"Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun."
Exilforschung ist Erinnerungsarbeit und will dazu beitragen, dass die Verfolgung und Vertreibung während der NS-Zeit nicht in Vergessenheit gerät, unter Einbeziehung der "Frage nach den Ursachen und Bedingungen, die Auschwitz möglich gemacht hatten".
In der Exilforschung geht es um die Aufarbeitung von einzelnen Lebensgeschichten und Kollektivbiografien und zugleich auch um die mit diesen Menschen vergessenen oder verdrängten Ideen und Werke, wissenschaftlichen Ansätze und kulturellen Leistungen sowie die von ihnen begründeten Schulen und Institutionen. Derartige Bestandsaufnahmen ermöglichen es, die Verluste und Wirkungen der Vertreibung zu ermessen, die in Deutschland bis heute in allen gesellschaftlichen Bereichen spürbar sind; sie lassen auch erahnen, welche Leistungen Exilantinnen und Exilanten in den Aufnahmeländern erbracht haben.
Anfänge und Aufgaben
"Zweck der Exilforschung war und ist es, ein vernachlässigtes Thema aufzugreifen, vorzustellen und in das historische Bewußtsein zu rücken."
Bereits im Exil begann das Sammeln und Bewahren unterschiedlichster Quellen, und aus dem Exil kamen auch die ersten Initiativen, um die Materialien der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Eine breite Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Exil setzte in der Bundesrepublik erst infolge der 1968er Studentenbewegung ein, befördert auch durch die Tatsache, dass mit Willy Brandt ein Remigrant Kanzler wurde. Die Grundlagenforschung zum Exil wurde in der Folgezeit von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über zehn Jahre gefördert; Untersuchungen zum Thema Wissenschaftsemigration folgten.
1984 wurde die Gesellschaft für Exilforschung e.V. in Marburg gegründet, zunächst als deutscher Zweig der Society for Exile Studies, Inc.
Die Gesellschaft für Exilforschung e.V. wurde nach wenigen Jahren eine autonome und als gemeinnützig anerkannte Organisation, die weiterhin mit der North American Society for Exile Studies in Kooperation verbunden ist. Ihr erster Vorsitzender war der Literaturwissenschaftler und Publizist Ernst Loewy, der als Jugendlicher zur Auswanderung nach Palästina gezwungen war. Aktuell hat sie über 250 Mitglieder, davon etwa 60 Mitglieder aus dem Ausland, überwiegend aus Europa. In der Selbstdarstellung der Gesellschaft für Exilforschung e.V. wird als Ziel formuliert, "die komplexe Problematik von Emigration und Exil aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa interdisziplinär aufzuarbeiten, die politischen, wissenschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Leistungen der Exilierten und der Remigranten zu vermitteln und – unter dem Aspekt der Erinnerungsarbeit – den Dialog zwischen Forscherinnen und Forschern, Betroffenen, nachfolgenden Generationen, Interessierten, verwandten Institutionen und Organisationen sowie mit der Öffentlichkeit zu befördern".
Eine Vielzahl von Einrichtungen befasst sich in ihrem Sammelauftrag und ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit dem Exil. Zu nennen sind vor allem das Archiv der sozialen Demokratie unter dem Dach der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, das Deutsche Literaturarchiv Marbach, das Institut für Zeitgeschichte in München, das International Institute of Social History in Amsterdam und die Österreichische Exilbibliothek im Literaturhaus in Wien. An den deutschen Universitäten widmen sich die Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutschsprachige Exilliteratur an der Universität Hamburg und die Axel Springer-Stiftungsprofessur für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder explizit der Exilforschung. In Großbritannien ist das Research Centre for German and Austrian Exile Studies an der University of London hervorzuheben, in den USA The German and Jewish Intellectual Emigré Collection an der State University of New York at Albany.
Erkenntnisse und Entwicklungen
"Die Erfahrung der Fremde (…) scheint die Grunderfahrung des Exils gewesen zu sein."
In den vergangenen Jahrzehnten haben Forschungen zum deutschsprachigen Exil beachtliche Ergebnisse und Publikationen hervorgebracht.
In den vergangenen Jahren haben selbstkritische Reflexionen über die anfangs in der Forschung mittransportierten Mythen und Fehleinschätzungen, die in der Bundesrepublik und in der DDR jeweils anders gewichtet waren, stattgefunden. Ein Beispiel dafür ist der positiv besetzte Begriff des "anderen Deutschlands", mit dem die im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland stehenden politischen Ideen und kulturellen Werte im Exil definiert wurden: "Im Kern umfasst dieser Begriff drei Aspekte: einen politischen, der auf die Erneuerung und Radikalisierung der Demokratie zielte; einen kulturellen, der (…) auf die Bewahrung und Pflege des ‚kulturellen Erbes‘ im Rahmen einer deutschen ‚Kulturnation‘ setzte; und einen grundsätzlichen zivilisatorisch-humanitären Aspekt."
Welche Erkenntnisse gewonnen werden können, soll im Folgenden an einigen Beispielen aus der pädagogischen Exilforschung skizziert werden. Interessanterweise kann hier im Gegensatz zum Begriff des "anderen Deutschlands" durchaus von einer "anderen Pädagogik" gesprochen werden. Denn einige der nach der Machtübergabe geschlossenen reformpädagogisch orientierten Erziehungseinrichtungen und Schulen wurden im Exil weitergeführt beziehungsweise neugegründet, und zwar häufig von politisch oppositionellen und jüdischen Pädagoginnen und Pädagogen, die aufgrund des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" (7. April 1933) entlassen worden waren. Nach ihrer Flucht bauten sie Schulen und Kinderheime in Großbritannien, in der Schweiz, in Frankreich, in Italien, in Dänemark, in Schweden, in den Niederlanden, in den USA und in Argentinien auf.
Minna Specht gründete aus diesem pädagogischen Selbstverständnis heraus Schulen in Dänemark und England. Für sie stand im Vordergrund, "die für das Wachstum notwendigen Vorbedingungen wieder zu schaffen: das Vertrauen in andere Menschen und in die eigenen Kräfte".
Obwohl Ernst Papanek über die Arbeit mit Flüchtlingskindern vielfach berichtet und pädagogische und therapeutische Konzepte entwickelt hat,
Die Beispiele aus der pädagogischen Exilforschung zeigen die ebenfalls für andere Disziplinen nachweisbare Fortsetzung von Entwicklungen aus den 1920er Jahren, die in der Konfrontation mit der "Fremde" und den neuen Notwendigkeiten angereichert, modifiziert und weitergeführt wurden. Zunächst war die Akkulturation, also das Hineinwachsen in die Gegebenheiten in den Exilländern, das vorrangige Ziel. Dann jedoch wurden auch Bildungskonzeptionen und Schul- und Unterrichtspläne für ein Deutschland nach Hitler verfasst, die an die in der Weimarer Republik entwickelten Reformmodelle anknüpften, in die aber auch im Exil gewonnene Erfahrungen und innovative Ideen hineinflossen.
Diese Tatsache deutet bereits darauf hin, dass in pädagogischen und sozialen Berufen häufiger als in anderen Berufsgruppen die Remigration vorbereitet wurde.
Geschlechterdifferenz und Emanzipation
"Unsere Bilder von der Emigrantin und dem Mann im Exil sind durch Geschlechterstereotypen bestimmt."
Innerhalb der Gesellschaft für Exilforschung e.V. entstand Ende der 1980er Jahre die Arbeitsgemeinschaft "Frauen im Exil", die sich als lockeres Bündnis von Forscherinnen und Studentinnen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Zeitzeuginnen versteht und unter geschlechterdifferenzierender Perspektive über das Exil arbeitet. In den Anfangsjahren ging es wegen der Vernachlässigung der "Frauenfrage" in der Exilforschung "um das Sammeln von Informationen, um das Aufsuchen und Bekanntmachen von Namen, die vor dem Vergessen bewahrt werden mußten, um das Kennenlernen bis dahin ungenannter weiblicher Persönlichkeiten des Exils" und um "den Alltag des Exils von Frauen".
Es geht der geschlechtersensiblen Exilforschung bislang vor allem um das Leben und Wirken von Frauen im Exil, speziell in den Jahren von 1933 bis 1945. Die Auseinandersetzung mit der spezifischen Situation des weiblichen Geschlechts in patriarchalischen Gesellschaften wird mit der Frage nach den Folgen von Vertreibung und Vernichtung verknüpft. Dementsprechend haben sich die Tagungen der Arbeitsgemeinschaft "Frauen im Exil" und der österreichischen Frauenexilforschung und eine Vielzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit der Auslotung beruflicher Möglichkeiten für Frauen und mit weiblichen Lebensmustern befasst sowie mit Frauen, die wegen ihrer Ethnizität, ihrer politischen Überzeugung, ihrer Religion, ihrer künstlerischen Expressivität, ihres Lebensstils oder ihrer Sexualität der Willkür ausgesetzt waren. Dabei werden auch die Lebensverhältnisse im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich in den Blick genommen, um das Exil im Zusammenhang von Widerstand, Verfolgung, Deportation und Mord zu untersuchen. So hat sich die Frauenexilforschung mit zahlreichen Themen auseinandergesetzt, beispielsweise mit politischen Konzepten von Exilantinnen, mit Frauen in der Résistance, mit Lebensgemeinschaften von Frauen, mit Frauen in südfranzösischen Internierungslagern, im KZ Ravensbrück und im Gulag, mit dem Widerstand und mit der Remigration. Sie hat sich zudem beschäftigt mit Traumatisierungen verfolgter und versteckter Kinder, mit Schulen im Exil und mit Kindertransporten, mit der deutsch-jüdischen Jugendbewegung und der Alija (Einwanderung nach Palästina), mit der Exilpresse, mit Rezeptionsproblemen, mit der kritischen Auseinandersetzung um den Frauenanteil in der Wissenschaftsemigration, mit der Flucht- und Flüchtlingshilfe der International Federation of University Women und mit Familiengeschichte(n), in denen es um Erfahrungen und Verarbeitung von Exil und Verfolgung im Leben der Töchter geht.
Auf die ursprünglich aufgeworfene Fragestellung, "Welche geschlechterspezifischen Unterschiede bestimmten das Leben der Emigrierten?", können also vielfältige Antworten gegeben werden, und die erforderliche Überprüfung der Bewertungskriterien für intellektuelle Leistungen und für künstlerisches und literarisches Schaffen vor, während und nach der Emigration findet fortlaufend statt.
Vermittlung und Bildung
"Nirgends in diesem Land gibt es einen Ort, an dem man den Inhalt des Wortes Exil an einzelnen Schicksalen entlang darstellen kann. Das Risiko der Flucht, das verstörte Leben im Exil, Fremdheit, Armut, Angst und Heimweh."
Die Erforschung des deutschsprachigen Exils während der NS-Zeit hat Modellcharakter, nicht nur, "weil es uns die eigene Geschichte besser verstehen lehrt, sondern auch, weil es für alle Zukunft Licht auf die Geschichte und die Mechanismen der Wanderungen, der Fluchten, des Exils, der Emigration zu werfen vermag".
Eine vielversprechende Anregung ist in dieser Hinsicht von der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ausgegangen, die beklagt, dass es kein Museum des Exils gibt. Eine Antwort darauf ist die finanzielle Förderung der im Aufbau befindlichen virtuellen Ausstellung und das Netzwerk "Künste im Exil", die auf Wunsch des ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Bernd Neumann, unter der Federführung des Exilarchivs 1933–1945 in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main angesiedelt sind. Mit über dreißig Kooperationspartnerinnen und -partnern ist ein hervorragendes Beispiel für zukünftige Bildungsprojekte entstanden.
Fortsetzung und Erweiterung
"Aufgabe der Exilforschung scheint mir demnach zu sein, das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis zugleich an einem historisch und anthropologisch verbindlichen Gegenstand zu schulen. Eine solche Exilforschung (…) würde gehört und verstanden werden, weit über die Kreise der ‚Betroffenen‘ und die Fachkreise hinaus."
Ein Kennzeichen der Exilforschung ist es bisher gewesen, dass das Engagement von Einzelnen tragend wurde, wenn es um die Rekonstruktion zerstörter Lebenswelten, die kritische Rezeption verdrängter und vergessener Traditionen und die Frage des Kultur- und Wissenstransfers in die Exilländer geht. Der Prozess des Einschreibens der Lebensgeschichten und der künstlerischen, wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Leistungen in das "kulturelle Gedächtnis"
Das Exil wird seit dem vergangenen Jahrhundert zunehmend zur Erfahrungs- und Lebensform, weil Krieg, Hunger, Genozid, soziale Not, Wirtschaftskrisen, Fundamentalismus und Frauenfeindlichkeit zur Flucht zwingen. 2013 waren nach dem Report des United Nations High Commissioners for Refugees (UNHCR) 51,2 Millionen Menschen auf der Flucht,