In modernen demokratischen Gesellschaften sind Wahlen das zentrale Verfahren, mit dem Bürger/-innen die Macht in ihrem Lande ausüben. Als Wähler/-innen bringen sie ihren politischen Willen zum Ausdruck. Als von ihnen Gewählte erhalten die zur Wahl stehenden Personen und Parteien politische Macht auf Zeit, indem sie verantwortliche Positionen übernehmen und vielfältige Ressourcen erhalten, um ihre politischen Vorhaben zum Wohle aller umzusetzen. Wahlen stehen daher in erster Linie im Fokus der medialen, sozial- und politikwissenschaftlichen Aufmerksamkeit, wenn es darum geht, die politische Kultur eines Landes zu bewerten. Eine sinkende Wahlbeteiligung, aber auch eine geringere Partizipation größerer Kreise der Bevölkerung am politischen Geschehen bieten vor diesem Hintergrund Anlässe zur Sorge, zur kritischen Analyse von Ursachen und Konsequenzen und zur Erörterung geeigneter Therapien.
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel diagnostiziert seit einigen Jahren für Deutschland eine "Partizipations-Repräsentations-Lücke", die hierzulande das politische Klima eintrübe. Der Begriff verweist sowohl auf die abnehmende Beteiligung der Bevölkerung an Wahlen als auch auf die Herkunft der Gewählten, die kaum die Sozialstruktur der Bevölkerung widerspiegelt. In Deutschland sinkt, wie in vielen anderen Demokratien, die Wahlbeteiligung. Immer weniger Bürger/-innen bringen ihren politischen Willen in Wahlen zum Ausdruck. Diese Wahlenthaltung erhöht zudem das politische Gewicht der Wähler, die sich an den Wahlen beteiligen. Damit wächst die Bedeutung all derer, die politisch gut organisiert sind. In der Folge sehen sich aber auch die im Namen des Volkes Gewählten mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, für ihre Ziele eine breite Zustimmung zu erlangen.
Angesichts dieser Problemlage werden in letzter Zeit seitens der Sozial- und Politikwissenschaften Therapien entwickelt, um die Bürger/-innen zum Wählen zu mobilisieren und um den Kreis der Bevölkerung zu erweitern, aus dem sich die politischen Repräsentanten rekrutieren. In unserem Beitrag wollen wir vor dem Hintergrund einer soziologischen Analyse der Krisenursachen die Reichweite und Grenzen einiger Therapien erörtern und unser besonderes Augenmerk auf den Vorschlag richten, künftig Abgeordnete auszulosen. Könnte das Losverfahren einen realistischen und wünschenswerten Beitrag zur demokratischen Mobilisierung von marginalisierten und sich selbst ausschließenden Wählergruppen hinsichtlich ihrer Wahlbeteiligung und ihrer Partizipation in Parlamenten und Parteien leisten? Wenden wir uns zunächst der Ursachenanalyse zu.
Wähler und Parteien im Wandel
Die über Jahrzehnte vergleichsweise hohe Beteiligung an Bundestagswahlen und die beiden großen Volksparteien mit ihrer tendenziell kleinbürgerlichen Prägung gehören zu den Erfolgsgeschichten der Demokratie in Deutschland. Sie haben den politischen Willen breiter Bevölkerungsschichten organisiert und für einen Ausgleich der Interessen gesorgt, vor allem auch mit den Interessen der politischen und ökonomischen Eliten. Doch spätestens seit den 1990er Jahren treten Unbehagen und Entfremdung an die Stelle von Zustimmung und Anerkennung in der Beziehung zwischen Bürgern, Politikern und ihren Parteien.
Angehörige der unteren Einkommens- und Bildungsschichten verweigern zunehmend ihre Teilnahme an Wahlen. "Zwar finden sich in der wachsenden Gruppe von Nichtwählern Menschen aller sozialen Schichten. Aber daraus zu schließen, dass sich die Wahlverweigerer gleichmäßig über die Gesellschaft verteilen, führt in die Irre. Denn die Wahrscheinlichkeit, nicht wählen zu gehen, unterscheidet sich systematisch nach Schichtzugehörigkeit, Einkommen und Bildung."
Mit den Veränderungen in der Zusammensetzung der Mitgliederschaft der großen Volksparteien, so die ernüchternde Diagnose des Soziologen Michael Hartmann, vollzieht sich ein tief greifender Wandel in der Rekrutierung der politischen Eliten beziehungsweise der politischen Klasse in Deutschland. Zentrale Positionen werden kaum noch mit Personen besetzt, die nicht aus bürgerlichen Verhältnissen stammen.
Konforme Gefolgschaften durch Kooptation
Verschärft wird dieser Trend durch die Kooptationspraxis der professionalisierten, heutzutage akademisch gebildeten und medial geschulten Parteieliten. Kooptation bedeutet: Politische Ämter werden vorwiegend mit wohlgefälligem Personal besetzt, das von den Parteieliten top down berufen wird (vergleichbar mit der Rekrutierung der ökonomischen Eliten in den Unternehmen), und nicht etwa durch Wahlen seitens der Mitglieder, also von der Basis. Dieses Verfahren gibt den inner circles die Chance, ihre Herrschaftsposition mit einer gleichgesinnten Gefolgschaft abzusichern und zu erweitern. Sie rekrutieren sich und ihre Beraterstäbe, vorbei an den demokratischen Aufstiegspfaden, die heutzutage als Ochsentour verunglimpft werden, aus den ihnen vertrauten Milieus. Das Phänomen ist jedoch nicht neu.
Schon vor mehr als hundert Jahren hat der Parteiensoziologe Robert Michels die Wirkung von Kooptation als Strategie des Aufbaus einer Oligarchie am Beispiel der Sozialdemokratie analysiert und als Defizit von innerparteilicher und gesellschaftlicher Demokratie identifiziert.
Aber auf lange Sicht, so lautete Robert Michels Prognose zu Beginn des 20. Jahrhunderts, werden sich die Bürger für ihre Entmündigung zu hilflosen Laien rächen. Sie entzögen der Politik das Vertrauen und die Zustimmung durch Wahlen. Michels, zeitweise aktives Mitglied in sozialdemokratischen Ortsvereinen, unterstrich diese Prognose zunächst durch seine Sympathie für den damaligen Syndikalismus und später für den italienischen Faschismus. Sein "ehernes Gesetz", aus heutiger Sicht betrachtet, gilt aber nach wie vor. Funktionäre und Experten mit ihren Stäben sind in den Parteien und Parlamenten moderner Demokratie unverzichtbar geworden und Garant von Erfahrung, Sachverstand und größtenteils auch von Verantwortungsbewusstsein. Der Tendenz, die von ihnen ausgeht, ihren politischen Einfluss durch entsprechende Rekrutierung konformer Gefolgschaften der Kontrolle zu entziehen, kann heutzutage nur durch die konsequente Anwendung demokratischer Verfahren, Abstimmungen und Befristungen von Amtsperioden begegnet werden sowie durch eine lebendige politische Kultur in den Parteien und in der Gesellschaft.
Aber welche Initiativen tragen zur Belebung der politischen Kultur, zur Überwindung der diagnostizierten "Partizipations-Repräsentations-Lücke", zur Vertrauensbildung zwischen Politikern und Bürgern bei? Wie gelingt es, die aus dem demokratischen Betrieb verdrängten sozialen Schichten stärker in das parlamentarische System zu integrieren, ohne dessen Architektur zu unterminieren? Wie kann dem anhaltenden Trend entgegengewirkt werden, dass ganze Bevölkerungsgruppen im Parlament so gut wie nicht mehr vertreten sind und keinen Zugang zur politischen Elite finden?
Therapien zur Belebung der Demokratie
Therapien zur Belebung der Demokratie müssen kompatibel sein mit den spezifischen historischen Erfahrungen und kulturellen Tiefenstrukturen der Gesellschaft, in der sie wirksam werden sollen. Daher ist in Deutschland äußerste Skepsis angebracht gegenüber bestimmten therapeutischen Maßnahmen zur Mobilisierung der Bevölkerung, beispielsweise der Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht oder der Abschaffung der Fünfprozenthürde.
Ein weiterer, derzeit sehr populärer Vorschlag, plebiszitäre Verfahren auf die Bundesebene auszuweiten, gibt ebenfalls wenig Anlass zur Hoffnung, die wachsende Kluft zwischen Politik, Parteien und Bürgern zu schließen. Im Gegenteil: Mobilisierungsfähigen, ökonomisch und sozial mächtigen Minderheiten gelingt es immer häufiger, organisationsschwächere Bürger/-innen an den Rand zu drängen. Plebiszite stellen vor diesem sozialstrukturellen Hintergrund keine echte Alternative zur Rolle der Parteien in der repräsentativen Demokratie dar. Die lauthals geübte Kritik an Parteien verkennt deren Wesen: Parteien sind von den Bürgern geschaffene Instrumente zur Durchsetzung ihres Willens, die Macht im Staat zu übernehmen und zu kontrollieren. In seiner berühmten Schrift über den 18. Brumaire des Louis Napoleon verdeutlicht Karl Marx am historischen Beispiel, dass zur Selbstorganisation unfähige Bevölkerungsgruppen Diktatoren in die Hände spielen, die sich im Namen und mit dem Mittel des Plebiszits die Macht sichern.
Geloste Bürgergremien
Aristoteles charakterisiert das Losen als die genuin demokratische Weise der Auslese von politischem Personal: "So gilt es, wie ich sage, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt, und wieder demokratisch, dass für den Eintritt in die Ämter kein Zensus, und für oligarchisch, dass ein Zensus erfordert wird."
Das Losverfahren verspricht also einen Ausweg aus dem alten Dilemma der ungleichen personalen Repräsentation der Wählerschaft in modernen Demokratien. Denn auch derzeit populäre Quotenregelungen – heute Frauenquoten, morgen vielleicht Beamten-, Arbeiter- und Rentnerquoten – sind umstritten. Ständestaatliche Lösungen, wie sie im britischen Oberhaus oder bis vor einigen Jahren im ehemaligen bayerischen Senat verwirklicht waren, sollten gesellschaftliche Gruppen, mächtige adelige Minderheiten, Glaubensgemeinschaften und Interessenverbände in die Parlamente integrieren. Lösungen dieser Art verschieben das Problem der personalen Repräsentation jedoch nur auf andere organisatorische Ebenen. Mehr oder weniger mächtige Verbände und deren Führungspersonal und nicht die Wähler bestimmen dann die Zusammensetzung der Parlamente. Um das Problem der Bestimmung von Gruppen und deren Quotierung zu umgehen, fordern Anhänger des Losverfahrens die Auslosung aller Sitze im Parlament.
Eine weniger konsequente Anwendung des Losverfahrens erkennt Hubertus Buchstein in der Institutionalisierung von ausgelosten Bürgergremien – Houses of Lots –, die dem Parlament bestimmte Entscheidungen abnehmen und die Abgeordneten in sensiblen Fragen wie Wahlrechtsreformen oder der Höhe der Diäten vor Machtmissbrauch und damit Vertrauensverlust schützen sollen. Buchstein verweist auf Experimente mit ausgelosten Bürgergremien wie den Citizen Assemblies (CA) in Kanada und in den Niederlanden, die sich vor allem mit umstrittenen Wahlrechtsfragen befasst haben. "Ein CA ist ein Gremium, das sich aus 100 bis 200 ausgelosten Bürgern zusammensetzt, einen zeitlich begrenzten und eindeutig definierten Arbeitsauftrag erhält und dazu einen Entscheidungsvorschlag erarbeitet."
Szenario für Deutschland
Die rechtlichen Grenzen, Losverfahren wie auch ständisch-proportionale Filter in das politische System der Bundesrepublik einzufügen, sind von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes eng gezogen worden. Dass Parlamente vom Volk zu wählen sind, bildet in unserem Verständnis von moderner Demokratie eine nicht hintergehbare Voraussetzung und ein zentrales Kriterium zur Beurteilung der Legitimität politischer Machtausübung. Dementsprechend wird die Bedeutung von Wahlen an zentralen Stellen unserer Verfassung festgelegt. Die Bundesrepublik Deutschland wird in Artikel 20 Absatz 1 als ein demokratischer und sozialer Bundesstaat qualifiziert, in welchem nach Absatz 2 alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, ausgeübt durch Wahlen, Abstimmungen und "besondere Organe" der Exekutive, Legislative und Judikative. Im gleichen Artikel Absatz 4 wird den Deutschen sogar ein Widerstandsrecht gegen jeden eingeräumt, "der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen", falls "andere Abhilfe nicht möglich ist." Der Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes regelt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Vertreter des ganzen Volkes "in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl" gewählt werden.
Welche realistischen Möglichkeiten bestehen dennoch, das Losverfahren als Mechanismus in die Architektur der modernen Demokratie einzuführen, um verfassungskonform eine höhere personale Repräsentation und Sichtbarkeit marginalisierter Interessen auf der Ebene des Bundestags zu implementieren? Im Folgenden skizzieren wir ein Szenario, das sowohl die innovativen Ideen Buchsteins wie die Kritik an Losverfahren ernst nimmt. Das Losverfahren darf das Wählen als den zentralen Mechanismus zur Koordination politischen Handelns nicht unterlaufen. Eine kluge Mischung aus beiden Verfahren, Wählen und Losen, trägt aber dazu bei, das Bewusstsein politischer Gleichheit, auch durch die personale Repräsentation im Parlament nicht vertretener Schichten und Gruppen, zu stärken und garantiert gleichzeitig die kompetente Führung der Geschäfte des Staates.
Der Bundestag kann und soll aus guten Gründen nicht durch eine ausgeloste Bürgerversammlung ersetzt werden. Der Fünfprozenthürde für die Wahl von Parteien auf Bundesebene kann aber ein Verfahren zur Seite zu gestellt werden, das allen wahlberechtigten Bürger/-innen die Chance eröffnet, einen von insgesamt fünf Prozent der Sitze im Bundestag (momentan etwa 30 Sitze) durch Los einzunehmen. Alle Wahlberechtigten erhalten mit dem Wahlschein eine Losnummer, die sie an das Wahlamt zurückgeben, wenn sie von ihrem Recht, gelost zu werden, bei der Bundestagswahl keinen Gebrauch machen wollen. Am Wahlabend werden nicht nur die Ergebnisse der Wahl, sondern auch die Losnummern der ausgelosten Abgeordneten bekannt gegeben. Alle Losabgeordneten müssen sich einer verfassungsrechtlichen Überprüfung unterziehen und haben das Recht, unter bestimmten Bedingungen vom Los zurückzutreten. Als historisches Vorbild für dieses, prima vista nicht mit Artikel 38 und 20 des Grundgesetzes kompatible Vorgehen dienen uns die "Berliner Abgeordneten". Sie wurden während des Vier-Mächte-Status von Berlin von 1949 bis 1990 vom Berliner Abgeordnetenhaus in den Bundestag entsandt, da damals in Berlin keine Bundestagswahlen stattfanden. Die Berliner Abgeordneten besaßen somit keine Legitimität durch Volkswahl. Sie waren, das ist für unseren Vorschlag bedeutsam, mit Ausnahme bei Abstimmungen zur Geschäftsordnung nicht stimmberechtigt. Also nahmen sie auch nicht an der Wahl oder Abwahl der Regierung oder an Abstimmungen über Gesetze teil. Dennoch besaßen sie nach der Geschäftsordnung des Bundestages ein uneingeschränktes Rederecht und konnten dort wichtige Funktionen übernehmen. Beispielsweise spielte Hans-Jochen Vogel als Fraktionsvorsitzender der SPD eine zentrale Rolle im parlamentarischen Betrieb.
Vergleichbar mit den Berliner Abgeordneten werden die durch Los ermittelten Losabgeordneten kein Stimmrecht bei Gesetzgebung und Regierungsbildung erhalten. Sie werden jedoch alle Mittel und Instrumente des Parlaments nutzen können, um an der Gesetzgebung mitzuwirken; vorzugweise wenn es um jene Gesetze und Normen geht, die die Parteien, das Parlament und die Parlamentarier/-innen selbst betreffen. Vor allem in diesen Fragen bilden die Losabgeordneten ein öffentlichkeitswirksames Korrektiv. Sie sind aber nicht wie in Buchsteins Vorschlag eines House of Lots auf bestimmte Themen- und Entscheidungsbereiche beschränkt. Das Losverfahren garantiert auf lange Sicht eine breite personale Repräsentation über alle denkbaren wahlberechtigten Bevölkerungsgruppen hinweg. Bedenken, viele Losabgeordnete könnten möglicherweise der Arbeit im Bundestag intellektuell nicht gewachsen und unfähig sein, sich gegen die geballte parlamentarische Akademiker- und Juristenmacht Gehör zu verschaffen, greifen nicht. Denn die Losabgeordneten werden, wie jeder gewählte Abgeordnete, nicht nur über deren Bezüge, sondern auch über einen professionellen Beraterstab verfügen, der ihnen hilft, sich in die parlamentarische Arbeit einzuarbeiten und ihre Interessen und Einstellungen zur Geltung zu bringen.
Kann der skizzierte, moderate Einsatz des Losverfahrens im Zuge der Bundestagswahl der "Wahlmüdigkeit" immer größerer Teile der Bevölkerung entgegenwirken und so ein zentrales Problem der repräsentativen Demokratie lösen? Als isolierte Einzelmaßnahme sicher nicht. Aber das Losverfahren als zusätzliches Recht auf Partizipation kann langfristig dazu beitragen, dass die Parteien wieder zu einer breiten sozialen Verankerung finden und die Kultur der politischen Debatten attraktiver wird für die Teile der Wählerschaft, die sich gegenwärtig kulturell ausgeschlossen und nicht mehr repräsentiert fühlen. Die Wähler bleiben in unserem Gedankenspiel der Souverän. Sie entscheiden über Fragen der politischen Macht; denn nur die repräsentative Demokratie verbindet die Idee der Volkssouveränität mit den funktionalen Erfordernissen, die heutigen komplexen Staatswesen angemessen sind.