Religion polarisiert, insbesondere wenn es um ihre Rolle und Präsenz im öffentlichen Raum liberaler Demokratien geht. Das mag in Anbetracht der Säkularisierungsthese, die einst mit den Vätern der Soziologie entstand und einen Rückgang der Religionen mit zunehmendem technischen Fortschritt und Industrialisierung in der Moderne prognostizierte, zunächst überraschen.
Die vehemente Forderung nach säkularen Prinzipien oder nach Säkularismus – zu verstehen als politisches Projekt der Säkularität – taucht in verschiedenen gesellschaftlichen Debatten auf, wie beispielsweise in der Kontroverse um rituelle Beschneidung, die 2012 auf ein Urteil des Kölner Landgerichts folgte. Dieses entschied, dass die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Jungen aus religiösen Gründen eine strafbare Körperverletzung darstellt. Ein Vertreter einer humanistischen Initiative in Deutschland und Gegner des religiösen Rituals beurteilte die Situation wie folgt: "Es sind die Rechte von Kindern, die wir vor religiösen Übergriffen verteidigen. Die heiligen Schriften (die diese Vorgabe machen) können doch gar nicht die Standards unserer Zeit erreichen oder denen entsprechen. Sie wurden vor 2000 Jahren geschrieben und standen an anderen zivilisatorischen Prozessen. Man könnte wenigstens versuchen, die religiösen Werte mit den säkularen kompatibel zu machen, denn säkulare Prinzipien müssten für alle Bürger gelten!"
Diese Aussage stammt aus einer qualitativen Studie zur Debatte um das Beschneidungsurteil, in der ich religiöse und nicht-religiöse Vertreter hinsichtlich ihrer Überzeugungen und Positionen in der Debatte und ihrem Verständnis von gesellschaftlicher Säkularität befragt habe.
Die säkulare Forderung wurde in der öffentlichen Debatte insbesondere von Ärzt(inn)en, Jurist(inn)en und nicht zuletzt von humanistischen Verbänden übernommen, die unter Berufung auf die Menschenrechte, das Kindeswohl und das Recht auf körperliche Unversehrtheit für ein gesetzliches Verbot des Rituals plädierten. Diese zunächst zu befürwortenden Forderungen stießen gesellschaftlich auf große Resonanz: Eine Umfrage zeigte, dass eine Mehrheit der Deutschen dem Urteil zustimmten.
Ein Narrativ des Säkularismus
Um diese mögliche Überschneidung nachvollziehbar zu machen, muss man sich zunächst ihrer Herkunft und Geschichte, insbesondere dem sogenannten Narrativ des Säkularen im gesellschaftlichen Diskurs, widmen. Obgleich sich Säkularität als politisches Projekt in der Moderne etabliert hat, ist es ursprünglich als theologische Kategorie entstanden, die saeculum als profane, weltliche Zeit in den Gegensatz zu sakraler, göttlicher Zeit setzte. Die originäre Bedeutung des Begriffs war "etwas weltlich zu machen".
Obwohl die Entstehung eines vehementen, der Religion aversiv gegenüberstehenden "Säkularismus" nicht auf die Ereignisse der französischen Revolution reduziert werden kann, so sind die von ihr ausgehenden Aushandlungsprozesse doch entscheidend für die Etablierung der "grand narratives of modernity",
Qua diesem Narrativ bilden eine säkulare Staatsordnung sowie ein säkularer öffentlicher Raum Meilensteine auf dem Weg in die Moderne. Eine unzureichende Umsetzung wird mit Rückständigkeit des Staates, der Gesellschaft oder des Individuums assoziiert. Damit wird eine hierarchische Bewertung ermöglicht, die der Politikwissenschaftler William Connolly mit "conceits of secularism" beschreibt.
Antisemitismus – Produkt der Moderne
Obwohl der Begriff des Antisemitismus in seiner soziologischen Analysefähigkeit umstritten ist, so ist ein Blick auf die Entstehung des historischen Phänomens
Für den Soziologen Zygmunt Bauman wird der Holocaust erst durch gewisse Prädispositionen der Moderne möglich gemacht: Rationalisierung, Bürokratisierung, vor allem aber durch das Bestreben der Moderne, Ambivalenzen auszuräumen. Das Prinzip der Staatsbürgerschaft, so Bauman, basiere auf einem traditionellen Freund-Feind-Bild, das eine Art gesellschaftlicher Ordnung ermögliche, die Uniformität fördert und Widersacher strategisch bekämpft.
Eine alternative Lesart
Mit seiner radikalen Vernunftkritik nach Friedrich Nietzsche stellt Michel Foucault die Möglichkeit von Neutralität und die absoluten Ansprüche des Projekts der Moderne grundsätzlich in Frage. Der französische Philosoph lehnt es ab, die Geschichte der Menschheit als kontinuierlichen progressiven Weg emanzipatorischer Vernunft zu betrachten, der schließlich teleologisch zu einem gesellschaftlichen Optimum führt und auf das vermeintliche Wissen vorhergehender Generationen aufbaut. Für Foucault ist alles erlangte Wissen kontextspezifisch und entsteht in diskursiven Strukturen, die wiederum in Machtverhältnisse eingebettet sind. Die Möglichkeit universalen Wissens und allgemeingültiger Wahrheiten von universaler Anwendbarkeit, wie etwa bei Kant, ist für Foucault ein Irrglaube.
In seinen Schriften "Wahnsinn und Gesellschaft" und "Geburt der Klinik" beschreibt Foucault, wie modernes Wissen – medizinisch, naturwissenschaftlich, pädagogisch – etabliert wird, und dies in der Folge eine allgemein akzeptierte Klassifizierung von Normalität beziehungsweise "Wahnsinn" ermöglicht. Diejenigen außerhalb der Norm sind nicht nur "wahnsinnig", sondern auch anfällig für gesellschaftliche Herrschaft über sie.
In Anlehnung an Foucault argumentiert der Anthropologe Talal Asad nicht nur, dass allein die Definitionen von Religion inhärent eurozentristisch seien, sondern auch, dass existierende Diskurse über die Religion das Religiöse als etwas gesellschaftlich und politisch Überflüssiges darstellen. Auch seien Diskurse von Menschenrechten, Gleichheit, Freiheit und modernen Formen der Staatsbürgerschaft von einem spezifischen Verständnis des Säkularen geprägt. Da die Menschenrechte zumeist gesetzlich geschützt werden, wird der moderne Staat ihr wichtigster Verfechter und das Individuum im Gegenzug verpflichtet, ihn als Autorität anzuerkennen. Der Staat übernimmt somit die Funktion, das Individuum gegen mögliche Feinde seiner menschlichen Rechte zu verteidigen.
In dieser Funktion macht sich der moderne säkulare Staat zur Aufgabe, die körperliche Unversehrtheit des Individuums zu schützen. Asad sieht dieses Verständnis des Schutzes in engem Zusammenhang mit einem modernen Verständnis eines unversehrten Körpers. Der moderne Rechtsstaat verspricht dem Individuum die Garantie des unversehrten Körpers, denn Schmerz, Körperverletzung und körperliches Leiden werden mit Rückständigkeit und externer Kontrolle assoziiert.
Während dies zweifelsohne eine Errungenschaft ist, verweist Asad gleichermaßen darauf, dass der Diskurs um körperliche Unversehrtheit eher selektiv angewandt wird. Wie würde man sonst den Einsatz von Soldaten rechtfertigen, die für bestimmte Werte – Freiheit, Demokratie und Menschenrechte – ihre körperliche Unversehrtheit, wenn nicht sogar ihr Leben opfern und eventuell anderen das Leben nehmen? Dies lässt vermuten, dass der säkulare Rechtsstaat durchaus verschiedene Kriterien bei der Bewertung anwendet. In der Beschneidungsdebatte jedoch war es nicht der deutsche Staat, der diesen Diskurs laut werden ließ, sondern vielmehr seine nicht-religiösen, säkularen Bürger(innen), die das Beschneidungsritual, in Anlehnung an den Diskurs körperlicher Unversehrtheit, als antimoderne Markierung des Anderen deuten wollten. Die männliche Vorhaut wird somit – und das ist keine historische Neuheit – zum Symbol einer scheinbaren gesellschaftlichen Norm. Die Abweichung von ihr kann als "wahnsinnig" gedeutet werden.
Ist vehementer Säkularismus antisemitisch?
Die Forderung nach säkularen, vermeintlich neutralen Werten ist nicht per se antisemitisch und in ihrem Anspruch auf gesellschaftliche Gleichbehandlung auch nicht zu verdenken. Betrachtet man aber das zugrundeliegende Ideal eines vermeintlich neutralen Staats- und Gesellschaftsgebildes im Zusammenhang mit dem Narrativ des Säkularismus und später auch des Antisemitismus, so stellt man schnell fest, dass gesellschaftliche Normen in vielen Fällen in engem Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Interessen entstehen. Auch wenn es in der Debatte diskursiv um Menschenrechte und "um das Wohl des Kindes"
Die Aussage, dass "die Religionen anders interpretiert werden müssen, um sie mit modernen Verfassungswerten in Einklang zu bringen"
Wenn sich dies auf die jüdische Tradition bezieht, so entsteht in der Referenz auf liberal-demokratische Werte nicht nur eine Degradierung des Religiösen, sondern durch den Fokus auf die jüdische Religion auch ein subtiler antisemitischer Code.
Das Argument, dass "auch die Juden sich den modernen Normen anpassen müssen", wurde von jüdischen Vertreterinnen und Vertretern als Einstellung empfunden, dass "die Schonzeit der Shoah nun vorüber sei".
Die in der Studie befragten christlichen Vertreter gingen allerdings mit der öffentlichen Haltung der Kirchen konform, die sich gegen das Verbot aussprachen. Die Forderung, das Ritual der Taufe in gleicher Weise zu diskutieren, da es Konsequenzen für das Individuum habe, kam nicht etwa von einem säkularen, sondern von einem christlichen Theologen. Er betonte, dass es gerade die Selektion der Rituale sei, um die ein gesellschaftliches Aufheben gemacht werde, die auf Xenophobie und Diskriminierung, wenn nicht sogar Antisemitismus schließen lasse.
Die in der Studie laut werdende Forderung, "dass das Judentum einer Emanzipation bedürfe", suggeriert zum einen die Auffassung von der Rückständigkeit der Religion, zum anderen kommt sie alten antisemitischen Mustern, die von einer Auffassung geprägt sind, dass die jüdische Tradition nicht zu den Normen und Standards der Moderne passe, gefährlich nahe. Mit den Worten Zygmunt Baumans wären die Juden somit noch immer die "agents of chaos and disorder".
Der säkulare Diskurs, der zunächst neutral erscheint, kann durch eine bestimmte Vehemenz eine Ebene erreichen, die die Möglichkeit zur Reflexion gesamtgesellschaftlicher Umstände ausblendet. Auch säkulare Normen entstanden nicht in einem sozialen Vakuum, sowie auch die Forderungen ihrer vehementen Verfechter in einem speziellen sozial-historischen Terrain formuliert werden. Von diesem gesellschaftlichen Terrain hatte man zu hoffen gewagt, dass es die Konsequenzen von Essentialisierungen aufgrund bestimmter religiöser und ethnischer Zugehörigkeit im kulturellen Gedächtnis eingebrannt und schließlich überwunden habe.
Ein Fazit
Die Forderung, dass ein demokratischer Rechtsstaat allgemeiner Regelungen zum Schutze des Individuums bedarf, sei unbestritten. Der internationale Diskurs säkularer Ordnung, der in einem christlich geprägten Kontext entstand, scheint jedoch eine Argumentation zu ermöglichen, die in ihrer Referenz auf rechtsstaatliche Ordnung und Neutralität gegenüber dem Irrationalen, Religiösen eine scheinbar allgemein akzeptierte Möglichkeit schafft, das Andere kategorisch abzuwerten.
In dem Moment, in dem vehemente säkularistische Forderungen ausschließlich semitische Religionen in ihrer Existenz und Grundlage angreifen, wird eine uralte Praxis, "die Juden" als Andere außerhalb der etablierten Norm existierend zu betrachten, in einem scheinbar legitimen Kontext reaktiviert – sei es unbewusst oder bewusst. Dies hat zur Folge, dass "der Jude" in eine Kategorie an sich eingeordnet und ihm zudem die Rolle eines Missachters der Menschenrechte zugeschrieben wird. Individuelle Unterschiede im Umgang mit der Religion und ihren Traditionen werden somit kategorisch ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass dieser Diskurs ein scheinbar allgemein gültiges Verständnis der Würde des Menschen vermittelt, das als Grundlage zur Abwertung abweichender Auffassungen benutzt wird und somit Connollys Kritik der "conceits of secularism" zu bedienen scheint.
In einer pluralistischen Gesellschaft sollte die Möglichkeit der Diskussion und des Hinterfragens religiöser Rituale nicht in Zweifel gezogen werden. Allerdings – und darin liegt die Korrelation zwischen Säkularismus und Antisemitismus – muss ein Bewusstsein für die Kontingenz der Begriffe, mit denen so vehement diskutiert wird, in ihrer historischen Entstehungsphase geschaffen werden. Die Kritik Foucaults ermöglicht eine kritische Reflexion der Machtverhältnisse und damit einhergehender Diskurse, die mit der Erlangung von Wissen geschaffen werden. Im Wissen um Baumans These sollte die Referenz auf "moderne" Errungenschaften und die vehemente Verteidigung dessen – speziell im deutschen, aber auch im internationalen Kontext – immer auch eine alarmierende Wirkung haben. Alarmierend nicht als Notintervention zum Schutz der jüdischen Minderheit im Sinne von identity politics,