Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vehementer Säkularismus als Antisemitismus? | Antisemitismus | bpb.de

Antisemitismus Editorial "Man wird doch noch mal sagen dürfen …" Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur Von der Judenfeindschaft zum Antisemitismus. Ein historischer Überblick Antisemitismus und Emotionen Antisemitische Einstellungen in Deutschland und Europa Vehementer Säkularismus als Antisemitismus? Bildungsarbeit in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigem Antisemitismus

Vehementer Säkularismus als Antisemitismus?

Vanessa Rau

/ 18 Minuten zu lesen

Die Forderung nach säkularen, vermeintlich neutralen Werten ist nicht per se antisemitisch und in ihrem Anspruch auf gesellschaftliche Gleichbehandlung auch nicht zu verdenken. Doch birgt die vehemente Aufrechterhaltung binärer Strukturen von religiös und säkular ein großes Potenzial zur Ausgrenzung.

Religion polarisiert, insbesondere wenn es um ihre Rolle und Präsenz im öffentlichen Raum liberaler Demokratien geht. Das mag in Anbetracht der Säkularisierungsthese, die einst mit den Vätern der Soziologie entstand und einen Rückgang der Religionen mit zunehmendem technischen Fortschritt und Industrialisierung in der Moderne prognostizierte, zunächst überraschen. Tatsächlich scheint es, als ob sich Diskussionen um Säkularität westlicher liberaler Demokratien, auch als Antwort auf die wachsende Präsenz des Islams in westeuropäischen Staaten, inflationär vermehrt hätten, und das Thema Religion fortwährend emotionale Debatten hervorrufe. Auch international ist diese Diskussion und sind Forderungen nach säkularen Staaten – etwa im Kontext des arabischen Frühlings – auffällig präsent. Hier wird davon ausgegangen, dass funktionierende Demokratien frei von der impulsiven Dimension der Religion agieren müssen, welche oftmals dichotomisch als das Andere des Säkularen, des Rationalen, dargestellt wird. Diese Meinung wird auch von Vertretern des sogenannten neuen Atheismus vertreten, die auf den Spuren anglo-amerikanischer Vorbilder wie Richard Dawkins und Christopher Hitchens versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen und sich dabei auf aufklärerische und humanistische Werte wie Vernunft und Rationalität stützen und der Religion mit großem Argwohn gegenüberstehen.

Die vehemente Forderung nach säkularen Prinzipien oder nach Säkularismuszu verstehen als politisches Projekt der Säkularität – taucht in verschiedenen gesellschaftlichen Debatten auf, wie beispielsweise in der Kontroverse um rituelle Beschneidung, die 2012 auf ein Urteil des Kölner Landgerichts folgte. Dieses entschied, dass die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Jungen aus religiösen Gründen eine strafbare Körperverletzung darstellt. Ein Vertreter einer humanistischen Initiative in Deutschland und Gegner des religiösen Rituals beurteilte die Situation wie folgt: "Es sind die Rechte von Kindern, die wir vor religiösen Übergriffen verteidigen. Die heiligen Schriften (die diese Vorgabe machen) können doch gar nicht die Standards unserer Zeit erreichen oder denen entsprechen. Sie wurden vor 2000 Jahren geschrieben und standen an anderen zivilisatorischen Prozessen. Man könnte wenigstens versuchen, die religiösen Werte mit den säkularen kompatibel zu machen, denn säkulare Prinzipien müssten für alle Bürger gelten!"

Diese Aussage stammt aus einer qualitativen Studie zur Debatte um das Beschneidungsurteil, in der ich religiöse und nicht-religiöse Vertreter hinsichtlich ihrer Überzeugungen und Positionen in der Debatte und ihrem Verständnis von gesellschaftlicher Säkularität befragt habe. Diese spezielle Kontroverse berührte nicht nur einen körperlich sensiblen Bereich, sondern auch das Kinderrecht körperlicher Unversehrtheit sowie die religiöse Erziehung von Kindern durch ihre Eltern. Die Ergebnisse der Analyse suggerierten nicht nur ein existentes gesellschaftliches Unbehagen mit Religion an sich sowie – und das erscheint wenig verwunderlich – ein fortwährendes Unbehagen im Umgang mit semitischen Religionen und ihren Traditionen. Vor allem aber zeigte es einen divergierenden Umgang mit dem Begriff des Säkularen und der Forderung nach säkularen Prinzipien. Zudem beleuchtete die empirische Untersuchung auch eine mögliche Konvergenz zwischen säkularistischen, der Religion mit Argwohn gegenüberstehenden Positionen und antijüdischen (sowie antimuslimischen) Ressentiments. Daher wird im Folgenden diese Verbindung anhand des Narrativs des Säkularismus und der Entstehung des Antisemitismus kritisch hinterfragt. Diskutiert wird, inwiefern die vehemente Forderung nach gesellschaftlicher Neutralität und Säkularität als Sichtschutz antijüdischer Ressentiments fungieren kann und in Herkunft, Narrativ und Gebrauch auf basale Muster der Moderne zurückgreift, die in bestimmten Kontexten mit antisemitischen Traditionen korrelieren können. Wenn man davon ausgeht, dass "die Abwertung der Anderen", in diesem Fall des Religiösen, Mustern gruppenbezogener Abwertung entspricht und daher stets auch ein Potenzial für andere Diskriminierungen darstellt, so bedarf diese Art der Abwertung besonderer Aufmerksamkeit.

Die säkulare Forderung wurde in der öffentlichen Debatte insbesondere von Ärzt(inn)en, Jurist(inn)en und nicht zuletzt von humanistischen Verbänden übernommen, die unter Berufung auf die Menschenrechte, das Kindeswohl und das Recht auf körperliche Unversehrtheit für ein gesetzliches Verbot des Rituals plädierten. Diese zunächst zu befürwortenden Forderungen stießen gesellschaftlich auf große Resonanz: Eine Umfrage zeigte, dass eine Mehrheit der Deutschen dem Urteil zustimmten. Zweifelsohne ist das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung von zentraler Wichtigkeit, das an sich volle Berechtigung zu haben scheint. Doch setzt die Forderung der Menschenrechte auch immer ein gemeinsames Verständnis des "Humanen" voraus: Wer, so fragt die Philosophin Hannah Arendt, legt die Dimensionen des Menschen fest, das die Menschenrechte so einschlägig voraussetzen? Zudem gilt es zu beachten, wann diese Forderungen nach Menschenrechten laut werden. Kann der Kampf um ein neutrales Staats- und Gesellschaftsgebilde und den Schutz des Menschen vor irrationalen Übergriffen der Religion, das humanistische pro-humanum, wenn es ein zentrales Identitätsmerkmal einer religiösen Minderheit angreift, auch in ein anti-humanum oder in diesem speziellen Fall in ein anti-semiticum umschlagen? Kann die Abwertung der religiös Anderen, die sich in Form von vehementen Forderungen nach Säkularität ausdrückt und Religionskontroversen beeinflusst, auch eine ethnisch-kulturelle und speziell antisemitische Abwertung ermöglichen, die jedoch durch die Referenz auf die Menschenrechte gesellschaftlich oftmals unhinterfragt bleibt?

Ein Narrativ des Säkularismus

Um diese mögliche Überschneidung nachvollziehbar zu machen, muss man sich zunächst ihrer Herkunft und Geschichte, insbesondere dem sogenannten Narrativ des Säkularen im gesellschaftlichen Diskurs, widmen. Obgleich sich Säkularität als politisches Projekt in der Moderne etabliert hat, ist es ursprünglich als theologische Kategorie entstanden, die saeculum als profane, weltliche Zeit in den Gegensatz zu sakraler, göttlicher Zeit setzte. Die originäre Bedeutung des Begriffs war "etwas weltlich zu machen". Der Säkularismus manifestierte sich erstmals in der politischen Trennung von Staat und Kirche, mit einer eher symbolischen denn legislativen Funktion. Diese Errungenschaft ist auch ein Produkt der französischen Revolution und der jakobinischen Freiheitskämpfer, die durch die philosophischen Grundlagen humanistischer Aufklärer wie Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau beeinflusst waren. Die Streiter der Revolution beabsichtigten eine Eindämmung des kirchlichen Einflusses auf den neu entstehenden (französischen) Nationalstaat und seinen öffentlichen politischen Raum, jedoch nicht unbedingt eine Infragestellung von Transzendenz oder des Göttlichen an sich. Zentraler Bestandteil dieses Projekts war auch die Deklaration der Menschenrechte, die die Würde des Menschen (Sklaven und Frauen ausgenommen) zur allgemeinen Maxime erklärte. Für den Religionsphilosophen Charles Taylor ist die Geschichte des Säkularismus auch gleichzeitig die Geschichte des Laizismus, denn die Kategorie der Religion und des Religiösen, die sich zur Zeit ihrer Formierung hauptsächlich auf die Autorität der katholischen Kirche bezieht, wird aus dem öffentlichen Raum verbannt und mit einer trennscharfen Grenze ihrem eigenen Bereich zugewiesen. Die Tatsache, dass Religion und ihr säkulares neutrales Pendant gleichermaßen in einem christlich-katholischen Kontext stehen, wird im Neutralitätsdiskurs oftmals vernachlässigt.

Obwohl die Entstehung eines vehementen, der Religion aversiv gegenüberstehenden "Säkularismus" nicht auf die Ereignisse der französischen Revolution reduziert werden kann, so sind die von ihr ausgehenden Aushandlungsprozesse doch entscheidend für die Etablierung der "grand narratives of modernity", basierend auf Autonomie, individueller Emanzipation, Mündigkeit und Freiheit. Diese Fundamente sind untrennbar mit säkularer Ordnung verwoben. Auch im akademischen Diskurs werden der Liberalismus und der später entstehende Kapitalismus als Teile eines einzigartigen "westlichen Wertesystems" gesehen. Zudem sind die Sozialtheorie und die Sozialwissenschaft selbst maßgeblich an der normativen Formierung dieser Begrifflichkeit beteiligt, da die soziologische Analysekategorie der Säkularisierung seit jeher auch unweigerlich mit der Prämisse gesellschaftlichen Fortschritts verbunden war.

Qua diesem Narrativ bilden eine säkulare Staatsordnung sowie ein säkularer öffentlicher Raum Meilensteine auf dem Weg in die Moderne. Eine unzureichende Umsetzung wird mit Rückständigkeit des Staates, der Gesellschaft oder des Individuums assoziiert. Damit wird eine hierarchische Bewertung ermöglicht, die der Politikwissenschaftler William Connolly mit "conceits of secularism" beschreibt. Dementsprechend stünden die Aufgeklärten denen, die noch immer unmündig der Rückständigkeit Folge leisten, diametral gegenüber. Was zunächst sehr abstrakt klingt, schwingt oftmals in öffentlichen Diskursen mit. Ein Beispiel dieser Einstellung ist das kurz vor Beginn der Beschneidungsdebatte veröffentlichte Statement des damaligen Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning, auf seiner Facebook-Seite: "too stupid to understand science – try religion".

Antisemitismus – Produkt der Moderne

Obwohl der Begriff des Antisemitismus in seiner soziologischen Analysefähigkeit umstritten ist, so ist ein Blick auf die Entstehung des historischen Phänomens in diesem Kontext aufschlussreich, da es auch basale Charakteristika der Moderne aufzuweisen scheint: Obgleich die Aufklärung ein scheinbares Abebben antisemitischer Tendenzen evozierte, entstand durch die Formierung europäischer Nationalstaaten und nationaler Identitäten und den europäischen Imperialismus neuer Nährboden für ideologische, vermeintlich wissenschaftliche Differenzierungspraktiken wie beispielsweise biologisierte Rassenideologien. Der im 19. Jahrhundert durch den Journalisten Wilhelm Marr etablierte Begriff bezieht sich ausschließlich auf Juden, nicht auf andere semitische Völker, und entspricht einer Differenzierungspraxis und der Etablierung eines binären Gegensatzes von "Jude" und "Nicht-Jude". Der Begriff und die damit einhergehende Praxis des Antisemitismus hingegen können zwar auch analog zu anderen Diskriminierungspraktiken von Rassismus und Xenophobie als antijüdischer Rassismus gesehen werden, gehen jedoch auf eine seit Jahrtausenden tradierte Praxis zurück, die von antijüdischen Bildern und Diskursen durchzogen ist und auch zeitgenössische Stereotypisierungen von Juden prägt. Der Antisemitismus ermöglicht, Juden als spezifische Andere darzustellen, deren Existenz und Traditionen eine Antithese gegenüber den Vorstellungen der modernen Gesellschaft bilden.

Für den Soziologen Zygmunt Bauman wird der Holocaust erst durch gewisse Prädispositionen der Moderne möglich gemacht: Rationalisierung, Bürokratisierung, vor allem aber durch das Bestreben der Moderne, Ambivalenzen auszuräumen. Das Prinzip der Staatsbürgerschaft, so Bauman, basiere auf einem traditionellen Freund-Feind-Bild, das eine Art gesellschaftlicher Ordnung ermögliche, die Uniformität fördert und Widersacher strategisch bekämpft. Der "Fremde" oder Andere, der zunächst nicht dieser Ordnung entspricht, muss sich an die existierende Ordnung – beispielsweise das geltende Staatsrecht – anpassen, um eine entstandene Ambivalenz auszuräumen. Diese Ambivalenzen schaffen Unsicherheit und Unbehagen sowohl mit dem Selbst als auch mit dem eigenen Umfeld. Das Ausräumen der Ambivalenzen verspricht psychologische Sicherheit durch Einheit. Falls die Anpassung an die Ordnung durch den Fremden nicht ausreichend vollzogen wird, wird sein "Fremdsein" als Rückständigkeit interpretiert.

Eine alternative Lesart

Mit seiner radikalen Vernunftkritik nach Friedrich Nietzsche stellt Michel Foucault die Möglichkeit von Neutralität und die absoluten Ansprüche des Projekts der Moderne grundsätzlich in Frage. Der französische Philosoph lehnt es ab, die Geschichte der Menschheit als kontinuierlichen progressiven Weg emanzipatorischer Vernunft zu betrachten, der schließlich teleologisch zu einem gesellschaftlichen Optimum führt und auf das vermeintliche Wissen vorhergehender Generationen aufbaut. Für Foucault ist alles erlangte Wissen kontextspezifisch und entsteht in diskursiven Strukturen, die wiederum in Machtverhältnisse eingebettet sind. Die Möglichkeit universalen Wissens und allgemeingültiger Wahrheiten von universaler Anwendbarkeit, wie etwa bei Kant, ist für Foucault ein Irrglaube. Daher bestehe weder die Möglichkeit einer neutralen Entität noch die eines "emanzipierten, freien" Akteurs, der sich selbst aus den Ketten der Unmündigkeit befreit und absolute Freiheit übt. Immer seien es gesellschaftliche Strukturen, die, von Anbeginn unserer Existenz, unser (Selbst-)Verständnis als Subjekte formieren. Der anthropozentrische Aufklärungsdiskurs, der in bestimmten Machtkonstellationen entsteht, muss daher in seiner Praxis nicht zwangsläufig weniger hierarchisch sein als sein Vorgänger.

In seinen Schriften "Wahnsinn und Gesellschaft" und "Geburt der Klinik" beschreibt Foucault, wie modernes Wissen – medizinisch, naturwissenschaftlich, pädagogisch – etabliert wird, und dies in der Folge eine allgemein akzeptierte Klassifizierung von Normalität beziehungsweise "Wahnsinn" ermöglicht. Diejenigen außerhalb der Norm sind nicht nur "wahnsinnig", sondern auch anfällig für gesellschaftliche Herrschaft über sie. Doch wenngleich die Rekonstruktion der Entstehung psychischer Krankheiten in ihrer historischen Validität fragwürdig erscheint, kann dieses Modell dennoch Aufschlüsse über die Entstehung von Normen und Diskursen geben und einen Beitrag zu aktuellen Debatten leisten.

In Anlehnung an Foucault argumentiert der Anthropologe Talal Asad nicht nur, dass allein die Definitionen von Religion inhärent eurozentristisch seien, sondern auch, dass existierende Diskurse über die Religion das Religiöse als etwas gesellschaftlich und politisch Überflüssiges darstellen. Auch seien Diskurse von Menschenrechten, Gleichheit, Freiheit und modernen Formen der Staatsbürgerschaft von einem spezifischen Verständnis des Säkularen geprägt. Da die Menschenrechte zumeist gesetzlich geschützt werden, wird der moderne Staat ihr wichtigster Verfechter und das Individuum im Gegenzug verpflichtet, ihn als Autorität anzuerkennen. Der Staat übernimmt somit die Funktion, das Individuum gegen mögliche Feinde seiner menschlichen Rechte zu verteidigen. Aufgrund dieser Gegebenheit, so Hannah Arendt, stehen Staat und Individuum in einem wechselseitig abhängigen Verhältnis, das von Verpflichtung und Loyalität geprägt ist. Die ethische Grundlage dieses Verhältnisses basiert auf der Würde und den Rechten des Menschen, so Asad. Dabei ist jedoch die Qualität und Dimension dieser "Würde" des Menschen im Einzelfall nicht genau festgelegt, wie Hannah Arendt argumentiert.

In dieser Funktion macht sich der moderne säkulare Staat zur Aufgabe, die körperliche Unversehrtheit des Individuums zu schützen. Asad sieht dieses Verständnis des Schutzes in engem Zusammenhang mit einem modernen Verständnis eines unversehrten Körpers. Der moderne Rechtsstaat verspricht dem Individuum die Garantie des unversehrten Körpers, denn Schmerz, Körperverletzung und körperliches Leiden werden mit Rückständigkeit und externer Kontrolle assoziiert.

Während dies zweifelsohne eine Errungenschaft ist, verweist Asad gleichermaßen darauf, dass der Diskurs um körperliche Unversehrtheit eher selektiv angewandt wird. Wie würde man sonst den Einsatz von Soldaten rechtfertigen, die für bestimmte Werte – Freiheit, Demokratie und Menschenrechte – ihre körperliche Unversehrtheit, wenn nicht sogar ihr Leben opfern und eventuell anderen das Leben nehmen? Dies lässt vermuten, dass der säkulare Rechtsstaat durchaus verschiedene Kriterien bei der Bewertung anwendet. In der Beschneidungsdebatte jedoch war es nicht der deutsche Staat, der diesen Diskurs laut werden ließ, sondern vielmehr seine nicht-religiösen, säkularen Bürger(innen), die das Beschneidungsritual, in Anlehnung an den Diskurs körperlicher Unversehrtheit, als antimoderne Markierung des Anderen deuten wollten. Die männliche Vorhaut wird somit – und das ist keine historische Neuheit – zum Symbol einer scheinbaren gesellschaftlichen Norm. Die Abweichung von ihr kann als "wahnsinnig" gedeutet werden.

Ist vehementer Säkularismus antisemitisch?

Die Forderung nach säkularen, vermeintlich neutralen Werten ist nicht per se antisemitisch und in ihrem Anspruch auf gesellschaftliche Gleichbehandlung auch nicht zu verdenken. Betrachtet man aber das zugrundeliegende Ideal eines vermeintlich neutralen Staats- und Gesellschaftsgebildes im Zusammenhang mit dem Narrativ des Säkularismus und später auch des Antisemitismus, so stellt man schnell fest, dass gesellschaftliche Normen in vielen Fällen in engem Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Interessen entstehen. Auch wenn es in der Debatte diskursiv um Menschenrechte und "um das Wohl des Kindes" ging, so muss doch gefragt werden, welche Motivationen – unbewusst oder bewusst – sich hinter der explizit formulierten Forderung, das jüdische (oder auch das muslimische) Kind vor dem religiösen Einfluss seiner Eltern zu schützen, verbergen.

Die Aussage, dass "die Religionen anders interpretiert werden müssen, um sie mit modernen Verfassungswerten in Einklang zu bringen" ist eine zunächst plausible Forderung, im Hinblick auf den Kontext der Entstehung von säkularen Nationalstaaten jedoch zweifelhaft: Nicht nur, weil diese Aussage die kontextspezifischen Verhältnisse des Säkularitätsprojekts außer Acht lässt, sondern auch, weil die Moderne selbst einen Verfassungsstaat konstruiert, der Ambivalenzen bewusst ausräumen will. Die Forderung nach Anpassung der Religion an moderne Normen verkennt die Idiosynkrasie der Religion. Wenn "die säkularen Normen für alle Menschen gelten müssen", so ist diese Aussage auch in Verbindung mit ihrer eurozentrischen Entstehungsgeschichte zu sehen. Wenn wir das säkulare Narrativ, das hier benutzt wird, im Lichte von Foucaults und Asads Kritik betrachten und sowohl in seiner christlichen Tradition als auch als Klassifizierung und Ordnungspraxis verstehen, so könnte diese Aufforderung der Konformität an säkulare Normen als "Konversion" verstanden werden, die "der Fremde" zu erbringen hat.

Wenn sich dies auf die jüdische Tradition bezieht, so entsteht in der Referenz auf liberal-demokratische Werte nicht nur eine Degradierung des Religiösen, sondern durch den Fokus auf die jüdische Religion auch ein subtiler antisemitischer Code. Dieser ist in der Antisemitismus-Forschung ein bekanntes Phänomen: Schon die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bemerkten, dass "nicht erst das antisemitische Ticket antisemitisch sei, sondern die Ticketmentalität überhaupt". Das Festhalten an einer binären Struktur von religiös und säkular symbolisiert die Vermeidung von Ambivalenzen und Differenzierungen, zum Beispiel die Reflexion über mögliche und faktische Konsequenzen, die das Verbot der Beschneidung haben könnte – nämlich die aktive Hemmung freier Entfaltung jüdischen Lebens in Deutschland.

Das Argument, dass "auch die Juden sich den modernen Normen anpassen müssen", wurde von jüdischen Vertreterinnen und Vertretern als Einstellung empfunden, dass "die Schonzeit der Shoah nun vorüber sei". Dieser Interpretation folgend lässt sich die säkularistische Forderung als Ausdruck eines latenten sekundären Antisemitismus betrachten: Die Normen der Moderne dürfen keine Ausnahmen mehr haben, sondern müssen für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen gelten. Wenn dieses Narrativ allerdings essenziell christlich geprägt ist, wirft dies die Frage auf, ob die Forderungen der Säkularisten nicht sogar auf ein urchristlich geprägtes Unbewusstes schließen lassen.

Die in der Studie befragten christlichen Vertreter gingen allerdings mit der öffentlichen Haltung der Kirchen konform, die sich gegen das Verbot aussprachen. Die Forderung, das Ritual der Taufe in gleicher Weise zu diskutieren, da es Konsequenzen für das Individuum habe, kam nicht etwa von einem säkularen, sondern von einem christlichen Theologen. Er betonte, dass es gerade die Selektion der Rituale sei, um die ein gesellschaftliches Aufheben gemacht werde, die auf Xenophobie und Diskriminierung, wenn nicht sogar Antisemitismus schließen lasse. Die befragten Säkularisten wiederum äußerten in der Studie auch Kritik an christlichen Institutionen, so beispielsweise an den Diskriminierungspraktiken der katholischen Kirche in Bezug auf Frauen.

Die in der Studie laut werdende Forderung, "dass das Judentum einer Emanzipation bedürfe", suggeriert zum einen die Auffassung von der Rückständigkeit der Religion, zum anderen kommt sie alten antisemitischen Mustern, die von einer Auffassung geprägt sind, dass die jüdische Tradition nicht zu den Normen und Standards der Moderne passe, gefährlich nahe. Mit den Worten Zygmunt Baumans wären die Juden somit noch immer die "agents of chaos and disorder".

Der säkulare Diskurs, der zunächst neutral erscheint, kann durch eine bestimmte Vehemenz eine Ebene erreichen, die die Möglichkeit zur Reflexion gesamtgesellschaftlicher Umstände ausblendet. Auch säkulare Normen entstanden nicht in einem sozialen Vakuum, sowie auch die Forderungen ihrer vehementen Verfechter in einem speziellen sozial-historischen Terrain formuliert werden. Von diesem gesellschaftlichen Terrain hatte man zu hoffen gewagt, dass es die Konsequenzen von Essentialisierungen aufgrund bestimmter religiöser und ethnischer Zugehörigkeit im kulturellen Gedächtnis eingebrannt und schließlich überwunden habe.

Ein Fazit

Die Forderung, dass ein demokratischer Rechtsstaat allgemeiner Regelungen zum Schutze des Individuums bedarf, sei unbestritten. Der internationale Diskurs säkularer Ordnung, der in einem christlich geprägten Kontext entstand, scheint jedoch eine Argumentation zu ermöglichen, die in ihrer Referenz auf rechtsstaatliche Ordnung und Neutralität gegenüber dem Irrationalen, Religiösen eine scheinbar allgemein akzeptierte Möglichkeit schafft, das Andere kategorisch abzuwerten.

In dem Moment, in dem vehemente säkularistische Forderungen ausschließlich semitische Religionen in ihrer Existenz und Grundlage angreifen, wird eine uralte Praxis, "die Juden" als Andere außerhalb der etablierten Norm existierend zu betrachten, in einem scheinbar legitimen Kontext reaktiviert – sei es unbewusst oder bewusst. Dies hat zur Folge, dass "der Jude" in eine Kategorie an sich eingeordnet und ihm zudem die Rolle eines Missachters der Menschenrechte zugeschrieben wird. Individuelle Unterschiede im Umgang mit der Religion und ihren Traditionen werden somit kategorisch ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass dieser Diskurs ein scheinbar allgemein gültiges Verständnis der Würde des Menschen vermittelt, das als Grundlage zur Abwertung abweichender Auffassungen benutzt wird und somit Connollys Kritik der "conceits of secularism" zu bedienen scheint.

In einer pluralistischen Gesellschaft sollte die Möglichkeit der Diskussion und des Hinterfragens religiöser Rituale nicht in Zweifel gezogen werden. Allerdings – und darin liegt die Korrelation zwischen Säkularismus und Antisemitismus – muss ein Bewusstsein für die Kontingenz der Begriffe, mit denen so vehement diskutiert wird, in ihrer historischen Entstehungsphase geschaffen werden. Die Kritik Foucaults ermöglicht eine kritische Reflexion der Machtverhältnisse und damit einhergehender Diskurse, die mit der Erlangung von Wissen geschaffen werden. Im Wissen um Baumans These sollte die Referenz auf "moderne" Errungenschaften und die vehemente Verteidigung dessen – speziell im deutschen, aber auch im internationalen Kontext – immer auch eine alarmierende Wirkung haben. Alarmierend nicht als Notintervention zum Schutz der jüdischen Minderheit im Sinne von identity politics, sondern im Sinne einer Signalfunktion nach kritischer Reflexion über Religion und, im Idealfall, einer Aufweichung binärer Strukturen und der Akzeptanz von Ambivalenzen, ohne die eine pluralistische Demokratie nicht auskommt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Pippa Norris/Ronald Inglehart, Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004.

  2. Vgl. Saba Mahmood/Talal Asad/Judith Butler, Is Critique Secular?, Berkeley 2009; Saba Mahmood, The Politics of Piety, Princeton 2004.

  3. Der Begriff des "Anderen" als Prozess des othering wurde in jüngster Vergangenheit besonders von Chakravarty Spivak geprägt und bezeichnet die Hervorhebung des Selbst in der Klassifizierung des Andersartigen, Fremden, das auch geprägt wurde durch Edward Said, Orientalism, London 2003 (1978).

  4. Das Säkulare ist hier bewusst markiert, um die Infragestellung des Begriffs zu markieren.

  5. Vgl. Johannes Zenk, New Atheism in Germany, in: Approaching Religion, 2 (2012) 1, S. 36–51.

  6. Vanessa Rau, Revisiting (Inter-)national Secularism – The Politics of Secularism and the German Controversy on Ritual Circumcision, Work in Progress, 2014.

  7. Die Referenz bezieht sich auf Immanuel Kant und "das Ding an sich" als Teil seiner Erkenntnistheorie, die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel stark kritisiert wurde. Hier soll lediglich auf diesen Dissens zwischen Essenz und Akzidenz (äußere Umstände und Auffassungen) verwiesen werden. Vgl. Immanuel Kant, Prologomena, Hamburg 2001 (1783).

  8. Die "Abwertung der Anderen" ist ein von Andreas Zick et al. geprägter Begriff. In gleichnamiger Studie wird die gruppenbezogene Abwertung in acht europäischen Staaten verglichen. Der Fokus richtet sich vorwiegend auf Homophobie, Xenophobie und Rassismus und steht unter der Annahme, dass eine gruppenbezogene Abwertung stets auch ein Nährboden für andere Abwertungen ist. Vgl. Andreas Zick/Beate Küpper/Andreas Hövermann, Die Abwertung der Anderen. Eine Europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung, Berlin 2011.

  9. In einer Umfrage des Emnid-Instituts hielten 56 Prozent der Deutschen das Urteil für richtig, 35 Prozent für nicht richtig, und 10 Prozent hatten keine Meinung dazu. Vgl. Verbot der Beschneidung. Juden und Muslime fordern Korrektur des Urteils, 21.7.2012, Externer Link: http://www.focus.de/politik/deutschland/verbot-der-beschneidung-juden-und-muslime-fordern-korrektur-des-urteils_aid_775212.html (4.6.2014).

  10. Siehe Anm. 7. Gleiche Fragestellung bezieht sich auf die Menschenrechte.

  11. Vgl. Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung, 4 (1949), S. 754–770. Hier schreibt Arendt: "Wenn die Menschenrechte wirklich den Grundstein der Verfassungen aller zivilisierten Länder bildeten, dann mußten die variierenden Gesetze der Staatsbürger der verschiedenen Länder das unabdingbare Recht des Menschen, das an sich als von Staatsbürgerschaft und nationaler Zugehörigkeit unabhängig konzipiert worden war, in sich verkörpern und konkretisieren."

  12. José Casanova, The Secular, Secularizations and Secularisms, in: Craig Calhoun/Mark Juergensmeyer/Jonathan van Antwerpen (Hrsg.), Rethinking Secularism, Oxford 2011, S. 54–74, hier: S. 56.

  13. Vgl. ebd.

  14. Vgl. Goran Therborn, Different Roads to Modernity and Their Consequences: A Sketch, in: Manuela Boatca et al. (Hrsg), Decolonizing European Sociology, Farnham 2010, S. 71–84.

  15. Zweifelsohne können der Liberalismus und dessen Entstehung nicht auf ein singuläres Ereignis zurückgeführt werden und erstrecken sich Formierung und diskursive Ausbreitung über weite Zeitspannen.

  16. In "The End of History and the Last Man" beispielsweise geht der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama davon aus, dass liberale Demokratien die höchste Stufe von Regierungsformen sind und gepaart mit einer kapitalistischen ökonomischen Ordnung ein Ziel soziopolitischer Entwicklung. Trotz ihrer in vieler Hinsicht problematischen Aspekte zeigt die Perspektive Fukuyamas die diskursive Verknüpfung von liberalen Werten und Maximen wie Freiheit und Individualität, die durch Demokratie und kapitalistische Ordnung ermöglicht werden. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1993.

  17. Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Stuttgart 1988 (1920); Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 2007 (1912).

  18. William Connolly, Why I Am Not a Secularist, Minneapolis 1999, S. 19.

  19. Vgl. Regierung will Beschneidung per Gesetz regeln, 13.7.2012, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/reaktion-auf-urteil-regierung-will-beschneidung-per-gesetz-regeln-1.1411701 (10.6.2014).

  20. Siehe zur Geschichte des Antisemitismus auch den Beitrag von Gideon Botsch in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  21. Vgl. Goran Therborn, Three Epochs of European Antisemitism, in: European Societies Editorial, 14 (2) 2012, S. 161–156.

  22. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass Marrs Ressentiment sich auch auf einen wirtschaftlichen Liberalismus bezog, der für ihn durch ein kapitalinteressiertes Judentum personifiziert wurde. Vgl. Wilhelm Marr, Siege des Germanenthums über das Judenthum, Bern 1879.

  23. Vgl. Lars Rensmann/Klaus Faber, Philosometismus und Antisemitismus: Reflexionen zu einem ungleichen Begriffspaar, in: Irene A. Diekmann/Elke-Vera Kotowski (Hrsg.), Geliebter Feind, gehasster Freund. Philosemitismus und Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2009, S. 73–94.

  24. Vgl. ebd.

  25. Vgl. Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence, London 1993; ders., Modernity and the Holocaust, Cambridge 1999.

  26. In der Psychologie wird der Begriff der Ambivalenz entscheidungshemmend aufgefasst. Vgl. Eva Jaeggi, Ambivalenz, in: Andrea Schorr (Hrsg.), Handwörterbuch der Angewandten Psychologie, Bonn 1993, S. 12–14.

  27. Vgl. Michel Foucault, What is Enlightenment?, in: Paul Rabinow (Hrsg.), The Foucault Reader, New York 1984, S. 32–50.

  28. Vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973; ders., Die Geburt der Klinik, Frankfurt/M. 2011; ders. (Anm. 26); ders., Analytik der Macht, Frankfurt/M. 2005.

  29. Vgl. Talal Asad, Formations of the Secular, Stanford 2003.

  30. Vgl. Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1966, S. 299–300.

  31. In diesem Fall ist "wahnsinnig" keine normative Bezeichnung, sondern übernimmt nur Foucaults Trennung als Abweichung eines durch Wissen(-schaft) etablierten Standards.

  32. Auch dieses Zitat stammt aus meiner Studie und wurde von einem säkularen Vertreter formuliert. V. Rau (Anm. 6).

  33. Ebd.

  34. Ebd.

  35. Vgl. L. Rensmann/K. Faber (Anm. 23).

  36. Theodor Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung Frankfurt/M. 1969, S. 200.

  37. V. Rau (Anm. 6).

  38. Vgl. Theodor W. Adorno, Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: ders., Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/M. 1970, S. 105–133; Lars Rensmann/Julius H. Schoeps, Feindbild Judentum – Antisemitismus in Europa, Berlin–Brandenburg 2008.

  39. V. Rau (Anm. 6).

  40. Z. Bauman (Anm. 25), S. 50.

  41. Identity politics bezeichnet die politische Aktivität und politische Allianz in Referenz auf die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer kulturellen, religiösen oder sozialen, oftmals marginalisierten Minderheit. Vgl. Oxford Dictionary, Oxford 2014, Externer Link: http://www.oxforddictionaries.com/definition/english/identity-politics?q=identity+politics (18.6.2014).

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Vanessa Rau für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

M.A., geb. 1986; Doktorandin Sozialwissenschaften/Ethnologie an der Humboldt Universität zu Berlin. E-Mail Link: vanessa.rau@cantab.net