Entgegen weit verbreiteter Annahmen, wie man sie auch im Zuge des hundertjährigen Gedenkens an den Beginn des Ersten Weltkrieges gerade immer wieder lesen und hören kann, waren die Jahrzehnte vor 1914 keine Friedenszeit, das Deutsche Kaiserreich keine Friedensmacht. Seit der Gründung eigener Kolonien in den Jahren 1884/1885 wurden immer wieder koloniale Kriege ausgefochten, da die Schutzgebiete meist mühsam militärisch erobert und lokaler Widerstand gegen die Fremdherrschaft von Anfang an mit militärischer Gewalt gebrochen werden musste.
Da die Kriege erst 20 Jahre nach der kolonialen "Inbesitznahme" stattfanden, erschienen sie den europäischen Zeitgenossen wie "Aufstände" gegen ein als legitim erachtetes politisches System. Aus Sicht der afrikanischen Bevölkerung dagegen waren es Auseinandersetzungen mit landfremden Invasoren. Sie begannen zu einem Zeitpunkt, als das Eingreifen des kolonialen Staates in die Lebenswirklichkeit seiner kolonialen Untertanen immer stärker spürbar geworden war. Der Begriff des "Aufstandes" sollte deshalb vermieden werden, da er einseitig die Perspektive der Kolonialmacht wiedergibt. Es handelte sich vielmehr um Kriege, in der sich die koloniale Bevölkerung keineswegs automatisch in einer widerrechtlichen Position gegenüber einer rechtmäßigen – kolonialen – Ordnung befand; die zahlreichen Widerstandsaktionen zeigen, dass die koloniale Herrschaft nicht als rechtmäßig angesehen wurde.
Legitim war diese nur insofern, und nur aus europäischer Sicht, als der koloniale Anspruch der europäischen Mächte, hier des Deutschen Reiches, von den anderen kolonialen Mächten als berechtigt angesehen wurde. Dies lässt sich sehr gut an der Berliner Westafrika-Konferenz (1884/1885) studieren, auf der auf Einladung des deutschen Kanzlers Otto von Bismarck vor allem europäische Mächte über Interessenssphären in Afrika und Regeln, wie diese zur Vermeidung eines innereuropäischen Konfliktes gegenüber anderen europäischen Mächten angemeldet werden könnten, diskutierten. Vertreter der der Kolonialherrschaft unterworfenen Menschen waren nicht anwesend.
Deutsche Herrschaft in Südwestafrika
Südwestafrika war 1884 deutsches Schutzgebiet geworden, und Kolonialverwaltung wie Siedler wogen sich nach anfänglichen militärischen Auseinandersetzungen zur Jahrhundertwende in dem trügerischen Glauben, die eigene Herrschaft stabilisiert zu haben.
Zur wichtigsten Stütze der sich etablierenden deutschen Kolonialmacht wurde Samuel Maharero, der "Oberhäuptling" der Herero. Ein institutionalisiertes Oberhaupt gab es im Grunde nicht, zumal sich die Herero erst 30 Jahre vorher von der Herrschaft der kurz nach 1800 aus der Kapregion nach Südwestafrika eingewanderten Orlam befreit hatten. Dabei waren sie angeführt worden von Maharero, dem Vater Samuel Mahareros, der deshalb eine gewisse Vorrangstellung einnehmen konnte. Als Maharero 1890 starb, entstand ein Machtvakuum, in dem mehrere mögliche Erben um die Oberherrschaft stritten. Samuel Maharero kam dafür in der matrilinearen Erbfolge der Herero nicht infrage, wusste aber als getaufter Christ, dass in Deutschland Rang und Besitz meist über die väterliche Linie vererbt wurden. Unter Verweis auf seine patrilinearen Erbansprüche brachte er die in Okahandja, dem Hauptort der Herero, ansässigen Missionare und Kaufleute dazu, seine Ambitionen auf die Nachfolge seines Vaters zu unterstützen. Mit der militärischen Hilfe seitens des zweiten deutschen Reichskommissars, Curt von François, konnte er diese Ansprüche schließlich auch durchsetzen, hatte sich damit aber in eine folgenreiche Abhängigkeit von der deutschen Kolonialmacht begeben.
Hatte sein Vater 1888 noch den ersten deutschen Reichskommissar, Heinrich Göring, aus seinem Territorium verjagt, so war Samuel Maharero nun auf die Deutschen angewiesen. Nur mit ihrer Militärmacht konnte er die Ansprüche der anderen Herero-Granden abwehren und seinen Anspruch auf die Oberherrschaft untermauern. Der Nachfolger von François’, Theodor Leutwein, perfektionierte dieses System. Er stützte Samuel Maharero, und dieser stellte nicht nur Soldaten zur Unterstützung gegen andere afrikanische Führer bereit, sondern sorgte auch dafür, dass mehr und mehr Hereroland an deutsche Siedler beziehungsweise den kolonialen Staat verkauft wurde. Und was fast noch wichtiger war: In Ermangelung einer flächendeckenden deutschen Verwaltung sorgte Samuel Maharero (und nicht nur er) dafür, dass sich die Herero den deutschen Wünschen entsprechend verhielten. Afrikanerinnen und Afrikaner unterstanden also zunächst nicht unmittelbar deutschen Gesetzen und Verordnungen, sondern koloniale Wünsche und Vorgaben wurden ihren Großleuten mitgeteilt, die diese dann an ihre Untertanen weitergaben. Dies hatte aus deutscher Sicht auch den Vorteil, dass sich der Zorn der Bevölkerung lange Zeit primär gegen die eigenen Anführer und nicht gegen die kolonialen Herren richtete.
Dennoch erwies sich der Glaube Leutweins, über sein persönliches, dem mittelalterlichen Feudalsystem nachempfundenen Schutz- und Treueverhältnis zu afrikanischen Großleuten eine stabile Herrschaft zu erreichen, als trügerisch. Die (teilweise erzwungene) Kollaboration mit afrikanischen Großleuten unterminierte nämlich deren Stellung in ihren Gesellschaften, vor allem wenn sie beispielsweise im Kollektivbesitz befindliches Land eigenmächtig an Deutsche verkauften.
Zu einer dramatischen Erosion der sozialen Struktur der Herero kam es ab 1897 durch die im gesamten südlichen Afrika wütende Rinderpest.
Durch den direkten Kontakt mit den neuen Herren erfuhren mehr und mehr Herero die inhärenten Ungerechtigkeiten des kolonialen Systems am eigenen Leib. Theodor Leutwein, unterstützt von einer kleinen Gruppe junger, ehrgeiziger Juristen, baute parallel zu seiner "Häuptlingspolitik" zielstrebig die koloniale Verwaltung aus. Seine Politik der indirekten Herrschaft sollte die Afrikaner über das tatsächliche Ausmaß der Veränderungen, welche die Kolonialherrschaft mit sich bringen würde, hinwegtäuschen. Damit sollte die Zeit gekauft werden, die der koloniale Staat benötigte, um sich zu etablieren, und die gebraucht wurde, damit sich die Afrikanerinnen und Afrikaner an die koloniale Herrschaft und die grundlegenden Veränderungen gewöhnten, die diese für sie bedeuteten.
Denn Leutwein und seine junge, radikale Garde wollten nichts Geringeres als die Errichtung eines perfekten, auf Ordnung und Effizienz basierenden Musterstaates auf rassistischer Grundlage. Dieser "Rassenstaat" sollte auf einer deutschen, kolonialen Führungsschicht und einer afrikanischen Unter- oder Helotenschicht basieren. So sollte eine moderne (Großraum-)Wirtschaft entstehen, in der den Afrikanerinnen und Afrikanern nur die Rolle einer "schwarzen Unterschicht" zukam. Politische Mitsprachemöglichkeiten sollte diese nicht haben, um zu verhindern, dass sie sich wie die Arbeiterklasse in Deutschland selbst organisierte.
Übergriffe und Rechtlosigkeit
In diesem rassischen Utopia blieb für afrikanische Selbstbestimmung kein Platz, und damit war eine Konfrontation mit dem kolonialen Staat programmiert. Der Konflikt war auch deshalb unausweichlich, weil die Vorstellung, der kolonisierten Bevölkerung einen sicheren und stabilen, wenn auch marginalen Platz in diesem Utopia zuzuweisen, reine Fiktion war. Innerhalb des kolonialen Systems mit seinem inhärenten Rassismus war ein dauerhafter Schutz der afrikanischen Bevölkerung nicht möglich, vielmehr lud dieses System zu übergriffigem Verhalten ein.
In Südwestafrika zeigte sich das von Anfang an in Betrügereien gegenüber und Misshandlungen von Afrikanerinnen und Afrikanern durch deutsche Siedler und Händler. Die Opfer hatten jedoch kaum Möglichkeiten, ihr Recht einzuklagen: Afrikanische Gerichte waren nicht zuständig, da sie grundsätzlich nicht über "Weiße" Recht sprechen konnten; deutsche Gerichte schenkten afrikanischen Zeugen meist keinen Glauben. Stand also Aussage gegen Aussage, setzte sich nahezu immer der Deutsche durch.
Und Betrügereien gab es viele, vor allem mit Kreditkauf wurde Schindluder getrieben: Deutsche Geschäftsleute verkauften Waren auf Kredit an afrikanische Kunden, welche die Geschäftsform des Kreditkaufes nicht kannten und sich oftmals weit über ihre Möglichkeiten verschuldeten. In der erst in Ansätzen bestehenden Geldwirtschaft hatten sie zudem kaum Möglichkeiten, ihre Schulden zurückzuzahlen. So mussten sie entweder in deutsche Dienste treten oder Vieh oder Land abgeben, wodurch ihre Möglichkeit zum selbstständigen Wirtschaften weiter eingeschränkt wurde. Als das Gouvernement unter Theodor Leutwein die Gefahr erkannte und androhte, gegen die verbrecherischen Kredite vorzugehen, verschärfte das die Krise noch, da alle Gläubiger nun binnen kürzester Zeit versuchten, ihre Außenstände einzutreiben. Die dadurch ausgelöste Pfändungswelle zu Anfang des Jahrhunderts verschärfte die Situation enorm und trug erheblich zum Kriegsausbruch bei.
Wirtschaftsdelikte waren jedoch nicht die einzigen Konflikte zwischen den Neuankömmlingen und der lokalen Bevölkerung. Meist kamen aus Deutschland junge Männer nach Südwestafrika, deutsche Frauen gab es dagegen kaum. Neben einvernehmlichen Beziehungen mit afrikanischen Frauen und Mädchen kam es immer wieder auch zu Vergewaltigungen. Deren Zahl wuchs mit der Zahl der deutschen Einwanderer. Versuchte nun der Vater, Ehemann, Sohn oder Bruder das Opfer zu verteidigen, so machte er sich des Übergriffs auf einen Deutschen schuldig und wurde vor ein deutsches Gericht gezerrt und meist verurteilt. Die Vergewaltiger kamen derweil ungeschoren davon. Über die individuelle Katastrophe der Gewaltverbrechen für die unmittelbaren Opfer hinaus sorgten diese für eine zusätzliche Destabilisierung der afrikanischen Gesellschaften, da die traditionellen Eliten augenscheinlich ihre ureigene Aufgabe, den Schutz von Leib und Leben ihrer Untertanen, nicht mehr gewährleisten konnten.
Kriegsbeginn und Kriegsverlauf
Körperliche Übergriffe, Betrügereien und der Verlust der Rinderherden führten zu einer Delegitimation der traditionellen Autoritäten, sodass jüngere Herero nicht mehr gewillt waren, ihren traditionellen Anführern, allen voran Samuel Maharero, blind zu folgen, sondern diese zum Widerstand drängten. Gegen Ende des Jahres 1903 war die Situation so aufgeladen, dass es nur noch eines Funkens bedurfte, um die Explosion herbeizuführen. Diesen Funken schlug offenbar ein junger deutscher Offizier, ein Leutnant Zürn, seines Zeichens Distriktsamtmann von Okahandja, der mit seinem arroganten Verhalten eine gewalttätige Reaktion der dortigen Herero provozierte.
Innerhalb weniger Tage besetzten die Herero ganz Zentralnamibia mit Ausnahme der Militärstationen und plünderten Siedlungen und Farmen.
Beschritten wurde der Weg zum Genozid unter General Lothar von Trotha, der im Frühjahr 1904 Theodor Leutwein als militärischen Oberbefehlshaber ablöste. Viele Siedler gaben Leutwein die Schuld am Kriegsausbruch: Zu weich sei er gewesen, lautete der Vorwurf, gepaart mit der Angst, dass er wohl auch jetzt die Gunst der Stunde nicht dazu nutzen würde, mit harter Hand durchzugreifen und die Machtfrage ein für alle Mal zu deutschen Gunsten zu lösen. Und in der Tat warnte Leutwein auch in der aufgeheizten Stimmung unmittelbar nach Kriegsbeginn vor allzu radikalen Schritten, etwa vor "unüberlegten Stimmen (…), welche die Hereros nunmehr vollständig vernichtet sehen wollen". Er tat dies allerdings nicht aus humanitären, sondern ökonomisch-rationalen Gründen, denn seiner Meinung nach brauchten die Deutschen die Herero noch als "kleine Viehzüchter und besonders als Arbeiter", ganz abgesehen davon, dass, wie er anmerkte, sich ein Volk von 60.000 bis 70.000 Menschen "nicht so leicht vernichten" lasse. Allerdings sah auch er jedwede politische Autonomie der Herero als verwirkt an: "Politisch tot" solle man sie schon machen, ihre soziale Organisation zerstören und sie in Reservate zurückdrängen, "welche für ihre Bedürfnisse gerade ausreichen" würden.
Leutweins rational-ökonomische Begründung fand jedoch keinen Rückhalt mehr. Mit Lothar von Trotha wurde ein Kolonialkriegsveteran zum Oberbefehlshaber ernannt, der solcher "Milde" unverdächtig war, der weder Land noch Leute kannte, dafür jedoch feste Vorstellungen von einem künftigen "Rassenkrieg" besaß, in dem Afrikaner "nur der Gewalt weichen" würden, und der gewillt war, diese Gewalt "mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit" auszuüben, um so "die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut" zu vernichten.
Nach der aus deutscher Sicht gescheiterten Kesselschlacht am Waterberg Mitte August 1904, als es schätzungsweise 60.000 Herero gelang, der deutschen Umzingelung zu entkommen, setzte er diese Politik in die Praxis um. Die Schutztruppe verfolgte die nach Nordosten Fliehenden und machte erst am Saum der Omaheke-Halbwüste halt, in die die Herero geflohen waren. Von Trotha ließ nun die Wüste abriegeln, indem er die Wasserstellen besetzte und ordnete in seinem berüchtigten "Schießbefehl" vom 2. Oktober 1904 an, diejenigen Herero, die aus dem Trockengebiet zu entkommen versuchten, zurückzutreiben: "Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen (…). Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen", hieß es darin.
Auch wenn Reichskanzler Bernhard von Bülow diesen Befehl einige Wochen später wieder aufhob, so ändert dies nichts an der deutschen Verantwortung, denn zu diesem Zeitpunkt war die Katastrophe bereits geschehen: Man hatte von Trotha das Kommando gegeben und ihn wochenlang gewähren lassen. Grund für die Rücknahme des "Schießbefehls" waren auch nicht humanitäre Überlegungen, sondern strategische: Noch bis zur Schlacht am Waterberg hatten die im Süden des Landes lebenden Nama unter Hendrik Witbooi ihre Pflicht zur militärischen Unterstützung der Deutschen, wie sie vor Kriegsausbruch auch für Samuel Maharero bestanden hatte, erfüllt. Nachdem Nama-Krieger, die bei der Schutztruppe gedient hatten, gesehen hatten, wie brutal die deutsche Armee mit den Herero verfuhr, reifte auch bei ihnen der Entschluss zum Widerstand, zumal nicht wenige Deutsche forderten, nun auch mit den Nama kurzen Prozess zu machen. Aus den Erfahrungen der Herero zogen sie die Lehre, jede offene Feldschlacht zu vermeiden, und führten dagegen einen äußerst erfolgreichen Guerillakrieg, der sich über vier Jahre hinzog. Auch hier antwortete die deutsche Armee mit einer Vernichtungsstrategie, indem sie Brunnen vergiftete und Nahrungsmittel zerstörte. Um den Guerillakämpfern den Rückhalt in der Bevölkerung zu nehmen, wurden auch unbeteiligte Zivilisten in Lager deportiert.
Die Konzentrationslager, so der zeitgenössische Ausdruck, dienten als Kriegsgefangenenlager (zu denen auch Frauen und Kinder gezählt wurden), als Zwangsarbeits- und als Umerziehungslager. In ihnen wurden mit teilweise horrenden Opferzahlen Herero und Nama für ihren Widerstand betraft und zugleich die Überlebenden auf ihr Leben in der neuen Siedlergesellschaft, der "rassischen Privilegiengesellschaft", vorbereitet. Denn weder Herero noch Nama sollten – ging es nach der deutschen Kolonialverwaltung – die vollständige Autonomie über ihr Leben zurückerhalten.
Vielmehr wurde nun die rassische Utopie, die schon Theodor Leutwein und seinen jungen deutschen Helfern vor Augen gestanden hatte, konsequent in die Wirklichkeit umgesetzt. So erließ Gouverneur Friedrich von Lindequist, der als junger Assessor an der Seite Leutweins gedient hatte, 1907 drei "Eingeborenenverordnungen", die die lückenlose Kontrolle aller Afrikanerinnen und Afrikaner ebenso vorsah wie die Einschränkung ihrer Freizügigkeit und ihre möglichst gleichmäßige Verteilung als Arbeitskräfte, orientiert einzig an den Bedürfnissen der kolonialen Wirtschaft. Parallel dazu wurden sexuelle Beziehungen zwischen Afrikanerinnen und Deutschen stigmatisiert und kriminalisiert. Bestehende Ehen wurden – auch gegen den Willen der Beteiligten – annulliert. "Eingeborenenverordnungen" wie "Rassebestimmungen" wirkten Hand in Hand bei der Errichtung des ersten "Rassenstaates" der deutschen Geschichte.
Unaufgearbeitetes Erbe
In zeitgenössischer deutscher Lesart, deren Echo sich auch heute noch im national-konservativen Lager, den Leserbriefspalten der Windhuker "Allgemeinen Zeitung" oder einschlägigen Internetforen findet, hatten Herero und Nama den "Aufstand" mutwillig vom Zaun gebrochen und waren dadurch selbst verantwortlich für ihr Schicksal, sowohl für das in der Omaheke-Halbwüste als auch für das in der Nachkriegszeit erlittene.
Unabhängig von der Frage, wer nun tatsächlich als erster geschossen hat, ignoriert diese Lesart den Unterschied zwischen Anlass und Ursache. Denn die Ursachen lagen – ganz abgesehen von der kolonialen Invasion als solcher – zum einen in den radikalen Plänen der deutschen Kolonialverwaltung zur kompletten sozialen, ökonomischen und politischen Umgestaltung des Schutzgebietes ohne Rücksicht auf die dort lebenden Menschen. Zum anderen lagen sie im Auftreten vieler Deutscher als "Herrenmenschen", wie sich in zahlreichen Betrügereien und Übergriffen wie Mord und Vergewaltigung zeigte, gegen die es im dualen kolonialen Rechtssystem keine Möglichkeit der Bestrafung gab.
Wenn man überhaupt von einer Legitimität der deutschen Kolonialherrschaft ausgeht, dann ist das Verhalten der Herero, und später auch der Nama, als eine Art der Notwehr anzusehen, zum Schutz von Leib und Leben der afrikanischen Bevölkerung und ihrer angestammten Traditionen. Damit soll die Tötung von 123 deutschen Männern nicht kleingeredet werden. Es spricht aber Vieles dafür, dass die Herero, die den Unterschied zwischen Kriegern und Zivilisten nicht kannten, sie als Krieger und damit als legitime Gegner ansahen, die getötet werden durften, während sie Frauen, Kinder und Missionare nicht attackierten. Es sei an dieser Stelle auch darauf hingewiesen, dass im Unterschied zum gängigen Bild von den "primitiven Afrikanern" und den "zivilisierten Europäern" die Herero Frauen und Kinder schonten, währen die deutsche Schutztruppe den Krieg auch gegen Frauen und Kinder führte. Auch der deutsche "Rassenstaat", wie er vor allem nach 1907 etabliert wurde, war keineswegs die Konsequenz des Krieges, also eine Reaktion auf das Verhalten von Herero und Nama, sondern bereits vorher geplant.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Völkermord völkerrechtlich geächtet. Zu den in der UN-Genozidkonvention einzeln aufgeführten Verbrechen gehören das "Töten von Mitgliedern der Gruppe", die "Verursachung schwerer körperlicher oder mentaler Schäden bei Mitgliedern der Gruppe" sowie das bewusste "Auferlegen von Lebensbedingungen für die Gruppe, die darauf abzielten die physische Zerstörung der Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen". Werden diese mit dem Ziel begangen, eine "nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise" zu zerstören, so handelt es sich um Genozid.
Seit geraumer Zeit fordern deshalb Vertreter der Herero, und in jüngerer Zeit auch der Nama, die Anerkennung des Völkermordes seitens der Bundesrepublik Deutschland, eine offizielle Entschuldigung und die Zahlung von Reparationen. Während die Zahlung von Reparationen von deutscher Seite grundsätzlich abgelehnt wurde und wird, schien es in den ersten beiden Punkten zeitweilig Bewegung zu geben. So bat 2004 die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, in Namibia im Namen der Bundesregierung um Vergebung für die Verbrechen der Schutztruppe und gestand ein: "Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde – für den ein General von Trotha heutzutage vor Gericht gebracht und verurteilt würde."
Allerdings ist in jüngster Zeit ein Zurückweichen festzustellen. So kam es 2011 zum Eklat, als bei der Rückführung von 20 menschlichen Überresten aus Namibia, die während des Genozids zu rassenanthropologischen Untersuchungen nach Deutschland geschickt worden waren und von denen schätzungsweise noch mehrere Tausend in deutschen Museen und anthropologischen Sammlungen lagern, kein hochrangiger deutscher Regierungsvertreter bereit war, die namibische Delegation zu empfangen. Überdies vermied es die Vertreterin des Auswärtigen Amtes bei der Übergabezeremonie in der Berliner Charité, offiziell von einem "Völkermord" zu sprechen, wodurch sich die anwesenden namibischen Vertreter brüskiert fühlten.
Noch 2012 lehnte der Bundestag erneut die Anerkennung des Völkermordes ab. Die offizielle Begründung, dass die UN-Konvention erst seit 1948 in Kraft sei und nicht ex post angewendet werden könne, verwundert, denn das würde ja auch bedeuten, dass man etwa den Holocaust nicht als Völkermord anerkennen könnte. Auch 110 Jahre nach dem Genozid hat Deutschland seine Gewaltgeschichte also nicht wirklich vollständig aufgearbeitet und belasten die Ereignisse das Verhältnis zu der ehemaligen Kolonie, in der bis heute rund 20.000 bis 30.000 Menschen leben, die sich als deutsch oder deutschstämmig definieren.
Wie sehr dagegen diese Geschichte in Namibia noch präsent ist, zeigte sich etwa am ersten Weihnachtstag 2013, als der "Windhuker Reiter", 1912 von den deutschen Kolonialherren als Siegesmal im Krieg gegen Herero und Nama aufgestellt, in einer Nacht- und Nebelaktion demontiert wurde. In Namibia geht es dabei aber nicht nur um geschichts- und identitätspolitische Fragen.
Auch wenn es die staatlich sanktionierte Stigmatisierung seit dem Ende der Apartheid und der namibischen Unabhängigkeit nicht mehr gibt, so bleibt die soziale Zurücksetzung bestehen. Diese gründet aber zum nicht geringen Teil in deutschen Entscheidungen aus den Kriegsjahren, wurden doch noch während der Kämpfe die "Stammesorganisationen" der am Krieg beteiligten Herero und Nama aufgelöst, ihr Land und Vieh enteignet. Als Konsequenz daraus besitzen nach wie vor viele "Weiße", nicht wenige davon deutschstämmig, die Mehrzahl der Farmen im Hereroland. Statt wie einst Viehzüchter, sind die Herero heutzutage oftmals Lohnarbeiter. Auch dass die Herero, die um 1900 mit den Ovambo zu den zahlenmäßig stärksten Gruppen des späteren Namibia gehörten, heute auch zahlenmäßig marginalisiert sind, ist ein Resultat des Kriegs und des Genozids, der weder für Herero noch für Nama abgeschlossene Geschichte ist.