Dass "Öffentlichkeiten" im Netz mit ungeheurer Geschwindigkeit geschaffen werden, ist längst kein neues Phänomen mehr. Günter Grass kommt jedoch das eher zweifelhafte Verdienst zu, eine der – im deutschen Kontext jedenfalls – auffälligsten digitalen "Meinungslawinen" losgetreten zu haben. "Was gesagt werden muss" heißt das Gedicht, das am 4. April 2012 parallel von der "New York Times", dem "Corriere della Sera" und der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht wurde und vor allem in Deutschland eine über mehrere Wochen andauernde Debatte auslöste.
Mit wenigen, inhaltlich wie literarisch eher klobigen Zeilen war es dem Nobelpreisträger für Literatur gelungen, Leitmotive anklingen zu lassen, die in der Diskussion über Israel und damit auch in der Wahrnehmung Israels immer wieder auftauchen: Nicht nur der Titel, auch der Beginn des Gedichts ("Warum schweige ich, verschweige zu lange …") impliziert, es gebe ein aus der historischen Verantwortung Deutschlands für den Holocaust entstandenes Tabu, Israel zu kritisieren, das, wenn gebrochen, geradezu unweigerlich mit dem Vorwurf des Antisemitismus belegt werde: "Das allgemeine Verschweigen (…) empfinde ich als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das Verdikt ‚Antisemitismus‘ ist geläufig."
Israel wird in Deutschland vorwiegend im Kontext eines seit Jahrzehnten andauernden Konflikts wahrgenommen, in Grass’ Gedicht obendrein als die Partei, die durch beständige Aggression die Haupt-, wenn nicht die alleinige Verantwortung dafür trage. Der israelisch-palästinensische Konflikt, oder besser, Israels Verhalten, berge Grass zufolge sogar die Gefährdung des "Weltfriedens". Mit seinem Gedicht traf Grass offensichtlich eine Stimmungslage weiter Teile der deutschen Öffentlichkeit. Die Zustimmung in den Onlineforen quer durch die Medienlandschaft jedenfalls war überwältigend und reichte von Dank, dass nun "endlich mal ausgesprochen wird", was man ja "nicht sagen darf" bis hin zu ganz offen antisemitischen Postings.
Dass der Nahostkonflikt zu den Aufregern in sozialen Medien und Leserkommentaren gehört, ist nicht neu. Dennoch erstaunte, in welcher Geschwindigkeit und Masse sich die Zustimmung manifestierte – und dass diese in gewaltigem Gegensatz zur "veröffentlichten Meinung" zu stehen schien. Wie schon bei früheren vergangenheitspolitischen Debatten waren auch in der Diskussion um das Gedicht zahlreiche Intellektuelle und Publizisten vertreten. Und fast alle (mit Ausnahme des französischen Publizisten Alfred Grosser und des Präsidenten der Akademie der Künste, Klaus Staeck) äußerten sich ablehnend zum einseitigen Bild, das der Autor von der politischen Situation Israels gezeichnet hatte. Dass Grass die Medien ob dieser ungewöhnlich einhelligen Kritik als "gleichgeschaltet" bezeichnete – und dass dieser Vorwurf heute in den Pegida-Demonstrationen mit dem ebenfalls aus der Terminologie des Nationalsozialismus stammenden Begriff "Lügenpresse" aufgenommen wird –, ist schon eine besondere Ironie.
Wie das Umfrageinstitut Infratest/dimap im Auftrag der "Welt am Sonntag" in einer repräsentativen Umfrage im selben Jahr herausfand, spiegelte die überwältigende Zustimmung zum Grass-Gedicht in den Onlineforen jedoch nicht die Mehrheitsmeinung wider: 58 Prozent der Deutschen waren demnach der Meinung, das iranische Atomprogramm bedrohe Israel, und 49 Prozent empfanden Iran als größere Gefahr für den Frieden (18 Prozent behaupteten dies für Israel, 22 Prozent waren der Ansicht, von beiden Länder gehe eine Gefahr für den Frieden aus). 75 Prozent gaben an, Israel könnte in Deutschland genauso kritisiert werden wie andere Länder.
Dies weist auf den eigentlichen Kern der Klagen über ein vermeintliches Tabu hin. Kritik an Israel ist nicht "verboten"; eher beklagen jene, die Israel überzogen, einseitig oder verzerrend darstellen, die Kritik an der Kritik. Es geht ihnen also nicht darum, das Recht auf Kritik zu verteidigen, sondern vielmehr darum, die eigenen Vorurteile gegen Einwände zu verwahren. Das Tabu-"Argument", so die Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Stefanie Schüler-Springorum, sei mithin selbst "Teil des antisemitischen Diskurses".
Nichts als Konfliktpartei
Alles nur ein medialer beziehungsweise digitaler Hype also? Schön wäre es. Der Konflikt mit den Palästinensern ist (und bleibt vermutlich) der wesentliche Rahmen, auf den sich die Berichterstattung beschränkt und in dem Israel wahrgenommen wird. Dies mag gerade in den Anfangszeiten des Osloer Verhandlungsprozesses noch positive Auswirkungen auf das Bild Israels gehabt haben – die Initiative für die Verhandlungen war ja von israelischer Seite ausgegangen. Premier Jitzchak Rabin und dessen Außenminister Shimon Peres galten als glaubwürdig an einem umfassenden Frieden interessiert, und die israelische Armee zog sich nach dem Abschluss des Grundsatzabkommens im September 1993 in kürzester Zeit aus fast allen palästinensischen Städten zurück. Die Attentate der radikalislamischen Hamas auf die Zivilbevölkerung in Israel wurden (noch) als das gesehen, als was die Hamas sie selbst bezeichnete: als Versuche, eine Kompromisslösung und die Errichtung eines Palästinenserstaates "nur" innerhalb der Grenzen von 1967 zu torpedieren.
Die auf wiederholte Anschläge folgenden Abriegelungen des Westjordanlandes durch die israelische Armee wurden in den deutschen Medien jedoch überwiegend als "Vergeltungsmaßnahme" porträtiert, die nur zu "größerer Frustration" unter den Palästinensern führe. Der Begriff "Vergeltung" wurde (und wird) dabei meist nicht im Kontext einer durchaus existierenden sicherheitspolitischen Doktrin der Abschreckung verwendet, sondern mit der immer wiederkehrenden Metapher einer Politik von "Auge um Auge, Zahn um Zahn" verknüpft, was eine Verbindung zwischen "jüdischem Staat" und "alttestamentarischem Rachegeist" suggeriert.
Der positive, wenn nicht gar enthusiastische Moment in den Monaten nach der Verhandlungsaufnahme vor mittlerweile über 20 Jahren ist längst verflogen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen scheinen aus dem Nahen Osten schlechte Nachrichten nur von noch schlechteren Nachrichten abgelöst zu werden. In besonders dramatischen Krisenzeiten wie während der Gaza-Kriege, zuletzt im August 2014, mag die Aufmerksamkeit wieder wachsen und die Anzahl der Sondersendungen zum Thema "Frieden in Nahost" wieder hochschnellen. Generell aber hat sich ein Gefühl der Ermüdung für einen Konflikt breit gemacht, der auf kaum zu entwirrende Weise politische, religiöse und soziale Elemente enthält. Als Haupthindernis für einen Frieden machen Medien und Öffentlichkeit dabei häufig den (ohne Zweifel politisch destruktiven und völkerrechtlich inakzeptablen) Bau israelischer Siedlungen in den besetzten Gebieten aus. Den Attentaten der Hamas wird diese Bedeutung dagegen nicht zugemessen – sie werden in der medialen Darstellung in Deutschland bisweilen als eine Art "Frustrationsabbau" (wahlweise über Arbeitslosigkeit oder Perspektivlosigkeit palästinensischer Jugendlicher) interpretiert.
Nur selten wird als weiterer Erklärungsgrund für das andauernde Scheitern aller großen Verhandlungsrunden seit 1994 die Weigerung der palästinensischen Führung ausgemacht, einen Kompromiss in der Frage des Rückkehrrechts palästinensischer Flüchtlinge zu finden. Dass Israels Premier Ehud Olmert 2008 hingegen ein weitgehendes Verhandlungsangebot unterbreitete, das von der palästinensischen Seite als "unzureichend" abgelehnt wurde,
Vor diesem Hintergrund konnten die Ergebnisse einer Umfrage des Magazins "Stern", die kurz vor dem Staatsbesuch von Bundespräsident Joachim Gauck in Israel im Mai 2012 veröffentlicht wurde, nicht weiter verwundern. 70 Prozent der Befragten waren der Auffassung, Israel verfolge seine Interessen ohne Rücksicht auf andere Völker. Dies waren immerhin elf Prozentpunkte mehr als bei einer vergleichbaren Umfrage vom Januar 2009, unmittelbar nach dem ersten Gaza-Krieg, in dem Israel von vielen Kommentatoren Unverhältnismäßigkeit in seiner militärischen Antwort auf den Raketenbeschuss der Hamas vorgeworfen worden war. 59 Prozent der Befragten beurteilten Israel in der "Stern"-Umfrage als "aggressiv", drei Jahre zuvor waren es noch 50 Prozent gewesen. 36 Prozent fanden Israel "sympathisch" – ein Rückgang um neun Prozentpunkte im Vergleich zu 2009.
Einiges weist darauf hin, dass Israel besonders dann an Sympathiepunkten verliert, wenn es direkt im Kontext des Nahostkonflikts bewertet werden soll – was durch Fragen nach einer grundsätzlichen "Aggressivität" beziehungsweise nach der Art der Durchsetzung seiner Interessen ja impliziert wird. Wird aber allgemeiner gefragt, so ergeben sich weniger dramatische Werte. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung gibt immerhin knapp die Hälfte, nämlich 46 Prozent, der Deutschen an, eine positive Meinung von Israel zu haben. Diejenigen aber, die Israel ablehnen, hegen offensichtlich fast zur Gänze eine radikale, ja in der Forschung sogar als antisemitisch geltende Abneigung gegen den jüdischen Staat. 42 Prozent der Befragten haben eine negative Meinung von Israel, 41 Prozent stimmen sogar der Aussage zu, dass das Verhalten des israelischen Staates gegenüber den Palästinensern vergleichbar sei mit dem der Nazis gegenüber den Juden im "Dritten Reich". Dass es hauptsächlich der Filter "Konflikt" ist, durch den Israel wahrgenommen wird, legen auch die Werte zur israelischen Regierung nah: Nur 19 Prozent der Befragten haben eine gute Meinung von ihr.
Die Deutschen desinteressieren sich
Die Feststellung, dass die Antworten eben je nach Frage unterschiedlich ausfallen und dadurch zuweilen durch unmittelbar prägende Ereignisse schwankende Resultate entstehen, ist wahrlich auch für die Meinungsforschung nicht neu. Und dennoch lässt sich ein klarer Trend feststellen. Die deutsche Öffentlichkeit interessiert sich jenseits der Aufregungswellen im Rahmen des Konflikts mit den Palästinensern nicht weiter für Israel. Sie entfernt sich von Israel, aber auch von der politischen Elite in Deutschland. Deutsche Politiker, inklusive der Kanzlerin, mögen israelische Politik wie den Siedlungsbau offen und deutlich kritisieren. Auf politisch-diplomatischer Ebene aber sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel eng und vertrauensvoll. Die israelische ist eine der wenigen Partnerregierungen, mit denen die Bundesregierung regelmäßige Kabinettstreffen abhält. Seit vielen Jahren findet ein intensiver Austausch zwischen israelischen und deutschen Soldaten statt, zudem liefert die Bundesrepublik atomar bestückbare U-Boote an Israel. 2011 vermittelte die Bundesrepublik zur Freilassung des von der Hamas gekidnappten israelischen Soldaten Gilad Shalit. Und nicht zuletzt nimmt Berlin mit einem jüngst abgeschlossenen Abkommen konsularische Aufgaben für israelische Staatsbürger in Ländern wahr, in denen Israel keine diplomatische Vertretung besitzt – was ja nichts weniger bedeutet, als dass die israelische Regierung das Wohlergehen ihrer Bürger in manchen Ländern Deutschland anvertraut.
Die deutsche Öffentlichkeit allerdings scheint sich gerade im Nahostkonflikt politische Neutralität zu wünschen. Zwar befürworten laut der genannten Bertelsmann-Studie 48 Prozent der Deutschen eine diplomatisch-politische Unterstützung Israels, was diese jedoch konkret bedeutet, bleibt im Ungefähren. Man darf davon ausgehen, dass damit eine generelle Befürwortung einer Zweistaatenlösung gemeint ist, die eben auch Israel sichere Grenzen garantieren müsste. Nur 19 Prozent hingegen sprechen sich dafür aus, dass auch deutsche Waffen an Israel geliefert werden – in diesem Fall dürfte eben doch die Mehrzahl der Bundesbürger mit Günter Grass übereinstimmen, der ja gerade die Lieferung atomar bestückbarer U-Boote für einen "Skandal" hielt.
Auch "die" Vergangenheit scheint Deutschland nicht mehr so stark mit Israel zu verbinden. Die Mehrheit der Befragten in der Bertelsmann-Studie, nämlich 61 Prozent, erkennt zwar eine besondere, nicht näher bestimmte Verantwortung Deutschlands aufgrund seiner Geschichte an, aber die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Mord an den europäischen Juden bleibt offensichtlich selbstbezogen und in gewisser Weise politisch konsequenzlos. Denn nur 40 Prozent der Befragten empfinden eine Verantwortung für das jüdische Volk. Klar ist: Dass die Sicherheit Israels – aus der der militärische Aspekt von "Sicherheit" ja nicht ausgeblendet werden kann – zur deutschen Staatsräson zählen soll, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 im israelischen Parlament betonte,
Ursachenforschung
Welche Gründe mag es für die Entfremdung geben? Deutsche und Israelis haben ganz verschiedene Lehren aus der Geschichte gezogen: "Nie wieder Krieg" auf der deutschen Seite, was in einer tiefen Abneigung gegen alles Militärische resultiert. Das gilt nicht nur in Bezug auf den Nahostkonflikt; die Ablehnung militärischer Interventionen, inklusive des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr, ist seit Jahrzehnten konstant. Für Israelis hingegen gilt die Lehre "Nie wieder Auschwitz" oder auch "Nie wieder wir".
Neben diesen nicht miteinander zu vereinbarenden Lehren aus der Geschichte könnten auch die Lebenswirklichkeiten von Israelis und Deutschen unterschiedlicher nicht sein. Deutschland ist postmilitärisch, postnationalistisch und postreligiös. Israel ist und kann nichts davon sein. Deutschland ist spätestens nach 1989 nur von Freunden umgeben; Europa befand sich wenigstens bis zur Ukraine-Krise in einer außergewöhnlich günstigen Sicherheitslage. Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker in die Europäische Union integriert, ja es ist einer der wesentlichen Treiber der Integration. Israel war eine Integration in die Nachbarschaft verwehrt (mit Ausnahme des kalten Friedens mit Ägypten und Jordanien, der gänzlich auf Kontakte zwischen politischen Entscheidungsträgern beschränkt blieb). Deutschland verfügt (spätestens seit 1990) über sichere und klar definierte Grenzen; Israels Grenzverlauf ist bis zu einem Endstatus-Abkommen mit den Palästinenser umstritten, sein Existenzrecht wird von zahlreichen staatlichen und nichtstaatlichen Kräften in der Region bestritten, und der Zerfallsprozess arabischer Staaten in der Region scheint unaufhaltsam.
Einem vielleicht wachsenden Patriotismus in Deutschland zum Trotz ist und bleibt das Thema "Nation" ein schwieriges – zudem gibt Deutschland im Rahmen der EU nationale Souveränität bewusst ab. In Israel ist das nation-building dagegen nicht abgeschlossen, solange es auch nicht über sichere Grenzen verfügt. Zudem lehnt ein nicht geringer Teil der israelischen Bevölkerung – die Ultraorthodoxen – den jüdischen Staat aus religiösen Gründen ab, während die arabische Bevölkerung – immerhin fast ein Viertel der in Israel lebenden Menschen – den Gründungsmythos Israels nicht teilen kann. Sie ist ja nicht in das Land ihrer Vorväter zurückgekehrt, um dort endlich selbstbestimmt und als Mehrheit im eigenen Staat zu leben. Der jüdische Staat ist bei seiner Gründung 1948 in Form einer "Katastrophe" (Nakba) über sie gekommen.
Und schließlich: Über 60 Prozent der Israelis mögen sich als säkular bezeichnen, sie fühlen sich aber der jüdischen Tradition und Geschichte durchaus verpflichtet. Dies hat auch eine politische Dimension: Würde die jüdische Bevölkerung Israels ihre historische Verbindung zum "Heiligen Land" kappen, dann würde sie auch ihr Recht auf die Existenz eines jüdischen Staates an diesem Ort unterminieren. Die deutsche Gesellschaft hingegen wird immer säkularer, durchaus im Sinne von "religiös unmusikalisch" oder gar areligiös. Religiöse Aspekte eines Konflikts sind ihr zutiefst suspekt.
Diese trennenden Elemente sind nicht zu überwinden, da sie völlig unterschiedlichen politischen Umständen geschuldet sind. Sehr wohl aber könnten sie zur Kenntnis genommen – und als mögliche Ursache für die Unterschiedlichkeit politischen Handelns oder die Unterschiedlichkeit der Bewertung von politischem Handeln verstanden werden. Indes: Es fehlt, wie Shimon Stein, der ehemalige Botschafter Israels in Deutschland, einmal beklagte, an "Empathie"