Am 28. Juni 1914 wurden der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie von einem jungen bosnischen Serben namens Gavrilo Princip erschossen. Dieses Attentat war der Auslöser für eine internationale Krise, die Anfang August 1914 in den von vielen Zeitgenossen schon lange befürchteten Krieg zwischen den Großmächten mündete. Der Tod eines Mannes in Sarajevo sollte zum Tod von Millionen Menschen im Ersten Weltkrieg führen. Und dieser war mit dem Friedensschluss von 1919 nicht wirklich beendet. Manche Historiker sehen in ihm sogar nur den ersten Teil eines neuen Dreißigjährigen Krieges, der erst mit der totalen Niederlage Deutschlands 1945 endete. In den Juliwochen 1914, der sogenannten Julikrise, wurde in den Hauptstädten der Großmächte über Krieg und Frieden entschieden. Diese Entscheidungen waren prägend für das gesamte 20. Jahrhundert. Daher ist es sicherlich auch gerechtfertigt, in diesem Krieg die "Urkatastrophe" jenes Jahrhunderts zu sehen, wie es der amerikanische Diplomat George Kennan formulierte.
Kriegsschulddebatte
Aber warum kam es überhaupt zu dieser Katastrophe? Seit hundert Jahren streiten sich Historiker, Politiker und die informierte Öffentlichkeit darüber, wer für den Krieg verantwortlich war. Dabei schien diese Frage nach dem Kriegsende 1918 – zumindest für die Sieger – zunächst leicht zu beantworten. Deutschland und seine Verbündeten waren es, die den Krieg absichtlich vom Zaun gebrochen hatten und jetzt für dieses Verbrechen bestraft werden mussten. Der berühmte Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages, Artikel 231, befand: "Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben."
Aber in Deutschland sah man das ganz anders. Die neue Weimarer Regierung distanzierte sich von der Entscheidung der Sieger, und es entbrannte ein Kampf um die sogenannte Kriegsschuldlüge. In Deutschland war man sich sicher, 1914 einen Verteidigungskrieg geführt zu haben. Schlimm genug, dass man daraus als Verlierer hervorgegangen war; dass man diesen jetzt angeblich verursacht haben sollte, war eine tiefe Demütigung, die es zu bekämpfen galt.
Tatsächlich hatte die Kriegsschulddebatte schon begonnen, bevor die ersten Schüsse gefallen waren. In den Hauptstädten Europas war man sich im Vorfeld durchaus darüber im Klaren, dass ein moderner Krieg mit Millionenheeren nur dann erfolgreich geführt werden konnte, wenn die Bevölkerung davon überzeugt war, dass es sich um einen "gerechten Krieg" handelte. Das bedeutete, dass man in jedem Fall als der Angegriffene erscheinen musste. Das war für Franzosen und Belgier nicht schwer, wurden sie doch ganz offensichtlich angegriffen, als deutsche Truppen in der Nacht zum 4. August 1914 auf dem Weg nach Frankreich in das neutrale Belgien einmarschierten. Das ebenfalls neutrale Luxemburg war bereits am 2. August besetzt worden. Für die Deutschen war es schwieriger, dies als Verteidigungsfall darzustellen, hatte ihre Armee damit doch offensichtlich gegen das Völkerrecht verstoßen. Dennoch verkündete der deutsche Kaiser Wilhelm II. am Tag des Einmarsches in Belgien: "Mitten im Frieden überfällt uns der Feind!" Diese Nachricht wurde auf unzähligen Postkarten, Propagandapostern und in der Presse im Reich verbreitet. In Deutschland war die Bevölkerung ebenso davon überzeugt, einen Verteidigungskrieg zu führen, wie in Frankreich oder Großbritannien (wo man Belgien und Frankreich verteidigen wollte). Dass man nach dem verlorenen Krieg als Angreifer dargestellt wurde, war für viele Deutsche unannehmbar, nicht zuletzt, weil die immensen alliierten Reparationsansprüche auf dieser Kriegsschuldzuweisung basierten.
Die Weimarer Regierungen und das Auswärtige Amt arbeiteten deshalb mit Historikern und Publizisten an der Widerlegung dieser "Schuldlüge". Die Revision des Versailler Schuldspruchs (und damit das Ende der Reparationszahlungen) wurde zum Ziel der offiziellen Geschichtsschreibung der 1920er Jahre. Das Ausmaß des von der Regierung und vor allem vom Auswärtigen Amt betriebenen "Betrugs an Klio"
Erfolg der Kriegsunschuldpropaganda
Die Propagandaoffensive war erfolgreich: In Deutschland glaubte (ohnehin) kaum jemand an die deutsche Kriegsschuld, und bis Anfang der 1930er Jahre setzte sich auch im Ausland eine neue Sicht durch. Damit wandte sich der internationale Konsens zugunsten Deutschlands. Der ehemalige britische Premierminister David Lloyd George fasste die neue Orthodoxie 1933 in seinen Memoiren prägnant zusammen: Europa sei 1914 in den Krieg "hineingeschlittert" ("Europe slithered over the brink into the boiling cauldron of war").
1927 hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg während der Gedenkfeier zur Eröffnung des Tannenberg-Denkmals noch verkündet, dass das deutsche Volk die Anschuldigung ablehne, für diesen größten aller Kriege verantwortlich zu sein, und die Revision des Versailler Vertrags gefordert.
Tatsächlich war die Frage der alleinigen deutschen Schuld durch die Bemühungen anderer beseitigt worden (nicht zuletzt durch die von der Weimarer Regierung ermutigte revisionistische Propaganda, aber auch durch eine im Ausland stattgefundene Kehrtwende, befördert etwa durch Lloyd George). Hitler aber stellte dies charakteristisch als seinen persönlichen Triumph dar und erklärte, "daß damit jener Teil des Versailler Vertrages seine natürliche Erledigung gefunden hat, der unserem Volke die Gleichberechtigung nahm und es zu einem minderwertigen Volke degradierte. (…) Ich ziehe damit vor allem aber die deutsche Unterschrift feierlichst zurück von jener damals einer schwachen Regierung wider deren besseres Wissen abgepreßten Erklärung, daß Deutschland die Schuld am Kriege besitze!"
Die Kriegsschuldfrage schien also geklärt, und als ein neuer Weltkrieg drohte und schließlich Wirklichkeit wurde, hatte man weder in Deutschland noch im Ausland Interesse, über die Ursachen des vorherigen nachzudenken. Der Zweite Weltkrieg wurde noch verheerender, und so wollte man auch nach 1945 die Vorgeschichte des Krieges von 1914 nicht hinterfragen, galt es doch, zwölf Jahre Nationalsozialismus zu erklären und sich mit den Tatsachen der im Namen Deutschlands verübten Verbrechen abzufinden. Und so war man, was den Ersten Weltkrieg betrifft, weiterhin von der geteilten Verantwortung aller Großmächte überzeugt. Ein erfreulicher Kompromiss hatte sich etabliert, der Erste Weltkrieg und seine Ursachen waren nicht mehr kontrovers.
Fischer-Kontroverse
Erst in den 1960er Jahren wurde die Kriegsschuldfrage in Deutschland wieder ernsthaft untersucht und neu bewertet. Bahnbrechend wirkte hier der Hamburger Historiker Fritz Fischer, der die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch wieder in Berlin sah. Sein Buch "Griff nach der Weltmacht" (1961)
Die Empörung war besonders groß, weil viele Zeitgenossen im Ersten Weltkrieg noch selbst gekämpft hatten. So war zum Beispiel der Freiburger Historiker Gerhard Ritter, ein ausgesprochener Gegner Fischers, der Überzeugung, 1914 als Freiwilliger in einen Verteidigungskrieg gezogen zu sein – jetzt wurde ihm und seiner Generation vorgehalten, sie hätten sich an einem Eroberungskrieg beteiligt. Diese neue Kriegsschuldinterpretation war für viele in Deutschland inakzeptabel. Fischer behauptete nicht nur, dass Deutschland den größten Teil der Verantwortung für den Ausbruch des Krieges hatte, sondern auch, dass die Reichsleitung diesen von langer Hand geplant und damit expansive Kriegsziele verfolgt hatte, die denen Hitlers ähnelten.
In einem zweiten Buch, "Krieg der Illusionen" (1969),
Neuer Konsens
Die Fischer-Debatte war spätestens in den 1980er Jahren ausgestanden, und es herrschte weitgehender Konsens: Man konnte Fischer zwar nicht allgemein zustimmen, dass Deutschland den Krieg von langer Hand geplant hatte und mit ihm Kriegsziele verwirklichen wollte, die denen Hitlers kaum nachstanden. Aber es war doch mehr oder weniger unumstritten, dass Deutschland den Hauptteil der Verantwortung für den Kriegsbeginn zu tragen hatte (wohlgemerkt hat Fischer niemals behauptet, dass Deutschland allein schuldig war, nur eben hauptschuldig – eine wichtige Unterscheidung, die häufig übersehen wird). Es wurde nun mehr darüber gestritten, was die Motivation für die aggressive Außenpolitik gewesen sein könnte: Hatten die Politiker und Militärs in Berlin mit einem Krieg die innenpolitischen Probleme des Landes lösen wollen? Waren ihre Handlungen letztlich defensiv oder offensiv? Hatte man 1914 einen Präventivkrieg heraufbeschwören wollen? Dass die Handlungen und Entscheidungen, die 1914 in Deutschland getroffen wurden, den Kriegsausbruch ermöglicht hatten, war jedoch relativ unumstritten.
Es war allerdings auch unstrittig, dass auch die Entscheidungen anderer Großmächte kritischer durchleuchtet werden mussten. Allen voran fand nun Österreich-Ungarn Kritiker, nicht nur unter deutschen und österreichischen Forschern, sondern auch im englischsprachigen Ausland.
Kriegsursachenfrage und 100. Jahrestag
Anfang des 21. Jahrhunderts hatte man sich in der Debatte schließlich darauf verständigt, dass der Ausbruch des Krieges keineswegs zwangsläufig gewesen war. Es wurde sogar vom "unwahrscheinlichen Krieg" gesprochen, der die Zeitgenossen überrascht habe.
Neben Österreich-Ungarns Rolle wurden in den vergangenen Jahren auch die außenpolitischen Entscheidungen der anderen Großmächte in der Vorkriegszeit verstärkt untersucht. So argumentiert zum Beispiel der US-amerikanische Historiker Sean McMeekin, dass Russland am Erwerb der türkischen Meerengen und besonders am Besitz Konstantinopels interessiert gewesen und der Regierung in St. Petersburg die Julikrise mit der Möglichkeit eines europäischen Krieges nicht ungelegen gekommen sei. Zudem wird Russland beschuldigt, durch seine frühe Entscheidung zur Teilmobilmachung eine friedliche Lösung der Krise unmöglich gemacht zu haben.
Pünktlich zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns sind eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, welche die Kriegsschuldfrage wieder in den Vordergrund rücken. Das Thema ist erneut stark umstritten und wird in der deutschen Öffentlichkeit lebhaft diskutiert. Glaubt man den neuesten Untersuchungen, so waren Deutschland und Österreich-Ungarn nicht mehr verantwortlich für den Ausbruch des Krieges als Russland oder Frankreich, die in der Julikrise die Möglichkeit sahen, ihr Bündnis zu festigen und denen ein Präventivkrieg genauso willkommen war wie Deutschland oder Österreich-Ungarn. Angesichts der neuesten Forschungsergebnisse könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass Europa 1914 tatsächlich in den Krieg "geschlittert" war.
Ausgelöst wurde diese neue Debatte in Deutschland durch ein Buch des in Großbritannien lehrenden Historikers Christopher Clark, "The Sleepwalkers".
Gavrilo Princip und die Frage der serbischen Rolle in der Vorkriegszeit sind bei Clark deutlich mehr als nur eine Fußnote. Dass sein Buch im Jahr 1903 mit der grausamen Ermordung des serbischen Königspaares einsetzt und das Nationalitätenproblem auf dem Balkan und Serbiens Position als Störenfried so zentral diskutiert werden, ist ungewöhnlich. Aber Clark moniert zu recht: "Serbien ist einer der blinden Flecken der Historiographie zur Julikrise."
Kontrovers an seinem Buch ist nicht, dass er Serbien auf die Anklagebank setzt (zumindest in Deutschland – in Serbien war die Reaktion eher negativ), sondern, dass er versichert, dass die Suche nach einem Schuldigen oder einer smoking gun weder nötig noch sinnvoll sei. Historiker, so meint Clark, sollten nicht über die Handelnden der Vergangenheit richten, sondern verständlich machen, wie diese Handlungen zustande kamen, und er fragt: "Ist es wirklich nötig, dass wir ein Plädoyer gegen einen einzigen, schuldigen Staat halten oder eine Rangordnung der Staaten nach ihrem jeweiligen Anteil an der Verantwortung aufstellen?"
Er lenkt den Blick damit weg von der deutschen Schuldfrage hin zu einer Interpretation, in der alle Großmächte mehr oder weniger dafür verantwortlich waren, dass es im Sommer 1914 zum großen Krieg kam. So werden bei ihm die Mittelmächte, also Deutschland und Österreich-Ungarn, zum Opfer französisch-russischer Aggression, und die Vermittlungsvorschläge aus London werden als "halbherzig" abgetan. Der Ausbruch des Krieges sei "eine Tragödie, kein Verbrechen" gewesen. Für viele Kommentatoren in Deutschland war dies der Anlass, Deutschland von der Schuld am Ersten Weltkrieg freizusprechen. Clarks Buch habe "die These von der Hauptverantwortlichkeit des Deutschen Reichs klaftertief begraben", urteilte etwa die Publizistin Cora Stephan.
Das Argument von der deutschen Unschuld wird in einer weiteren erfolgreichen Publikation untermauert. Kurz nach Clarks Buch erschien Herfried Münklers Werk "Der Große Krieg", in dem der Politikwissenschaftler – auch wiederum von der Warte der Bestsellerliste aus und von diversen Medien extensiv zitiert – Deutschland von der alleinigen Kriegsschuld freispricht: "Zweifellos war Deutschland im Sommer 1914 einer der maßgeblichen Akteure, die für den Kriegsausbruch verantwortlich waren – aber es trug diese Verantwortung keineswegs allein."
Nach den Veröffentlichungen von Clark und Münkler konstatierten einige Kommentatoren in Deutschland einen Paradigmenwechsel – die Frage nach der Verantwortung für den Krieg scheint wieder zu Deutschlands Gunsten beantwortet zu sein. "Die Deutschen tragen Schuld am Ersten Weltkrieg – aber nicht mehr als andere", stellte zum Beispiel der Historiker Holger Afflerbach im "Spiegel" fest.
Nur wenige Stimmen widersprechen der in den deutschen Medien aufgekommenen Erleichterung, dass man die Schuld an diesem Krieg nach hundert Jahren von sich weisen kann. "Die Begeisterung für diese ‚neue Sicht‘ geht einher mit einer Herabsetzung Fritz Fischers, die in manchem an die Kampagne gegen ihn in den sechziger Jahren erinnert", kritisierte der Historiker Volker Ullrich. Hatte man damals Fischers Thesen als "politischen Masochismus" bezeichnet, so werden Kritiker der neuen Unschuldsthese jetzt des "Schuldstolzes" beschuldigt: "Sie stünden geradezu unter dem Zwang, immer wieder die deutsche Schuld bekennen zu müssen, ja zögen daraus die höchste Befriedigung. In solchen Attacken wird deutlich, worauf der teils schrille deutsche Jubel über Clarks Schlafwandler letztlich zielt: Es geht um eine geschichtspolitische Weichenstellung. Was den Konservativen im ‚Historikerstreit‘ der achtziger Jahre noch missglückte – nämlich die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte zurückzugewinnen –, das soll jetzt gelingen. Es fällt auf, wie matt der Widerspruch bislang war. In der Zunft scheint man des Streites müde geworden zu sein."
Ein weiterer Kritiker des neuen Paradigmas, der Historiker Gerd Krumeich, erläuterte in einem Interview: "Clark nimmt die Deutschen und die Österreicher zu sehr in Schutz. Das war vielleicht ein wenig nötig, nach den Jahrzehnten der Fokussierung auf die deutsche Schuld. Aber es geht nicht an, dass er die Serben zu einer Art Räuberbande macht, ähnlich wie Wilhelm II. damals. Der wirkliche Unruheherd für ihn (Clark) ist der Panslawismus und der russische Druck auf Österreich-Ungarn."
Blick auf Großbritannien
Ein Aspekt der jüngsten Debatte ist die Betonung der Rolle des Vereinigten Königreichs, das bisher relativ wenig Aufmerksamkeit als vermeintlicher Kriegsschuldiger bekommen hatte. Dies ist besonders delikat, weil parallel zur deutschen Diskussion über die Kriegsschuldfrage in Großbritannien darüber gestritten wurde, wie man den 100. Jahrestag des Kriegsausbruches am besten zelebrieren sollte. Dabei muss man in London die schwierige Gratwanderung meistern, die Rolle der britischen und kolonialen Soldaten zu würdigen und den Krieg als unvermeidlich, gerecht und natürlich auch letztendlich gewonnen darzustellen, gleichzeitig aber die Bundesrepublik nicht vor den Kopf zu stoßen, indem man die Frage der Kriegsschuld zu sehr betont. Bezeichnend ist hierbei zum Beispiel, dass Premierminister David Cameron ausdrücklich von einem Kampf gegen die Idee eines von Preußen dominierten Europas sprach, und nicht von einem Krieg gegen Deutschland: "We should be clear that World War I was fought in a just cause, that our ancestors thought it would be bad to have a Prussian-dominated Europe, and that is why they fought."
In Deutschland sind zumindest einige Historiker weniger darauf bedacht, auf britische Sensibilitäten Rücksicht zu nehmen. So war im Januar 2014 in einem Beitrag mehrerer deutscher Historiker in der "Welt" zu lesen: "Das Deutsche Reich war nicht ‚schuld‘ am Ersten Weltkrieg. Eine derartige Kategorie gab es bis dahin gar nicht, hatten doch dem Codex der europäischen Staatenkriege gemäß souveräne Staaten das ‚ius ad bellum‘, sofern sie eine Verletzung ihrer Interessen begründen konnten. Dieses Recht zum Krieg galt 1914 am wenigsten für Großbritannien, denn das Vereinigte Königreich konnte mit keinem unmittelbaren Interesse oder Bündniszwang ein Eingreifen in einen lokalen Konflikt (zwischen Österreich-Ungarn und Serbien) begründen. Erst der britische Kriegseintritt aber machte aus dem Ursprungskonflikt ein globales Desaster."
Warum aber Deutschlands Interessen am lokalen Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien schwerer wiegen sollten als Großbritanniens Interesse am Schicksal Frankreichs und Belgiens, sei dahingestellt – denn London intervenierte ja nicht in einem lokalen Krieg zwischen Österreich und Serbien, wie unterstellt wird, sondern in einem Konflikt zwischen Belgien, Frankreich und Deutschland. So spricht man London ab, es habe "einen gerechten, das heißt gerechtfertigten Krieg" geführt,
Fazit
Seit hundert Jahren ist die Frage nach der Ursache des Ersten Weltkrieges nicht nur Geschichtsschreibung, sondern auch von zeitgeschichtlicher Relevanz. In den 1920er Jahren waren es die Bemühungen, Deutschland von der Schuld und damit von den Reparationszahlungen freizusprechen. In den 1960er Jahren, während der Fischer-Kontroverse, war es die Sorge, wie man als geteilter Staat an der vordersten Front des Kalten Krieges bestehen konnte. Die Kubakrise gab damals Anlass, nach eventuellen Parallelen zur Julikrise zu suchen, und Fragen nach der jüngsten deutschen Vergangenheit führten zum Hinterfragen der Geschichte von Bismarck zu Hitler. Auch heute werden vermeintliche Parallelen zu zeitgenössischen Krisen gezeichnet. Man beruft sich auf den 11. September 2001 oder auf die europäische Finanzkrise der vergangenen Jahre, und es wird auch oft darauf verwiesen, dass der Balkan auch noch am Ende des 20. Jahrhunderts ein gefährliches Pulverfass war. Auch die Tatsache, dass Deutschland nach wie vor mit den "Herausforderungen der Position der Mitte" konfrontiert ist, wird heute verstärkt hervorgehoben.
Es ist verständlich, dass die Debatte in den 1960er Jahren noch so emotional geführt wurde – hier stritten hauptsächlich noch Zeitzeugen und sahen sich gezwungen, ihre eigenen Handlungen oder die ihrer Väter zu rechtfertigen. Aber auch nach hundert Jahren, nachdem mit dem Tod des letzten Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg dieser wirklich Geschichte geworden ist, tut es dem deutschen Nationalgefühl sichtbar gut, von der Kriegsschuld befreit zu sein, und das erklärt sicherlich, warum vielerorts die These des in den Krieg schlafwandelnden Europas willkommen ist. Nicht jeder hält sie für überzeugend,