Das Zusammentreffen von Archivrevolution
Traditionelle Politikgeschichte im Zeichen des Totalitarismusansatzes
Die Aktenöffnung der DDR-Quellen auf ganzer Breite eröffnete zunächst einmal die Möglichkeit, binnen kurzer Zeit großflächig "Tatsachen" der DDR-Vergangenheit zu entdecken und festzuhalten, etliche der "weißen Flecken" der Kommunismusgeschichte (Hermann Weber) zu beseitigen und mit einigen Legenden aufzuräumen. Es lag daher in der Natur der Sache, dass während der ersten Welle der DDR-Forschungen nach der Archivrevolution ein positivistisches Verständnis historischer Ereignisse vorherrschte, das sich vor allem an den Strukturen und Aktionen des Herrschaftsapparates orientierte. Nur zum Teil verband sich diese fachwissenschaftliche Perspektive mit der sofort nach 1989 einsetzenden Rehabilitierung der Totalitarismustheorie. In den Diskussionen der Enquêtekommissionen des Deutschen Bundestages, in publizistischen Debatten, vor allem auch in den damit verbundenen politikwissenschaftlichen Kontroversen fanden verschiedene Spiel- und Lesarten dieses Konzepts hingegen deutlich breiteren Anklang. Das war vor allem dem postrevolutionären Erfordernis der eindeutigen Entlarvung und Denunzierung des SED-Regimes und der Sowjetherrschaft als eine mit der Nazi-Diktatur grundsätzlich vergleichbare Gewalt- und Willkürherrschaft zu verdanken. Allerdings stand die Abstraktheit dieser Debatte mit ihren Typenbildungen und Strukturmerkmalskatalogen in einer gewissen Spannung zu zahlreichen quellengesättigten Rekonstruktionen, in denen das Attribut "totalitär" eher als rhetorisches Beiwerk fungierte.
Die weitgehend unangefochtene Rede von "der" totalitären Diktatur in den Sonntagsreden der Politikerinnen und Politiker und in den Feuilletons stellt sich rückblickend betrachtet als ein Pseudo-Triumph der Theorien totalitärer Herrschaft heraus, zumindest wenn man die professionelle Erforschung der DDR-Vergangenheit im Fach Geschichte zum Maßstab nimmt. Das ist am allerwenigsten diesen Theorien in ihrer ursprünglichen Ausarbeitung anzulasten. Sie waren als Gegenwartsdiagnosen verfasst worden, um inmitten des welthistorischen Konflikts zwischen liberalen Demokratien und verschiedenen Spielarten extremer Gewaltherrschaft zu seinem tieferen Verständnis beizutragen – und nicht als Gebrauchsanleitungen für deren rückblickende empirisch-historische Erforschung nach dem Ende des Konflikts, das in diesen Theorien in der Regel kaum "vorgesehen" war. Vieles von dem, was an solider Rekonstruktion politischer Herrschaftsgeschichte aus den neu zugänglichen Quellen erarbeitet wurde, ließ sich daher ohne größere Mühe unter dem Dach einer formelhaft verkürzten Lesart dieses Ansatzes platzieren. Das hat eine Reihe verdienstvoller, noch heute lesenswerter Arbeiten zur Herrschaftsgeschichte der DDR entstehen lassen.
Frage nach der DDR als Gesellschaft
Zum Zeitpunkt der Vereinigung spielte die westdeutsche, mittlerweile um geschlechter- und alltagshistorische Ansätze erweiterte Sozialgeschichte in den Beratungsgremien der Wissenschaftspolitik eine tonangebende Rolle und prägte folglich auch den Umgestaltungsprozess der ostdeutschen Universitäts- und Forschungslandschaft. Ihre Vertreterinnen und Vertreter nahmen die Herausforderung an, ihr explizites, sich dezidiert eklektizistisch aus dem Repertoire der Nachbarwissenschaften speisendes Methoden- und Theorieverständnis nun anhand des neuen Forschungsgegenstandes "DDR" weiterzuentwickeln. Den sichtbaren Anfang bildete ein von Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka und Hartmut Zwahr herausgegebener Tagungsband "Sozialgeschichte der DDR"
Sozialgeschichte war in Nachfolge von Marx und Weber immer von einer relativen Autonomie der durch Produktions- und Reproduktionsverhältnisse gestifteten sozialen Beziehungen ausgegangen, um anschließend einen Bezug zur Sphäre des Staates herzustellen. In der staatssozialistischen Diktatur funktionierte es umgekehrt: Alles Soziale schien gemäß dem Herrschaftsanspruch der Monopolpartei und ihrer Ideologie aus dem Politischen abgeleitet.
Als Forschungsprogramm umgesetzt, brachte diese Perspektive bis auf den heutigen Tag eine Fülle an spezialisierten Einzelstudien und Überblicksdarstellungen hervor, die zusammen mit den erwähnten Darstellungen der politischen Institutionen, der Herrschaftsapparate und insbesondere der politischen Opposition in der DDR seit ungefähr Mitte der 2000er Jahre einen vorläufigen "Sättigungsgrad" in Sachen DDR-Forschung zeitigten. Von den behandelten Zeitabschnitten her standen zunächst die frühen DDR-Jahrzehnte bis zum Mauerbau und anschließend bis zum Ende der Ulbricht-Ära im Mittelpunkt, bei einem gleichzeitigen Fokus auf die Geschichte und unmittelbare Vorgeschichte der Friedlichen Revolution. In den vergangenen zehn Jahren rückte zunehmend die dazwischenliegende Zeit der Honecker-Ära in den Mittelpunkt des Interesses, und derzeit wenden sich DDR-Forscherinnen und -Forscher vereinzelt einem Zeitraum zu, der bislang von der "Transformationsforschung" bearbeitet wurde. In Ostdeutschland wie im ehemaligen Ostblock harren die Prozesse der Demokratisierung und des Übergangs zum Kapitalismus einer systematischen Historisierung.
Auch wenn wir jetzt, fast 25 Jahre nach dem Ende der DDR, in der Zeit "nach dem großen Boom" der DDR-Forschung angelangt sind, bleibt im vereinigten Deutschland, im Vergleich etwa mit seinen postkommunistischen Nachbarn, die kommunistische Diktatur im eigenen Land weiterhin ein fester Bestandteil der reflexiven und selbstkritischen Geschichtskultur.
Dennoch: Oberflächlich betrachtet fällt es heute nicht mehr so leicht, Themen oder Bereiche zu benennen, zu denen es noch rein gar nichts "gibt". Wer das Geschäft seit den frühen 1990er Jahren mitverfolgt und -gestaltet hat, dem kommt heute beim Lesen der Rezensionen oder Drittmittelanträge immer öfter das Diktum Karl Valentins in den Sinn, wonach zwar schon alles gesagt sei, aber eben noch nicht von allen. Wir dürfen uns also bei der Beantwortung der Frage, ob die DDR "ausgeforscht" sei, nicht mehr, wie damals, von der Suche nach noch völlig unbekannten Gegenständen und Ereignissen leiten lassen. Was mehr denn je das Innovative in der Forschung ausmacht, ist nicht das einzelne Untersuchungsobjekt, sondern die wissenschaftliche Fragestellung und mit ihr das über die SBZ und die DDR hinausweisende Erkenntnisinteresse. Die DDR als Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsfeld reiht sich nun in die übrigen Gegenstandsbereiche und Epochen der historischen Forschung ein. Wie bei Themen der Frühen Neuzeit oder des 19. Jahrhunderts muss auch bei der DDR jede neue Forscher-Kohorte, von einem umfangreichen wissenschaftlich und kulturell überlieferten Vorwissen ausgehend, immer wieder diejenigen Fragen und Erkenntnisinteressen neu entdecken und formulieren, die für ihre Zeit am bedeutsamsten und aufschlussreichsten sind. Das Argument, dass man X oder Y "in der DDR" erforschen muss, nur weil es noch keiner gemacht hat, zieht nicht mehr. Auf der Ebene der bloßen Tatsachen wird die Wahrscheinlichkeit der unverhofften Überraschungen und der gelüfteten Geheimnisse immer geringer – es sei denn, es tritt das Moment einer aus Gegenwartsinteressen abgeleiteten Fragestellung hinzu, die so noch nicht an Untersuchungsgegenstände der DDR-Forschung herangetragen worden war.
Was bleibt (zu erforschen): DDR als "Fall"
Welche Fragestellungen und Problematiken könnten das sein? Bereits 2003 hat Jürgen Kocka anlässlich der Vorstellung des erwähnten Bilanz-und-Perspektiven-Bandes in einem aufsehenerregenden Vortrag vor einer Selbstisolierung der DDR-Forschung gewarnt.
Was ist hier mit vergleichenden und internationalen Bezügen gemeint?
1. Die sich sofort aufdrängenden Blickrichtungen einer Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte sind der Osten und Südosten, hin zu den anderen ehemaligen kommunistischen Ländern. Auch dort ist die Forschung mittlerweile in etlichen Bereichen so weit, dass mehr möglich ist als jenes für internationale Konferenzen der 1990er und 2000er Jahre typische unverbundene Nebeneinander von Forschungsergebnissen, die mangels konzeptioneller Gemeinsamkeiten nicht zueinander "sprechen" können. Insbesondere das von der Volkswagenstiftung von 2001 bis 2011 aufgelegte Förderungsprogramm "Einheit in der Vielfalt" hat nicht nur die enge Zusammenarbeit deutscher Osteuropahistoriker mit Kollegen in der Region ermöglicht und neue Standards in der Förderung internationaler Forschungsnetzwerke gesetzt, sondern auch zur keineswegs selbstverständlichen Einbeziehung der DDR als Vergleichsfall beigetragen. Die deutschen Forschungen zur DDR-Geschichte genießen in diesen Kooperationen einen exzellenten Ruf, und dies nicht nur unter den Kollegen im erweiterten EU-Raum, sondern auch in den anderen postkommunistischen Ländern. Den "Fall DDR" in derartige Projekte einzubringen, befördert vor allem das systematische Verständnis der je relativen, national bedingten Eigenheiten kommunistischer Regime im Verhältnis zum sowjetischen Modell und deren Bedeutung für das letztendliche Scheitern des kommunistischen Projekts als alternatives Weltsystem. Die Erkenntnischancen dieser Vergleichsperspektive sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
2. In einem weiteren Schritt spricht einiges dafür, die Blickrichtung des Vergleichs auch nach Westen zu richten. Damit meine ich nicht nur die alte Bundesrepublik – dazu unten mehr – sondern durchaus auch das übrige Europa. Die DDR wird in der sozialhistorischen Forschung nicht nur als ein Fall der europäischen Diktaturgeschichte, sondern zugleich als eine Variante moderner Sozialstaatlichkeit diskutiert. Sie war, in noch größerem Umfang als die Sowjetunion selbst, von Ideen und Wertvorstellungen geprägt, die sich um 1900 in der Epoche der europäischen Hochindustrialisierung in der modernen Arbeiterbewegung herausgebildet hatten und auch nach dem leninistischen Schisma in der Fürsorgediktatur (Konrad Jarausch) virulent geblieben waren.
3. Schließlich ist der oft beschworene, aber noch lange nicht ausgereizte innerdeutsche Vergleich anzuführen. Dass die DDR als Gemeinwesen ein Nebenprodukt der Geschichte internationaler Beziehungen war, das nach Wegfall der sowjetischen Bestandsgarantie noch schneller von der Bildfläche verschwand, als es gegründet wurde, ist nur ein Teil davon, obgleich ein wesentlicher. Die innerdeutsche Perspektive hat lange dazu tendiert, in der DDR vor allem das "ganz Andere" der Bundesrepublik zu sehen. Das hat sich etwa in exotisierenden Metaphern wie "sowjetische Satrapie"
Und dennoch: Zivilisatorisch repräsentierte die DDR den "westlichsten" Fall innerhalb des Ostens, weshalb sie bei vergleichenden Forschungen über die sechs Satellitenstaaten häufig als Sonderfall verbucht wird. Sie war mit Sicherheit das kommunistische Land mit den häufigsten und am weitesten ins Innere von Land und Leuten hineinwirkenden Kontakten mit dem Westen, konkret der Bundesrepublik. Für diesen Umstand hat Christoph Kleßmann die treffende Formel der "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte"
DDR in weiter Ferne – und doch so nah
Abschließend bleibt festzuhalten: Der Charme der Entdeckerfreude von Pionieren, die unbekanntes Terrain im eigenen Land erschließen, gehört der Vergangenheit an, unwiderruflich. Gemessen an den damaligen Geländegewinnen sinkt der Grenznutzen der in die DDR-Geschichte investierten Forschungsmittel – ein unvermeidlicher Normalisierungsprozess. Wird damit die DDR als Gegenstand historischer Forschung uninteressant, wird sie endlich eine Fußnote der Weltgeschichte (Stefan Heym)? Meine Prognose lautet: solange man den Blick starr und ausschließlich auf die DDR heftet, nicht rechts und nicht links schaut, und solange dieser Blick in erster Linie durch die gebetsmühlenartig wiederholte Bekräftigung des mittlerweile allgemein Anerkannten, nämlich des Diktaturcharakters der DDR, motiviert ist – ja.
Aber: Die DDR der Quellen ist mehr als der schriftliche Niederschlag einer perfiden und menschenverachtenden Diktatur. Sie ist nicht zuletzt dank der MfS-Überlieferung eine der am dichtesten in Archivquellen dokumentierten modernen Gesellschaften unserer Epoche. Die Fragen, die sich mit diesem Material bearbeiten lassen, weisen weit über die DDR um der DDR willen hinaus, sie betreffen – wie ich an einigen Beispielen aufzuzeigen versucht habe – grundlegende Fragen der Entwicklung moderner Industriegesellschaften, die sich nur in vergleichender und beziehungsgeschichtlicher Perspektive bearbeiten lassen.
Die Friedliche Revolution ist 25 Jahre her, und dennoch – nimmt man den unablässigen Ausstoß an Publikationen, Veranstaltungen und Medienereignissen zum Maßstab – in Deutschland noch ganz "nah". Irgendwann aber geht alles einmal zu Ende, auch die "gefühlte" Nähe zu diesem "Gebilde" des Kalten Krieges. Angesichts der erfolgreichen Eingemeindung der vereinigten Deutschen in das westliche Lager und der EU-Osterweiterung wird die damals durch Deutschland verlaufende Systemgrenze des Kalten Krieges nach und nach ihre identitätsstiftende Sonderstellung einbüßen. Sie wird sich mit anderen, durch das europäische Projekt forcierten beziehungsweise dieses herausfordernden Bruchlinien verbinden. Das müssen wir zum Beispiel dieser Tage in der Auseinandersetzung um Ansprüche russischer Hegemonie in nicht zur EU gehörenden Ländern des ehemaligen Sowjetimperiums erleben.
Innerhalb eines um solche und andere globale Bezüge erweiterten Geschichts- und Selbstbildes der Deutschen wird die DDR eines fernen Tages eines von etlichen anderen untergegangenen Gemeinwesen darstellen, deren Geschichten je individuelle Eigenheiten und Idiosynkrasien aufweisen. Sie wird den Deutschen aber auch mit wachsendem zeitlichen Abstand immer noch als die eine der beiden Diktaturerfahrungen im Gedächtnis haften bleiben. Darüber hinaus werden ihre immensen und frei zugänglichen archivalischen Hinterlassenschaften weiterhin die Neugierde der historischen Forschung auf dieses untergegangene Land lenken. Hinzu kommt eine Nachfolgegesellschaft, die fest entschlossen scheint, aus dieser Überlieferungssituation das Beste für ihre politische Kultur, für das Geschäft der Aufklärung und nicht zuletzt fürs Histotainment herauszuholen.
Wenn die DDR als heuristischer "Fall" für die wissenschaftliche Forschung, als Anschauungsfall für den Demokratieunterricht, als nie versiegender Quell unterhaltsamer "authentischer" Geschichten weiterhin Geltung beanspruchen kann, ist sie noch lange nicht ausgeforscht. Im Gegenteil, dann steht ihr noch viel "Erforschtwerden" bevor.