Ungleichheit ist das neue Megathema sowohl in der politischen als auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Fachdebatte. Während in der Politik zunehmend der Zusammenhang zwischen steigender ökonomischer Ungleichheit und gesellschaftlichen Desintegrationstendenzen diskutiert wird, entdecken auch die Wirtschaftswissenschaften die Ungleichheit als zentrales Forschungsthema wieder. Der internationale Bestseller von Thomas Piketty "Das Kapital im 21. Jahrhundert" wirkte in dieser Hinsicht wie ein Paukenschlag. Piketty beschreibt zum einen den Anstieg der ökonomischen Ungleichheit während der vergangenen Jahrzehnte in den reichen Volkswirtschaften. Zum anderen untersucht er, unter welchen Voraussetzungen die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen steigt, und empfiehlt weitgehende politische Maßnahmen, um einen weiteren Anstieg der Ungleichheit zu vermeiden.
Es ist wenig überraschend, dass diese Analysen nicht unwidersprochen bleiben. In einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln etwa wird eine Umfrage nach der Wahrnehmung hinsichtlich der "Gesellschaftsform"
Die IW-Studie zeigt exemplarisch ein fundamentales Problem von Ungleichheitsdebatten auf: Alles hängt davon ab, was wir mit Ungleichheit meinen. Gleichheit in einer Hinsicht kann, ja muss häufig rein logisch Ungleichheit in anderen Hinsichten bedeuten. Eine Bewertung der Ungleichheitsverhältnisse hängt also zentral von der genauen "Metrik" der Ungleichheit ab: Werden Markt- oder Nachsteuereinkommen betrachtet, Haushaltseinkommen oder Personeneinkommen? Sind Unternehmens- und Kapitaleinkommen berücksichtigt? Geht es um die Ungleichheit von Einkommen oder Vermögen? Welche Quellen werden verwendet? Was definiert eigentlich das "Unten" einer Gesellschaft? Und: Gibt es neben moralischen Bedenken weitere Gründe, sich Sorgen über hohe Ungleichheit zu machen, beispielsweise die Gefahr politischer und wirtschaftlicher Instabilität?
Drei Dimensionen ökonomischer Ungleichheit
Inwiefern ist ökonomische Ungleichheit, also zunächst einmal die ungleiche Verteilung von materiellen Ressourcen, überhaupt gesellschaftlich relevant? Drei elementare Dimensionen der ökonomischen Ungleichheit lassen sich voneinander abgrenzen: eine Freiheitsdimension, eine Statusdimension und eine politische Dimension.
Als fundamentale Dimension ökonomischer Ungleichheit lässt sich die unmittelbar mit der Kontrolle von Ressourcen verbundene Freiheit betrachten. Nicht jede Freiheit ist durch Verteilung bestimmt, aber die Verteilung von Ressourcen determiniert unmittelbar die Verteilung der Freiheit, Dinge zu tun und über Dinge zu verfügen, die Geld kosten.
In diesem Zusammenhang gilt es, einem Missverständnis vorzubeugen: Häufig werden Freiheit und Gleichheit diskutiert, als bestünde zwingend ein Zielkonflikt zwischen diesen beiden Werten. Dies basiert jedoch auf einer logisch nicht konsistenten, dennoch weit verbreiteten, in sogenannten (rechts)libertaristischen Theorien wurzelnden Freiheitsrhetorik.
Eine zweite Dimension ökonomischer Ungleichheit löst sich von der unmittelbaren Freiheitsdimension und der Frage individueller Kontrolle von Ressourcen. Diese neue Perspektive unterscheidet vielmehr zwei Qualitäten ökonomischer Güter: Der Nutzen, den Menschen aus Gütern ziehen, kann sowohl eine nicht-positionale als auch eine positionale Seite haben. In nicht-positionaler Hinsicht ist der Nutzen eines Gutes unabhängig davon, wie viel davon anderen zugänglich ist. In positionaler Hinsicht hängt der Nutzen jedoch davon ab, ob oder wie dieses Gut anderen zugänglich ist. Für die individuellen Karriereaussichten auf dem Arbeitsmarkt etwa ist weniger die absolute Qualität der eigenen Berufsausbildung relevant als vielmehr deren Güte und Anerkennung im Vergleich zur Ausbildung potenzieller Wettbewerber. Und definitionsgemäß können nicht alle Menschen in Wohnungen leben oder Autos besitzen, die überdurchschnittlich teuer und statusträchtig sind.
Diese Statusdimension der Ungleichheit wird in Verteilungsdebatten häufig unterschätzt oder gar als "Neiddebatte" abgetan. Dabei hat sie weitreichende theoretische Auswirkungen für die gesamte ökonomische Wohlfahrtstheorie. Wenn der Nutzen, den Menschen aus Gütern ziehen, vom Konsum der jeweiligen Referenzgruppe abhängt, werden die in der neoklassischen Theorie unterstellten Nutzenfunktionen instabil. Aus dieser Perspektive wird ab einem gewissen Wohlfahrtsniveau die Verteilung der Einkommen für die durchschnittliche Zufriedenheit der Bevölkerung wichtiger als ihre absolute Höhe.
Schließlich lässt sich eine dritte wichtige Dimension ökonomischer Ungleichheit jenseits der mit Eigentum verbundenen Freiheit und jenseits der Frage der Positionalität von Gütern ausmachen: Auch in politischer Hinsicht ist die Verteilung von Ressourcen von zentraler Bedeutung, da damit politische Einflusschancen erkauft werden können. Dies bedroht das demokratische Prinzip politischer Gleichheit. Und der Zusammenhang droht sich selbst zu verstärken: Aus ökonomischer Ungleichheit resultierende politische Ungleichheit kann Spielregeln im Marktprozess hervorbringen, die Verteilungsergebnisse zu Gunsten der bereits Wohlhabenden wiederum verfestigen – man denke beispielsweise an Steuersenkungen für Wohlhabende. Geringe Beteiligung am politischen Prozess am unteren Rand der Verteilung verstärkt das Problem. Auf den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und politischen Einflusschancen verweist eine Vielzahl von Autoren sowohl in theoretischer Hinsicht
Wo liegt das "Unten" einer Gesellschaft?
Wo liegt vor dem Hintergrund dieser drei Dimensionen ökonomischer Ungleichheit das "Unten" in einer Gesellschaft? Mit Blick auf die Geschichte und die gegenwärtige Situation in Entwicklungsländern wird zumeist ein absoluter Armutsbegriff verwendet, um die Menschen, die "unten" stehen, zu erfassen. Dazu wird ein monetärer Wert festgelegt – beispielsweise 1 US-Dollar täglich –, der in etwa zur Befriedigung absoluter menschlicher Grundbedürfnisse nötig ist. Hier geht es unmittelbar um die Freiheit, über Grundgüter zu verfügen, unabhängig davon, ob und wie diese anderen zugänglich sind.
In Industrieländern hat sich der Armutsbegriff aufgrund des weitgehenden Verschwindens absoluter Armut zu einem relativen Armutsbegriff gewandelt. Dieser, häufig auch als "Armutsrisiko" bezeichnet, wird typischerweise als ein äquivalenzgewichtetes Haushaltseinkommen von unter 60 Prozent des Medianeinkommens eines Landes definiert.
Allerdings verschleiert auch der relative Armutsbegriff Aspekte ökonomischer Ungleichheit, die erst im Lichte einer breiteren empirischen Betrachtung sichtbar werden. Grund hierfür sind zweierlei methodische Eigenschaften des relativen Armutskonzepts: Zum einen ist das Medianeinkommen, auf das es sich bezieht, unempfindlich gegenüber Veränderungen der Verteilung oberhalb des Medians. Nimmt etwa der Anteil der Spitzeneinkommen am Gesamteinkommen stark zu, so kann das Medianeinkommen davon unberührt bleiben. Aufgrund aufwärtsgerichteter Statusvergleiche kann dies jedoch sehr wohl auf die untersten Einkommensgruppen ausstrahlen: Wenn die reichen Haushalte im Zuge steigender Einkommen mehr Geld für Wohnen, Autos, Bildung und so weiter ausgeben, kann zunächst die obere Mittelschicht unter Zugzwang geraten. Wenn sie nun ebenfalls die Ausgaben für positionale Güter steigert, hat dies Auswirkungen auf die Teilhabemöglichkeiten der direkt darunter liegenden Einkommensgruppen. Ein regelrechtes "positionales Wettrüsten" kann einsetzen, das sich kaskadenartig von oben über die gesamte Verteilung erstreckt.
Zum anderen werden in der Regel die Einkommen und nicht die Vermögen, die häufig eine langfristigere Komponente der Ressourcen Einzelner widerspiegeln, betrachtet. Die Vermögen jedoch sind typischerweise viel stärker konzentriert als die Einkommen. Eine hohe Ungleichheit der Vermögen bedroht angesichts daraus resultierender ungleicher politischer Einflusschancen nicht zuletzt das demokratische Prinzip politischer Gleichheit, betrifft also ebenfalls die gesamte Gesellschaft inklusive derer, die "unten" stehen.
Zunahme der Ungleichheit
Neben der Wahl des genauen Ungleichheitsmaßes sind die Datenquellen entscheidend für die Befunde einer Ungleichheitsbetrachtung. So haben Daten aus freiwilligen Haushaltsbefragungen (beispielsweise das Sozio-oekonomische Panel, SOEP) gegenüber Daten aus der Steuerstatistik und der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung den Nachteil, dass Personen mit sehr hohen Einkommen und Vermögen sich kaum daran beteiligen. In Deutschland besteht bei Steuerdaten wiederum das Problem, dass es seit langem keine Vermögensteuer mehr gibt und seit der Einführung der Abgeltungssteuer 2009 auch Kapitaleinkünfte nicht mehr personenbezogen erfasst werden. Entsprechend gibt es – und das ist auch ein Demokratieproblem – keine umfassenden und verlässlichen Daten mehr über die Verteilung von Kapitaleinkommen und Vermögen in Deutschland.
Verschiedene verbreitete Maße beschreiben – bei allen Unvollkommenheiten – die Entwicklung der Ungleichheit in Deutschland in den vergangenen Jahren. Der Gini-Koeffizient der Haushaltseinkommen als allgemeines Verteilungsmaß
Abbildung 2: Armutsrisikoquote
Abbildung 2: Armutsrisikoquote
Haushaltsbefragungen und untererfassen daher die sehr hohen Einkommen. Deren Anteile an den gesamten Haushaltseinkommen, ein drittes wichtiges Maß, betrugen für die einkommensstärksten zehn Prozent der Haushalte kurz vor der Krise fast 40 Prozent, der Anteil des oberen ein Prozents betrug deutlich über zehn Prozent (jeweils vor staatlicher Umverteilung) (Abbildung 3). Neuere Daten zu den Spitzeneinkommen liegen bisher nur lückenhaft vor. Eine Schwäche der bisherigen Maße ist, dass sie die einbehaltenen Gewinne der Unternehmen unberücksichtigt lassen, die im vergangenen Jahrzehnt stark gestiegen sind (Abbildung 4). Die Unternehmenseigner gehören aber überwiegend zu den oberen Einkommensgruppen.
Abbildung 3: Top-Haushaltseinkommen in Prozent der gesamten Haushaltseinkommen
Abbildung 3: Top-Haushaltseinkommen in Prozent der gesamten Haushaltseinkommen
Wert von 0,78 auf, im Vergleich zu 0,49 beziehungsweise 0,29 bei den Einkommen. Die obersten zehn Prozent besitzen rund 60 Prozent der im SOEP erfassten Vermögen in Deutschland, die oberen 20 Prozent besitzen rund 80 Prozent. Es ist daher nicht übertrieben, die untersten 80 bis 90 Prozent der Haushalte zumindest hinsichtlich der Vermögen als "Unten" zu bezeichnen. Zwar werden im SOEP die Ansprüche aus der Gesetzlichen Rentenversicherung, von denen gerade auch die Mittelschicht profitiert, nicht als Vermögen erfasst. Mit der Zunahme prekärer Beschäftigung lässt sich jedoch vermehrte Altersarmut erwarten. Zugleich dürften die in Haushaltsbefragungen angegebenen hohen Vermögen noch deutlich unterschätzt sein. Angesichts der gestiegenen Einkommensungleichheit und weil die oberen Einkommensgruppen überdurchschnittlich viel sparen, dürfte auch die Vermögensungleichheit zugenommen haben beziehungsweise in Zukunft weiter zunehmen.
Abbildung 4: Verfügbares Unternehmenseinkommen in Prozent des verfügbaren privaten Einkommens
Abbildung 4: Verfügbares Unternehmenseinkommen in Prozent des verfügbaren privaten Einkommens
Abbildung 5: Vermögensverteilung (Perzentiluntergrenzen) 2012
Abbildung 5: Vermögensverteilung (Perzentiluntergrenzen) 2012
Krisenphänomene
Die Daten sprechen also eine relativ klare Sprache. Seit der deutschen Wiedervereinigung hat das Armutsrisiko zugenommen, die Gewinne sind stärker gestiegen als die Löhne, die Löhne sind auseinandergedriftet, und auch die Einkommen haben sich auseinanderentwickelt. Die Vermögen sind sehr ungleich verteilt, und ohne entsprechende politische Maßnahmen droht eine weitere Zunahme der Ungleichheit. Hierdurch werden fundamentale Fragen nach der Verteilung von Freiheit, Teilhabe und politischen Einflusschancen aufgeworfen. Doch wachsende Ungleichheit stellt nicht nur den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie vor eine Zerreißprobe. In den vergangenen Jahren ist in der internationalen Debatte zunehmend die Sicht vertreten worden, dass eine steigende Einkommensungleichheit auch eine Ursache für gesamtwirtschaftliche Instabilität sein kann. Dabei spielen Statusvergleiche und die Sorge um die relative Position in der Gesellschaft eine wichtige Rolle.
Ein zentrales Problem liegt in der Frage, wie bei hoher beziehungsweise stark steigender Einkommensungleichheit ausreichend Nachfrage generiert werden kann, um hohe Arbeitslosigkeit zu verhindern. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Entwicklung des privaten Konsums, der in den entwickelten Volkswirtschaften in der Regel zwischen 60 und 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Vor der weltweiten Finanzkrise ab 2007, als die Ungleichheit vielerorts stark anstieg, ist dieses latente Nachfrageproblem in verschiedenen Ländern im Wesentlichen auf zwei Arten verdeckt worden: In den USA reduzierten die Haushalte unterhalb der Spitzenverdiener seit Beginn der 1980er Jahre ihre Sparquote und verschuldeten sich stark. Häufig war dies verbunden mit dem Bestreben, mit den gestiegenen Ausgaben der Spitzenverdiener mitzuhalten und weiterhin positionale Güter wie eine "gute" Wohnlage und Bildung zu finanzieren. Dies stabilisierte zunächst den privaten Konsum, führte jedoch schließlich in die private Überschuldungskrise ab 2007. Außerdem ging diese Entwicklung mit hohen Leistungsbilanzdefiziten einher. Ein weiteres Beispiel für ein solches kreditbasiertes Entwicklungsmodell vor der Krise ist Großbritannien. Erklärt werden kann die zunehmende Verschuldung der privaten Haushalte als Folge steigender Ungleichheit in den angelsächsischen Ländern mit sozialen Normen und Institutionen (überwiegend private Finanzierung von Bildung, Gesundheit, Wohnraum, leichter Zugang zu Krediten).
In Deutschland hatte der Anstieg der Ungleichheit in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten andere makroökonomische Konsequenzen. Weil sich die privaten Haushalte auf Grund anderer sozialer Normen und Institutionen nicht vermehrt verschulden wollten beziehungsweise konnten, entstand eine zähe Konsumnachfrageschwäche. Da gleichzeitig die stark steigenden Unternehmensgewinne nicht in entsprechend höhere Investitionen mündeten, erzielt der private Unternehmenssektor nunmehr seit 2002 systematisch Finanzierungsüberschüsse. Diese sind ein wichtiger Grund für die strukturelle Schwäche der Binnennachfrage, die damit verbundenen Leistungsbilanzüberschüsse und somit für die Abhängigkeit von der Verschuldung des Auslands. Es ist unklar, woher angesichts der hohen und vielerorts weiter steigenden Ungleichheit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage kommen soll. Manche Ökonomen sprechen schon von einer zu erwartenden dauerhaften Stagnation entwickelter Volkswirtschaften.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Ungleichheit in Deutschland und vielen anderen relativ reichen Ländern im vergangenen Vierteljahrhundert zugenommen hat. Sie stellt ein Problem dar, weil sie eine ungleiche Verteilung von Freiheit und politischen Einflusschancen mit sich bringt, zu makroökonomischer Instabilität beiträgt und Teilhabechancen untergräbt. Somit ist die Ungleichheit gleich mit drei Krisen verwoben, die nicht getrennt voneinander betrachtet werden können: eine Krise der Demokratie, der sozialen Teilhabe und der ökonomischen Stabilität – eine Melange mit Sprengkraft, wie am wachsenden Erfolg demokratie- und menschenverachtender Ideologien deutlich wird. Vor diesem Hintergrund ist es für uns nicht nachvollziehbar, hinsichtlich Verteilungsfragen einen wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf abzustreiten.