser Friedensordnung weitgehend kompromisslos wahren wollten, und jenen, die ihn in Gänze infrage stellten und schließlich selbst mit kriegerischen Mitteln zu revidieren bereit waren.

Während also in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress eine relativ stabile Nachkriegsordnung bestand, war das Pariser Friedenswerk durch eine permanente Spannung vor allem zwischen Siegern und Besiegten, aber teilweise auch zwischen den Siegern untereinander geprägt. Henry Kissinger hat darauf hingewiesen, dass es zwei Arten von Nachkriegsordnungen gibt – eine "legitime" und eine "revolutionäre":

"Legitimität schließt in sich ein, dass alle Großmächte im Großen und Ganzen eine bestimmte internationale Ordnung respektieren (…). Eine legitime Ordnung schließt Konflikte nicht aus (…), doch sie werden ausgefochten im Namen der bestehenden internationalen Struktur, und der nachfolgende Friede wird als besserer Ausdruck der ‚legitimen‘ allgemeinen Überzeugung gerechtfertigt. (…) Sobald eine Macht die internationale Ordnung oder die Art ihrer Legitimität ablehnt, werden die Beziehungen zwischen ihr und den anderen Mächten revolutionär. Dann geht es nicht um die Beilegung von Differenzen innerhalb eines gegebenen Systems, sondern dann geht es um das System selbst".

Insofern war die Wiener Nachkriegsordnung "legitim", denn ihre Prinzipien und Regeln wurden von allen Akteuren, einschließlich dem besiegten Frankreich, respektiert und vorübergehend aufflammende Konflikte im Rahmen des Europäischen Konzerts meistenteils konsensuell beigelegt. Die Pariser Nachkriegsordnung hingegen war von Beginn an "revolutionär", weil zumindest eine Großmacht, Deutschland, den Status quo nachdrücklich verändern wollte – ein Ansinnen, dem sich in den 1930er Jahren Italien, Japan und die Sowjetunion anschlossen, womit die Ergebnisse der Pariser Friedenskonferenz endgültig obsolet wurden.

Zweierlei Kriege – Zweierlei Friedenskulturen

Wer sich die Unterschiede zwischen diesen beiden Friedenskulturen erklären will, muss bei allen zuvor aufgeführten Parallelen zunächst einmal die Unterschiede zwischen den beiden vorangegangenen Kriegen in den Blick nehmen. Derjenige, der zur französischen Niederlage von 1814 führte, wurde in letzter Konsequenz nicht gegen Frankreich insgesamt, sondern gegen Napoleon I. geführt. Die Verbündeten kämpften gegen den permanenten Eroberungstrieb des französischen Kaisers, der nicht bereit schien, eine internationale Ordnung zu akzeptieren, die ebenso den legitimen Interessen der übrigen Mächte Rechnung trug. Das erleichterte in der Nachkriegszeit die rasche Integration des Frankreichs der Restauration. Im Gegensatz dazu war der Erste Weltkrieg wirklich ein Krieg der Völker. Hieraus resultierte 1919 wiederum die Überzeugung der Sieger, nicht nur die Eliten, sondern die gesamte Bevölkerung der Besiegten bestrafen zu müssen. Wilsons Vision eines Verständigungsfriedens konnte sich dagegen nicht durchsetzen.

Zudem gab es in diesem Zusammenhang noch einen anderen wichtigen Unterschied: Obwohl der Kampf gegen Napoleon I. in Spanien, Tirol und schließlich auch in Deutschland zeitweise durchaus Züge eines Volkskampfes annahm, blieb er jedoch am Ende ein traditioneller Krieg, der von den hergebrachten aristokratischen Eliten des Ancien Régime geführt wurde, die sich wiederum ihre Kriegsziele keineswegs von populären Stimmungen vorschreiben ließen. Insofern markiert diese militärische Auseinandersetzung eine Scheidelinie – einerseits zwischen den Kabinettskriegen des frühneuzeitlichen Mächtesystems und den großen Volkskriegen des anbrechenden Zeitalters der Nationalstaaten; andererseits zwischen der Vorherrschaft der aus der Zeit des Absolutismus stammenden leichter steuerbaren Autokratien und den sich bald zunehmend Bahn brechenden, im Hinblick auf ihren Gefühlshaushalt schwerer kalkulierbaren Demokratien. Der Erste Weltkrieg war hingegen weitgehend durch den neuen Kriegs- und Gesellschaftstypus geprägt und erfasste die Bevölkerungen aller kriegführenden Staaten, sodass sich zunehmend ein absoluter Hass auf den Gegner entwickelte – ein Hass, der Züge einer veritablen Feindideologie annahm, zumal er auf allen Seiten von der Kriegspropaganda weiter angestachelt wurde.

Schließlich waren auch die jeweiligen Friedenskonferenzen völlig verschieden: Der Wiener Kongress war "ein europäischer Friedensvollzugskongress"; der eigentliche Friedensschluss mit Frankreich war bereits im Mai 1814 erfolgt und zudem in relativ milder Form, sodass er zumindest von der neuen französischen Führung akzeptiert wurde. Den Unterhändlern in Paris wiederum oblag hundert Jahre später tatsächlich die schwierige Aufgabe, überhaupt erst einen Frieden auszuhandeln. Auch versammelten sich in Wien noch einmal die Repräsentanten des Ancien Régime. Ungeachtet einzelner Querelen herrschte in dieser sozialen Schicht eine grenzüberschreitende Solidarität, die durch die vorangegangene gemeinsam bestandene Herausforderung noch verstärkt wurde und die in der pompösen Festkultur während des Wiener Kongresses ihre sinnliche Bekräftigung, ja Wiederauferstehung erfuhr. Ein Jahrhundert später war in Paris von einer solchen ideellen und sozialen Homogenität nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: Hier dominierten oft egoistische Nationalinteressen und krude Ressentiments.

Urteil der Historiker

Die heutige Geschichtsschreibung erkennt sowohl die relative Weisheit jener an, die sich 1814/15 in Wien versammelten, als auch die Zwänge, denen die Unterhändler in Paris 1919/20 unterlagen. Das war zunächst mitnichten der Fall: Zeitgenössisch wurden die Ergebnisse des Wiener Kongresses zumindest von liberalen Kritikern als ein rückwärtsgewandtes Geschacher um Einfluss und Territorien diskreditiert. Im Zeichen der aufkommenden Nationalstaaten wurde auch die Wiener Absage an den Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker kritisiert. Erst nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts brach sich zunehmend die Erkenntnis Bahn, dass der Wiener Kongress immerhin eine lang andauernde Friedensphase eingeleitet hatte. Folgerichtig wurden nun die Akteure der Pariser Friedenskonferenz und die von ihnen geschaffene Nachkriegsordnung kritisiert, weil sie offenbar nur den Boden für einen neuen "Großen Krieg" bereitet hatten. Zwischenzeitlich ist auch dieses Urteil milder geworden, weil anerkannt wird, dass die Politiker in Paris nicht wie jene in Wien der öffentlichen Meinung in ihren Ländern mit Gleichgültigkeit begegnen und sich in der neu angebrochenen "Zeit der Ideologien" auch nicht frei von dem verbreiteten politischen Freund-Feind-Denken machen konnten.

Gleichzeitig ist die Wiener Nachkriegsordnung mittlerweile geradezu zum "kollektiven Sicherheitssystem" und damit zum Vorreiter multi- und supranationaler Strukturen unserer Tage überhöht worden. Das ist einerseits nachvollziehbar: Wie der spätere Völkerbund und die heutigen Vereinten Nationen versuchte das Europäische Konzert nach 1815, die anarchischen und zentrifugalen Tendenzen der internationalen Politik durch verbindliche (Rechts-)Normen und Zwangsmechanismen auszugleichen.

Andererseits ist diese Analogie aber gleich in mehrfacher Hinsicht überspitzt: Erstens fehlten dem Europäischen Konzert wesentliche Attribute der kollektiven Sicherheitssysteme des 20. und 21. Jahrhunderts – die breite Basis in der Völkergemeinschaft, die Institutionalisierung und Permanenz der Beratungen, das differenzierte Sanktionsinstrumentarium.

Zweitens verkennt die heute verbreitete Idealisierung des Europäischen Konzerts dessen Realität: Eine alle Großmächte einbeziehende Abstimmung im engeren Sinne wurde lediglich über wenige Jahre praktiziert – in Form der Treffen von Aachen (1818), Troppau (1820), Laibach (1821) und Verona (1822). Danach wurde sie durch den zunehmenden ideologischen Gegensatz zwischen Ost- und Westmächten in der Frage eines etwaigen Interventionsrechts im Falle neuer Revolutionen konfliktuell aufgeladen: hier die aktionsbereiten Autokratien Russland, Österreich und Preußen, dort die zurückhaltenderen Verfassungsstaaten Großbritannien und Frankreich. Dadurch zerfiel der regelmäßige Konzertierungsmechanismus erneut zum reinen Ad-hoc-Krisenmanagement, wobei statt Einstimmigkeit wechselnde Zweckbündnisse dominierten. So löste sich Großbritannien nicht nur aus Protest gegen dessen zunehmend reaktionäre Praxis aus den Verbindlichkeiten des Kongresssystems, sondern auch, um sich neue Märkte in den ehemaligen spanischen Kolonien in Südamerika zu erschließen sowie mit den neuen europäischen Verfassungsstaaten potenzielle Verbündete zu gewinnen. Und in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre intervenierte Russland Seite an Seite mit den Westmächten zugunsten der griechischen Unabhängigkeitsbewegung und damit gegen den politischen und territorialen Status quo in Europa.

Durch den Übergang in die Ära der konflikt-, ja kriegsträchtigen, weil rein machtgestützten Realpolitik Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Krimkrig von 1853 bis 1856 als erstem Höhepunkt, sowie schließlich in jene des Nationalismus verlor das in Wien beschworene gemeinsame ius publicum europaeum (europäisches öffentliches Recht) dann weiter an Bedeutung, sodass schließlich 1914 noch nicht einmal mehr die letzte verbliebene Leitidee dieser internationalen Friedenskultur, die Verhinderung eines neuen "Großen Krieges", Konsens war. Nicht zuletzt ist drittens zu bedenken, dass der Preis für die relative Stabilität der Wiener Nachkriegsordnung die jahrzehntelange scharfe Repression der liberalen und nationalen Bewegungen in Europa war.

Lehren für die Gegenwart

Ist damit der positive Gehalt des Wiener Kongresses gänzlich relativiert? Keinesfalls: Die dortige Verständigungsbereitschaft und die rasche Reintegration des besiegten Frankreichs bleiben ebenso anerkennenswert wie die Einsicht in die Notwendigkeit multilateraler Abstimmung. Eine anachronistische Überhöhung ist gleichwohl fehl am Platze: Der Wiener Kongress und das Europäische Konzert gaben realiter weder im 20. Jahrhundert ein Vorbild ab – nicht 1919 in Paris, als Websters Auftragsstudie faktisch unbeachtet blieb, und erst recht nicht 1945 –, noch können sie es heute sein. Verbindendes Element zwischen dieser Vergangenheit und unserer Gegenwart bleibt allerdings die Erkenntnis, dass eine gleichermaßen mental-kulturelle und nationale Grenzen überschreitende Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit, wie sie nach dem Wiener Kongress längere Zeit bestand, eine unabdingbare Voraussetzung für ein stabiles multipolares internationales System ist. Dies ist umso bedenkenswerter, als angesichts der aktuellen Dämonisierungs- und Ideologisierungstendenzen in der internationalen Politik "eine Meinungsdiplomatie" droht, die den Dialog, ganz zu schweigen vom Ausgleich divergierender Interessen, erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht. Insofern lohnt es tatsächlich, des zweihundertsten Jahrestages des Wiener Kongresses zu gedenken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Charles K. Webster, The Congress of Vienna 1814–1815, London 1919.

  2. Vgl. Charles Esdaile, The French Wars 1792–1815, London 2001; Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Ersten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 49–65; Claire Gantet/Bernhard Struck, Revolution, Krieg und Verflechtung 1789–1815, Darmstadt 2008, S. 72–117, S. 167–185.

  3. Vgl. Wolfgang Kruse, Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009; Jean-Jacques Becker/Gerd Krumeich, Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich 1914–1918, Essen 2010; Elise Julien, Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2014.

  4. Vgl. Heinz Gollwitzer, Ideologische Blockbildung als Bestandteil internationaler Politik im 18. und 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, 201 (1965), S. 306–333.

  5. Ders., Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 1: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, Göttingen 1972, S. 314.

  6. Vgl. Klaus von See, Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Frankfurt/M. 1975; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000; Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die "Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Sven Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und England im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2003; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 336–355.

  7. Vgl. Ch. K. Webster (Anm. 1); Winfried Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund, Darmstadt 1987, S. 56–143; Jörg Duppler/Gerhard P. Gross (Hrsg.), Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999; Nicolas Beaupré, Das Trauma des Großen Krieges 1918–1932/33, Darmstadt 2009, S. 50–56; Anselm Doering-Manteuffel, Die Deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–1871, München2010, S. 1–7, S. 74–80; Heinz Duchhardt, Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München 2013; Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014; Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, Wien–Köln–Weimar 2014; Thierry Lentz, 1815. Der Wiener Kongress und die Neuordnung Europas, München 2014.

  8. Vgl. Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763–1848, Oxford–New York 1994; Reiner Marcowitz, Von der Diplomatiegeschichte zur Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, 32 (2005) 3, S. 77–100.

  9. Vgl. ders., Großmacht auf Bewährung. Die Interdependenz französischer Innen- und Außenpolitik und ihre Auswirkungen auf Frankreichs Stellung im Europäischen Konzert 1814/15–1851/52, Stuttgart 2001, S. 23–73.

  10. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongress zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815–1856, Göttingen–Zürich 1991, S. 28–56; Wolfram Pyta (Hrsg.), Das europäische Mächtekonzert, Köln–Weimar–Wien 2009; Mark Mazower, Die Welt regieren. Eine Idee und ihre Geschichte, München 2013, S. 18–27.

  11. Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert, Darmstadt 1976, S. 194f.

  12. Vgl. N. Beaupré (Anm. 7), S. 50–56.

  13. Vgl. Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985; Franz Knipping, Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928–1931, München 1987; Gunther Mai, Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001; Reiner Marcowitz, Weimarer Republik 1929–1933, Darmstadt 2012; N. Beaupré (Anm. 7), S. 68–92, S. 201–216.

  14. Vgl. A. Doering-Manteuffel (Anm. 10); R. Marcowitz (Anm. 9).

  15. Vgl. Horst Möller, Europa zwischen den Weltkriegen, München 1998; Volker Berghahn, Europa im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt/M. 2002; N. Beaupré (Anm. 7), S. 93–103, S. 201–237.

  16. Henry A. Kissinger, Das Gleichgewicht der Großmächte. Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812–1822, Zürich 1986 (1962), S. 8f.

  17. Vgl. P.W. Schroeder (Anm. 8), S. 393ff.; R. Marcowitz (Anm. 9), S. 24ff.

  18. Vgl. N. Beaupré (Anm. 7), S. 19–37.

  19. Vgl. Klaus Schwabe, Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 43–77; M. Mazower (Anm. 10), S. 128–152.

  20. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1: Reform und Restauration 1789–1830, Stuttgart 1990, S. 543f.

  21. Vgl. Guillaume de Bertier de Sauvigny, La Restauration, Paris 1974, S. 67ff.; R. Marcowitz (Anm. 9), S. 44f.

  22. Vgl. Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000, S. 108–130; H. Duchhardt (Anm. 7), S. 62–70; R. Stauber (Anm. 7), S. 205–237.

  23. Vgl. H. Duchhardt (Anm. 11), S. 161–196; A. Doering-Manteuffel (Anm. 7), S. 74–80, S. 124–128; H. Möller (Anm. 15), S. 164–175; W. D. Gruner (Anm. 7), S. 213–240. Siehe auch Eva Maria Werners Beitrag in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  24. Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982.

  25. Vgl. bspw. Wolfram Pyta, Konzert der Mächte und kollektives Sicherheitssystem. Neue Wege zwischenstaatlicher Friedenswahrung in Europa nach dem Wiener Kongress, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1996, München 1997, S. 133–173; Matthias Schulz, Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat 1815–1860, München 2009.

  26. "Diplomatie als Geschäft handhaben". Thierry Lentz im Gespräch mit Christoph Heinemann, 26.9.2014, Externer Link: http://www.deutschlandfunk.de/200-jahre-wiener-kongress-diplomatie-als-geschaeft-handhaben.694.de.html?dram:article_id=298615 (14.4.2015).

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Dr. phil., geb. 1960; Professor für Deutschlandstudien an der Université de Lorraine; Direktor des Centre d’études germaniques interculturelles de Lorraine (CEGIL) und des Centre franco-allemand de Lorraine (CFALOR); Université de Lorraine, UFR Arts, Lettres et Langues – Metz, Ile du Saulcy, CS 70328, 57045 Metz/Frankreich. E-Mail Link: reiner.marcowitz@univ-lorraine.fr