Eine einzige Umfrage genügte, um die Welt zu elektrisieren: Das britische Meinungsforschungsinstitut YouGov vermeldete am 5. September 2014, dass Schottland beim Referendum einige Tage später mehrheitlich für seine Unabhängigkeit stimmen würde: 47 Prozent der Befragten gaben darin an, mit "Ja" stimmen zu wollen, nur 45 Prozent dagegen mit "Nein". Im ganzen Jahr 2014 war dies die erste Umfrage, die eine solche Mehrheit auswies – und das nur wenige Tage vor der Abstimmung. Ausweislich dieser Frage stand Großbritannien vor dem Zerfall. Hektische Bemühungen britischer Politiker folgten, die Märkte reagierten nervös, selbst die Queen war besorgt. Am Ende aber gaben 85 Prozent der Schotten ihre Stimme ab; von ihnen stimmten 44,7 Prozent für die Unabhängigkeit Schottlands, 55,3 Prozent dagegen.
Viel Lärm um nichts also? Das werden wir nie erfahren. Wir wissen nicht, was ohne diese Umfrage passiert wäre. Viele Menschen weltweit haben sie jedenfalls wahrgenommen, einige vielleicht darauf reagiert. Beim britischen Premierminister David Cameron war dies ganz offensichtlich. Vielleicht war er nicht der Einzige. Vielleicht haben sich viele der noch Unentschlossenen im Lichte der nun offenkundig bevorstehenden Unabhängigkeit überlegt, dass diese Unabhängigkeit keine gute Idee sei und schlussendlich mit "Nein" gestimmt. Vielleicht haben überzeugte Unionisten nach der Umfrage ihren Einsatz für den Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich gesteigert. Und vielleicht wurden noch ganz andere Prozesse durch die Umfrage in Gang gesetzt.
Klar ist jedenfalls, dass (veröffentlichte) Umfragen wie diese mehr sind als bloße "Wasserstandsmeldungen". Sie selbst können das Geschehen beeinflussen. Die Wahrnehmung und (mögliche) Wirkung von Umfragen stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags: Was lässt sich diesbezüglich theoretisch-konzeptionell erwarten? Welche empirischen Befunde liegen hierzu vor? Im ersten Abschnitt werde ich in gebotener Kürze ein Prozessmodell zur Betrachtung von Umfragen vorstellen, an dessen Ende die Wahrnehmung und Wirkung von Umfragen stehen. Ohne einen kurzen Blick auf das Entstehen von Umfragen und ihre Verarbeitung lassen sich deren Wahrnehmung und Wirkung nicht verstehen – diese beiden Aspekte stehen im zweiten und dritten Teil im Fokus.
Prozessmodellzur Analyse von Umfragen
Umfrage ist nicht gleich Umfrage – und das gleich in vielerlei Hinsicht: Wie kommt eine Umfrage zustande? Welchen Anspruch hat sie? Manche Umfragen sollen bevölkerungsrepräsentativ sein, andere nicht. Was ist das Thema der Umfrage? Geht es um Kauf- oder Wahlverhalten – oder um etwas ganz anderes? Was ist der Zweck einer Umfrage? Manche Umfragen verfolgen das Ziel, für interne Zwecke etwas über Konsumenten oder Wählerinnen zu erfahren; andere sind von Beginn an darauf ausgerichtet, die Ergebnisse öffentlichkeitswirksam zu publizieren. Und selbst das lässt sich nochmals danach unterteilen, ob die Öffentlichkeit bloß informiert oder von etwas überzeugt werden soll.
Es lohnt sich, solche Fragen mit Blick auf Umfragen zu stellen, um sie verstehen und einordnen zu können, gerade mit Blick auf mögliche Wahrnehmungs- und Wirkungsmuster. Gleichwohl lassen sich im Rahmen dieses Beitrags nicht alle genannten Fragen thematisieren. Wenn es in diesem Heft um Demoskopie geht, so ergibt sich daraus schon etymologisch, dass es um den Demos, also das Staatsvolk, geht, das man mittels Umfragen "betrachten" möchte, denn das bedeutet Demoskopie im Wortsinn. Aus dem Fokus auf "Wahrnehmung" und "Wirkung" folgt zudem, dass es um öffentlich wahrnehmbare Umfragen geht. Letztlich sind "Sonntagsfragen" – also Umfragen bezogen auf das mögliche Wahlverhalten der Menschen an mehr oder minder weit entfernt liegenden Wahlsonntagen – der Inbegriff dessen, was hier im Mittepunkt steht: bevölkerungsrepräsentative, politikbezogene Umfragen im öffentlich sichtbaren Raum.
Weder die Sonntagsfrage noch andere Umfragen sind naturgegeben. Umfrageergebnissen liegt eine komplexe Produktions- und Konstruktionslogik zugrunde. Am Anfang steht ein Auftraggeber, der den Prozess anstößt, indem er bei einem Meinungsforschungsinstitut eine Umfrage bestellt. Das Institut wird daraufhin Daten erheben, sie dann auswerten. Im Anschluss wird über die Umfrage berichtet – und erst dann kann die Öffentlichkeit die Ergebnisse wahrnehmen und die Umfrage potenziell Wirkung entfalten. Was hier feinsäuberlich getrennt klingt, ist in Wahrheit ein unübersichtlicher Prozess, der sich in einem dynamischen Marktumfeld mit vielen beteiligten Akteuren abspielt. Analytisch kann man sich gleichwohl jeder Umfrage aus dieser Prozessperspektive nähern, um die Voraussetzungen von Wahrnehmungen und Wirkungen – wie auch diese selbst – zu betrachten.
Mit Blick auf die Auftraggeber ist festzustellen, dass die meisten Umfragen, die zu veröffentlichten Sonntagsfragen führen, von Medien in Auftrag gegeben werden. Dabei haben sich in den vergangenen Jahren feste Tandems gebildet: Die ARD etwa gibt ihre Wahlumfragen bei Infratest dimap in Auftrag, das ZDF die seinen bei der Forschungsgruppe Wahlen. Gerade im unmittelbaren Vorfeld von Wahlen haben sich dabei Rituale etabliert – jedes Tandem hat einen festen Tag, an dem es seine Zahlen publiziert.
Der Auftrag setzt die Maschinerie der Datenerhebung auf Seiten der Institute in Gang: Welche Fragen werden gestellt? Wie werden sie formuliert? Wie viele Menschen aus welcher Zielgesamtheit sollen in welchem Zeitraum befragt werden? Auf welchen Wegen werden die Menschen kontaktiert – und hoffentlich auch erreicht? Die mit Meinungsforschung verbundenen Herausforderungen sind dabei in jüngerer Vergangenheit eher größer als kleiner geworden. Zwei Aspekte nur seien erwähnt, um dies zu verdeutlichen: Die Erreichbarkeit der Menschen über Festnetztelefone – noch immer der gängige Weg bei der Realisierung politischer Meinungsumfragen – ist rückläufig, immer mehr Menschen gehören zur Gruppe der mobile onlys, die nur noch über Handys zu erreichen sind. Darüber hinaus ist generell die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, an Meinungsumfragen teilzunehmen, rückläufig. Wenn aber bestimmte Bevölkerungsgruppen (zum Beispiel Wählerinnen und Wähler einer bestimmten Partei) mit größerer Wahrscheinlichkeit keinen Festnetzanschluss mehr haben oder geringere Lust haben, an Umfragen teilzunehmen, dann drohen in der Folge verzerrte Ergebnisse der Sonntagsfragen.
Zu diesen potenziell verzerrenden Faktoren gesellt sich die Möglichkeit eines statistischen Fehlers. Eine Sonntagsfrage basiert in der Regel auf Interviews mit ein- bis zweitausend Menschen, die Auskunft über ihre politischen Einstellungen und Verhaltensabsichten geben. Gesucht ist aber eine Aussage über alle Wahlberechtigten. Keine Frage: Eine Stichprobe der genannten Größe ist eine hervorragende Basis für solche Aussagen. Aber gleichwohl bleibt dieses Vorgehen nicht ohne Folgen: Es wird leichte Schwankungen von Beliebtheitswerten oder Stimmenanteilen rund um die wahren, aber unbekannten (und daher gesuchten) Anteile in der Gesamtbevölkerung geben. Diese Schwankungen sind der statistische Preis dafür, dass wir mit Stichproben arbeiten, aber etwas über eine größere Gruppe aussagen möchten.
Niemand hat gesagt, Umfragen zu realisieren, sei einfach. Aber aus den skizzierten Herausforderungen lässt sich gleichwohl eine Forderung nach größtmöglicher Transparenz ableiten. Gerade wenn man davon ausgeht, dass Menschen Umfragen wahrnehmen und in ihren Entscheidungen berücksichtigen, muss man ihnen gegenüber maximal transparent sein, wie Umfragen zustande gekommen sind, was sie leisten können und was nicht.
Die Transparenzforderung schließt das nächste Glied der Kette ein: Auf die Datenerhebung folgt die Datenaufbereitung und -auswertung. Die Erhebung liefert Rohdaten: Wie verteilen sich die Antworten der befragten Personen auf die Frage, welcher Partei sie am kommenden Sonntag ihre Stimme geben würden? Manche werden sagen, sie würden nicht zur Wahl gehen. Andere werden sagen, sie wüssten es derzeit nicht. Wiederum andere werden die Antwort verweigern, weil sie die Frage als indiskret empfinden. Eine vierte Gruppe wird eine Partei nennen – hoffentlich wahrheitsgemäß. Auf dieser Basis – und hinzu kommen die skizzierten, potenziell verzerrenden Probleme aus der Phase der Datenerhebung – müssen die Institute agieren. Bestimmte Lücken und Verzerrungen können sie durch Gewichtungsverfahren und Erfahrungswerte ausgleichen und kommen so zu Projektionen, die angesichts der geschilderten Herausforderungen von erstaunlicher Präzision sind.
All dies zeigt aber: Demoskopie ist kein reiner Messvorgang, sondern ein umfangreicher Konstruktionsprozess, was an verschiedenen Stellen auch zutage tritt. So kann man bei längerfristiger Betrachtung erkennen, dass bestimmte Parteien bei bestimmten Instituten immer ein wenig besser (oder schlechter) abschneiden als bei anderen. Mit der Idee einer reinen (und einfachen) Messung von Bevölkerungsmeinungen sind solche systematischen "Hauseffekte" aber kaum vereinbar. Auch im Vorgehen der Forschungsgruppe Wahlen wird deutlich, dass Sonntagsfragen mehr verlangen als nur Datenerhebung: Die Forschungsgruppe unterscheidet nämlich zwischen einer gemessenen "politischen Stimmung" und der "Projektion" einer Sonntagsfrage. Dabei basieren beide Größen auf den Antworten der Befragten, welche Partei sie am Sonntag bei einer Bundestagswahl wählen würden. Aber in die Projektion fließen noch andere Faktoren als die reinen Antworten der Befragten ein, etwa "längerfristige Grundüberzeugungen". Außerdem erfahren wir in einer typischen Sonntagsfrage selten etwas über den Anteil der Nichtwähler oder den Anteil der Unentschlossenen (obwohl es beide Gruppen in erheblicher Zahl gibt). Auch das zeigt: Hier wird etwas konstruiert (wohlgemerkt: nicht manipuliert).
Damit sind wir beim nächsten Glied der Kette angekommen – der Veröffentlichung. Über demoskopische Befunde zu berichten, gehört zur festen Routine politischer Kommunikation. Medien schätzen Demoskopie – sie passt zum Horse-race-Journalismus, der vor allem den Wahlkampf wie einen sportlichen Wettlauf interpretiert und in den vergangenen Jahren auch in Deutschland stark an Gewicht gewonnen hat. Für diesen Stil der Wahlkampfberichterstattung sind Befunde aus Bevölkerungsumfragen prädestiniert; dies gilt vor allem für die Sonntagsfrage: Wer liegt vorne? Wer holt auf? Wer fällt zurück? Zwei Dinge verdienen an dieser Stelle besondere Beachtung: Erstens, Medien berichten nicht bloß nackte Zahlen, sondern bauen diese in ihre Berichterstattung ein, sie kontextualisieren und interpretieren sie. Eine Frage mit Blick auf Wahrnehmung und Wirkung von Umfragen ist damit unmittelbar verbunden: Was nehmen Bürgerinnen und Bürger dann eigentlich wahr – die demoskopischen Zahlen oder die darauf aufbauende Berichterstattung? Klar ist jedenfalls, dass Medien – etwa durch die Wahl einer bestimmten Überschrift – den Fokus auf bestimmte Aspekte einer Umfrage lenken können.
Zweitens ist der Zeitpunkt der Berichterstattung beachtenswert: Über viele Jahre hinweg haben sich ARD und ZDF eine Selbstverpflichtung auferlegt, in der Woche unmittelbar vor einer Wahl keine neuen Zahlen zu veröffentlichen. Auch andere Länder kennen Regelungen, die die Veröffentlichung von Umfragen kurz vor Wahlen untersagen. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 allerdings ist das ZDF von der langjährigen Praxis abgewichen und hat am Mittwoch vor der Bundestagswahl ein aktuelles "Politbarometer" veröffentlicht. ZDF-Intendant Thomas Bellut erläuterte dazu per Presseerklärung: "Das Wählerverhalten hat sich massiv verändert. Wechselwähler machen heute einen viel größeren Teil der Wählerschaft aus, und der Wähler entscheidet sich immer später. Wir sehen uns daher in der Pflicht, den Wähler mit einem aktuellen Stimmungsbild zu informieren und ihn nicht wider besseres Wissen auf dem Stand veralteter Informationen zu lassen." Und dabei war die ZDF-Umfrage noch nicht einmal die letzte vor der Wahl: Noch am Wahlsonntag selbst gab es frühmorgens in der "Bild am Sonntag" eine neue Emnid-Umfrage. Erst nach all diesen Schritten – Auftrag, Datenerhebung, Datenauswertung, Berichterstattung – kommen schlussendlich die Empfänger in Spiel, erst dann können sie die Meinungsumfragen wahrnehmen und auf sich wirken lassen.
Zur Wahrnehmung
Es scheint schwierig in diesen Zeiten, Meinungsumfragen nicht wahrzunehmen. Die Übersichten etwa bei wahlrecht.de verdeutlichen die Omnipräsenz von Umfragen vor der Bundestagswahl 2013. Studien zeigen, dass mit der gestiegenen Zahl an Umfragen deren Wahrnehmung tatsächlich auch zugenommen hat. Dem Soziologen Eugen Lupri zufolge haben 1957 vor der Bundestagswahl 17 Prozent der Wähler Ergebnisse von Meinungsumfragen gehört, 1965 schon 35 Prozent. Für die Bundestagswahl 1976 weist der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach einen Wert von 57 Prozent aus. Der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider schließlich berichtet für die Wahlen von 1983, 1987, 1990 und 1994 Werte von 72, 67, 81 und 67 Prozent. Vor der Bundestagswahl 2005 gaben lediglich acht Prozent der Menschen an, dass sie "nie" Berichte über die Ergebnisse von politischen Meinungsumfragen verfolgten.
Für die Bundestagswahlen 2009 und 2013 können wir auf die German Longitudinal Election Study (GLES) und dort insbesondere auf die Rolling Cross-Section Studie (RCS) zurückgreifen, um die Reichweite von Umfragen in diesen Wahlkämpfen zu prüfen. 2009 gaben – über den gesamten Zeitraum von acht Wochen vor dem Wahltag hinweg betrachtet – 39 Prozent der Befragten an, Umfragen in der jeweils vorausgehenden Woche wahrgenommen zu haben, 2013 waren es sogar 46 Prozent. Nach Wochen differenziert, ergibt sich der in der Abbildung dargestellte Verlauf. Dabei zeigen sich sowohl bemerkenswerte Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede: In beiden Wahljahren ist rund zwei Monate vor der Wahl zu erkennen, dass mit jeweils etwa 30 Prozent der Befragten nur eine Minderheit Meinungsumfragen verfolgt hat. Am Angebot an Umfragen kann dies kaum liegen, vielmehr ist es ein Hinweis darauf, dass die Politik im Alltag vieler Menschen nicht oberste Priorität genießt. Vier bis fünf Wochen vor der Wahl setzt jeweils eine beachtliche Dynamik ein, die zu einer weiten Wahrnehmung von Umfragen führt. 2009 endete die Kurve bei 50 Prozent, 2013 sogar bei fast 70 Prozent.
Auch die Kurvenverläufe verdienen Beachtung: 2013 ist drei Wochen vor dem Wahltag ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen, 2009 dagegen erst zwei Wochen vor dem Wahltag. Der Grund hierfür ist einfach: Das TV-Duell fand 2013 drei Wochen, 2009 dagegen zwei Wochen vor dem Wahltag statt. Und diese Duelle werden typischerweise umfassend mit Umfragen begleitet. 2013 zeigt sich zudem – schon von hohem Niveau ausgehend – ein nochmaliger Anstieg in der allerletzten Woche vor der Wahl, der im Gegensatz zu einem stabilen Bild 2009 steht. Die Diskussion rund um das letzte "Politbarometer" in just dieser Woche hat dazu sicherlich beigetragen.
Der Anstieg mag aber auch Ausdruck der Tatsache sein, dass bei einigen Wählern 2013 der Bedarf nach Umfragen bis kurz vor dem Wahltag größer war als noch 2009: Würde es die FDP in den Bundestag schaffen? Wären dafür eventuell "Leihstimmen" nötig? Welches Lager würde am Ende vorne liegen? Ob es tatsächlich solche koalitionspolitischen Überlegungen waren, die 2013 eine Rolle spielten, ist zunächst nur eine These, die unmittelbar die Fragen nach möglichen Faktoren aufwirft, die die (Nicht-)Wahrnehmung von Umfragen erklären könnten. Einige Befunde finden sich dazu in der Literatur: Demnach schenken Männer Umfragen mehr Beachtung als Frauen, Gleiches gilt für ältere und formal höher gebildete Menschen. Politisches Interesse allgemein sowie speziell ein Interesse am jeweiligen Wahlkampf wirken sich ebenso positiv aus wie das regelmäßige Verfolgen von Nachrichten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Einen (kleinen) Hinweis auf strategische Erwägungen findet sich für die Wahl 2005: Demnach wurden die Umfragen damals von FDP-Anhängern stärker beachtet als von Anhängern anderer Parteien.
Bezüglich möglicher Hintergründe zur Wahrnehmung von Umfragen lohnt es sich, die Wahljahre 2009 und 2013 noch einmal in den Blick nehmen (siehe Tabelle). Die beschriebenen Befunde, welche Gruppen Umfragen eher wahrnehmen (Männer, mit Abitur, über 50 Jahre), bestätigen sich erneut. Die Bewertung einer möglichen schwarz-gelben Regierung hatte jedoch kaum Effekte auf die Wahrnehmung von Umfragen: Obwohl man hätte vermuten können, dass gerade Befürworter dieses Bündnisses ein besonderes Interesse an Umfragen haben – beispielsweise um zu entscheiden, ob sie der FDP eine Leihstimme geben oder nicht –, finden sich diesbezüglich praktisch keine Unterschiede zur Vergleichsgruppe. Ein Interesse am Schicksal einer (möglichen) schwarz-gelben Koalition schien bei Gegnern wie Befürwortern zum gleichen Interesse an publizierten Meinungsumfragen zu führen.
Tabelle: Wahrnehmung von Meinungsumfragen vor den Bundestagswahlen 2009 und 2013
Zu (möglichen) Wirkungen
Kurz vor der Bundestagswahl 2013 überschrieb die "Welt am Sonntag" einen Artikel mit "Die unheimliche Macht der Meinungsforscher". Das darin zum Ausdruck kommende Unbehagen liegt auch den Selbstverpflichtungen der Medien oder gar entsprechenden Verboten, Ergebnisse von Meinungsumfragen kurz vor Wahlen zu veröffentlichen, zugrunde. Die Wähler sollen kurz vor der Wahl nicht (mehr) beeinflusst werden. Dabei lässt sich schon aus normativ-theoretischer Sicht fragen: Warum eigentlich bekommt gerade diese Quelle politischer Informationen in Wahlkämpfen so viel Aufmerksamkeit? Niemand würde etwa verlangen, dass Zeitungen kurz vor der Wahl aufhören sollen, das aktuelle politische Geschehen zu kommentieren.
Letztlich ist es auch eine empirische Frage, ob die Sorge eines Einflusses berechtigt ist oder nicht. Dabei sind die Voraussetzungen für einen Einfluss von Umfragen heutzutage sicherlich günstiger denn je. Stabile Parteibindungen gehen zurück, der Zeitpunkt der Wahlentscheidung verschiebt sich immer näher an den Wahltag heran, sodass auch kurzfristige Impulse vor Wahlen noch eine Rolle spielen. Die Parteienlandschaft ist unübersichtlicher geworden, manche Parteien wissen vor der Wahl nicht, ob sie die Fünfprozenthürde schaffen; welche Koalitionen sich bilden können, wollen und werden, ist häufig offen. All das macht Umfragen zu einer potenziell relevanten und interessanten Informationsquelle vor Wahlen, die noch dazu – wie gerade gezeigt – breit wahrgenommen wird.
Aber gibt es auch entsprechende Effekte? Direkte Wählerbefragungen fördern unterschiedliche Ergebnisse zutage: Im Umfeld der Bundestagswahlen 1983 und 1987 gaben jeweils etwa 25 Prozent der Befragten an, dass Umfragen zumindest "eine gewisse Rolle" bei ihren Wahlentscheidungen gespielt hätten. Anlässlich der Bundestagswahl 1990 gaben 14 Prozent zu Protokoll, dass Meinungsumfragen ihre Voten zumindest "etwas beeinflusst" hätten. Auch zur Bundestagswahl 2013 ergab eine Umfrage, die ich in Kooperation mit YouGov realisiert habe, dass 17 Prozent der Befragten, die Umfragen im Vorfeld der Wahl zur Kenntnis genommen hatten, diese nach eigenen Angaben auch in ihrer Wahlentscheidung berücksichtigten. Ein gewisser Einfluss von Umfragen ist auf Basis solcher Selbstberichte also zu konstatieren. Zugleich tut sich die einschlägige Forschung schwer damit, diesen Einfluss präzise zu bestimmen: "Auf die Frage, ob und wie Umfrageergebnisse und insbesondere Wahlprognosen das Wahlverhalten der Bevölkerung beeinflussen, fehlen bis heute gleich eindeutige wie empirisch gesicherte Antworten."
Wie passt das zusammen? Aus theoretisch-konzeptioneller Sicht sind die Möglichkeiten von Umfrageeffekten äußerst vielfältig. Es ist schwer, den einen Effekt von Umfragen zu postulieren (und zu finden). Worauf wirken sich Umfragen überhaupt aus? Publizierte Meinungsumfragen könnten sich auf die Wahlbeteiligung ebenso auswirken wie auf die Parteiwahl. Was Effekte auf die Parteiwahl betrifft, werden in der Literatur verschiedene Möglichkeiten diskutiert. Sie können eher rational oder emotional begründet sein. Häufig ist zudem die Richtung eines Effekts unklar. Und selbst für den Ursprung eines angenommenen Effekts sind verschiedene Aspekte zu bedenken: Ist es die Umfrage als solche, oder ist es vielleicht die Veränderung gegenüber der vorherigen Umfrage, die einen Effekt bei den Wählern auslöst?
Die Vielfalt der Optionen spiegelt sich in den unterschiedlichen Theorien wider. Beliebt ist etwa die "Bandwagon-Hypothese": Sie besagt, dass erfolgreich erscheinende Parteien aufgrund ihres Erfolges zusätzliche Unterstützung in der Wählerschaft erfahren. Aber auch die komplementäre "Underdog-Hypothese" wird vielfach vertreten. Sie besagt, dass erwartbare Gewinner Stimmen zugunsten scheinbarer Verlierer einbüßen. Beiden Thesen liegt dabei ein eher emotional begründeter Mechanismus zugrunde: Es fühlt sich gut an, zu den Siegern zu gehören. Oder verdient der Verlierer doch unser Mitleid? Anders, nämlich taktisch-rational, wird bei der "Fallbeil-Hypothese" argumentiert: Wähler wollen ihre Stimmen demnach nicht verschenken und werden daher keine Partei wählen, die an der Sperrklausel des Wahlsystems zu scheitern droht. Umgekehrt wird die These der coalition insurance postuliert. Demnach leihen Anhänger größerer Parteien einem potenziellen (kleinen) Koalitionspartner ihre Stimme, wenn dieser – ausweislich publizierter Umfragen – an der Sperrklausel zu scheitern droht.
Ganz offenkundig schließen sich diese Thesen an verschiedenen Stellen wechselseitig aus. Das heißt aber nicht, dass sich niemand gemäß der postulierten Thesen verhält. Manche mögen der einen These entsprechen, andere der anderen, wiederum andere überhaupt keiner. Und in der Folge all dessen könnte bei Betrachtung der Wählerschaft insgesamt überhaupt kein Effekt von Umfragen auf Wahlverhalten mehr sichtbar werden, weil sich die Effekte wechselseitig aufheben. Nur wenn eine der Thesen empirisch überwiegt oder gar dominiert, würde auch insgesamt ein Effekt von Umfragen zutage treten.
Die Bundestagswahl 2013 könnte ein solcher Fall gewesen sein. Warum? Das Rennen zwischen schwarz-gelber Regierung und Opposition war knapp, die FDP (und gegen Ende hin auch die AfD) lag in Umfragen im Bereich von fünf Prozent und kämpfte entsprechend mit der Sperrklausel. Zudem gab es – wie skizziert – auch sehr spät im Wahlkampf noch neue Umfragen. Umfragen, die unmittelbar vor dem Wahltag publiziert werden, könnten aber mehr noch als ältere Umfragen als tatsächliche Vorhersagen des Wahlausgangs (mit weniger Unsicherheit) verstanden werden – und umso heftiger könnten die Reaktionen darauf ausfallen. Vor allem aber spricht der Vergleich von Vorwahlumfragen mit dem tatsächlichen Wahlausgang 2013 dafür, dass Erstere für Letzteren eine Rolle gespielt haben. Das "Politbarometer" am Mittwoch vor der Wahl sah die FDP bei 5,5 Prozent, die erwähnte Emnid-Umfrage vom Wahlsonntag gar bei sechs Prozent. Am Wahlabend aber blieb der Balken der FDP bei 4,8 Prozent stehen. Waren daran die Umfragen schuld?
Gegenteiliges war Anfang 2013 bei der Landtagswahl in Niedersachsen passiert: Letzte Umfragen sahen die FDP dort zwischen vier und fünf Prozent – am Ende aber standen für die FDP 9,9 Prozent zu Buche. Warum? Weil viele (für den von ihnen gewünschten Ausgang letztlich zu viele) Anhänger der Union mit Präferenz für eine schwarz-gelbe Regierung ihre Stimme "geliehen" haben. Dabei sind die niedersächsische Landtagswahl und die Bundestagswahl 2013 zwei Seiten der gleichen Medaille: In beiden Fällen ging von Umfragen ein Signal an das schwarz-gelbe Lager aus, was die Notwendigkeit von Leihstimmen betrifft. Und in beiden Fällen haben die Menschen darauf reagiert – in beiden Fällen mit unerwarteter Heftigkeit.
Gibt es weitere Hinweise, die für einen solchen Mechanismus sprechen? In einer experimentellen Studie vor der Bundestagswahl 2013 konfrontierten Sascha Huber und ich 3285 Befragte mit verschiedenen Umfrageszenarien. Während wir einem Teil der Gruppe Umfragen vorlegten, die die FDP bei vier Prozent sahen, zeigten wir einem anderen Teil Umfragen, die die FDP bei sechs Prozent sahen. Wie würden sich die Befragten im Lichte dieser Umfragen am Wahltag verhalten? Es zeigte sich, dass der resultierende Stimmenanteil der FDP höher lag, wenn die Umfrage die Partei unter fünf Prozent sah. Eher anekdotische Evidenz liefert dagegen eine Begebenheit, von der die "Süddeutsche Zeitung" am 27. September 2013 berichtete: Telefonisch soll der damalige FDP-Chef Philipp Rösler vor der Wahl die Bundeskanzlerin um Leihstimmen für seine Partei gebeten haben. "Und wie reagiert Angela Merkel? Sie erklärt, dass die FDP sich gar keine Sorgen machen müsse, sie liege in den Umfragen stabil über sechs Prozent." Im Lichte all dessen lässt sich zwar sicherlich nicht behaupten, dass Demoskopen die Schuld am Scheitern der FDP bei der Wahl 2013 tragen. Aber ihren Beitrag dazu haben sie mit ihren späten Umfragen sicher geleistet.
Fazit
Die Frage, ob Demoskopie eingedenk dieser Ausführungen nun Fluch oder Segen ist, würde man auf Seiten der FDP nach 2013 wohl eindeutig beantworten. Eine pauschale Verdammung von Umfragen wäre aber doch zu einfach. Dass politische Meinungsumfragen und insbesondere Sonntagsfragen heute schwieriger denn je sind, liegt auf der Hand: Die Herausforderungen im Produktionsprozess tragen dazu ebenso bei wie der Umstand, dass die Umfragen selbst ein Teil des Wahlkampfgeschehens sind, auf den Parteien ebenso wie die Wähler wiederum reagieren. Dass die Umfragen trotzdem von hoher Präzision sind, spricht für die Qualität und Erfahrung der Institute.
Das Beispiel der FDP 2013 erinnert uns zugleich daran, dass es keine Garantie geben kann, dass Umfragen immer präzise und richtig sind – selbst wenn sie nur wenige Tage vor einer Wahl erstellt und veröffentlicht werden. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Herbert Simon hat dazu schon 1954 den faszinierenden Gedanken formuliert, dass Meinungsforschungsinstitute die Reaktionen auf ihre Umfragen in ihre Projektionen einpreisen müssten, um so genau jene Werte projizieren zu können, die genau die Reaktionen auslösen, die am Ende genau zu den projizierten Werten führen. Das ist wahrlich kein einfaches Unterfangen. Realistischer erscheint dann schon die Forderung nach größtmöglicher Transparenz und flankierender Kommunikation, die die Empfänger der Botschaften in die Lage versetzen, souverän mit den Zahlen umzugehen – so wie sie es mit vielen anderen Botschaften im Wahlkampf ja auch tun.
Dr. rer. pol., geb. 1975; Professor für Empirische Politikforschung am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Hegelstraße 59, 55122 Mainz. E-Mail Link: thorsten.faas@uni-mainz.de
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