Die Idee, dass gesellschaftliche Teilhabe mit sprachlicher Komplexität zusammenhängt, ist nicht neu. "Ohne eine demokratische, eine allgemein verständliche, einfache, klare Sprache, ohne einen ächten Volksstyl ist keine Volksherrschaft möglich; aber auch umgekehrt ist mit einer klaren, einfachen, aller Welt zugänglichen Schriftsprache auf die Dauer kein Absolutismus, keine Aristokratie mehr haltbar", schrieb der Publizist und Politiker Jacob Venedey schon 1850.
Die Sprachwissenschaft, von der man für dieses Dilemma vielleicht Lösungsansätze erwarten könnte, tut sich grundsätzlich schwer, sprachplanerische Hilfestellungen für gesellschaftliche Probleme anzubieten. So haben es hier (wie auch in anderen Bereichen) Aktivistinnen und Aktivisten übernommen, Vorschläge für eine einfache, möglichst weithin verständliche Sprache zu entwickeln. Es ist höchste Zeit, diese Vorschläge aus sprachwissenschaftlicher Perspektive zu beleuchten, um eine Grundlage für konstruktive Kritik zu schaffen. Im vorliegenden Beitrag will ich einen ersten Schritt dahin versuchen, indem ich die sogenannte Leichte Sprache in die wissenschaftliche Diskussion um sprachliche Komplexität und ihre kognitiven und sozialen Konsequenzen einordne.
Leichte Sprache
Zielgruppen.
Die Vorschläge für Leichte Sprache richten sich an eine sehr heterogene Zielgruppe: Menschen mit Lernbehinderungen und anderen kognitiven Einschränkungen, Menschen mit Leseschwierigkeiten unterschiedlicher Art, nichtdeutsche Muttersprachige, Menschen mit Altersdemenz oder sogar ältere Menschen insgesamt.
Es ist fraglich, ob es für eine derart heterogene Zielgruppe eine einheitliche Lösung geben kann oder sollte. Zu unterscheiden wären hier mindestens Gruppen, an deren Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache in ihrer vollen Komplexität sich nichts oder nur wenig ändern lässt (also Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Lese- und Lernschwächen), und diejenigen, deren Schwierigkeiten aus einem nicht abgeschlossenen Erwerb des Deutschen entstehen (also nichtdeutsche Muttersprachige einschließlich Gebärdender). Bei Ersteren kann ein besseres Sprachverständnis nur durch eine entsprechende Anpassung der sprachlichen Komplexität einschließlich orthografischer und typografischer Hilfestellungen erreicht werden, bei Letzteren ist eine solche Anpassung eher als Übergangslösung zu verstehen, bis der Spracherwerb abgeschlossen ist.
Dies gilt erst recht dort, wo jugendliche oder auch erwachsene Mitglieder der Sprachgemeinschaft bestimmte Register – beispielsweise die der Politik, Wirtschaft oder Verwaltung – nicht (oder nicht ausreichend) beherrschen. Hier wäre zunächst zu klären, inwieweit die Gesellschaft von ihren Mitgliedern erwarten kann, diese Register und Textsorten zu beherrschen. Denn eine Vereinfachung sprachlicher Strukturen ist in Bezug auf die kommunizierten Inhalte nicht kostenneutral und sollte deshalb nicht automatisch als optimale Lösung betrachtet werden.
Regeln Leichter Sprache.
Betrachten wir zunächst die Regeln der Leichten Sprache.
Auf der Wortebene sieht die Leichte Sprache Kürze (Bus statt Omnibus), Umgangssprachlichkeit (erlauben statt genehmigen) und das Vermeiden von Fremdwörtern (Arbeits-Gruppe statt Workshop) vor. Außerdem sollen genaue Zahlenangaben durch ungefähre Angaben (wie lang, viele, einige und wenige) ersetzt werden. Auf grammatischer Ebene sollen Negation, Passivsätze und der Genitiv völlig vermieden werden, Konjunktive und Modalverben (wie hätte, könnte, müsste, sollte, wäre und würde) sollen durch Wörter wie vielleicht ersetzt werden, und statt Nominalisierungen (wie Wahl) sollen Verben (wie wählen) verwendet werden.
Interessanterweise ordnet sich die Leichte Sprache mit diesen Empfehlungen in eine Reihe anderer sprachkritischer Traditionen ein – ein weitgehend ähnliches Inventar abzulehnender Wörter und Strukturen findet sich in herkömmlichen Stilfibeln,
Sprachliche Komplexität und Gesellschaft
In keiner dieser Traditionen wird normalerweise die Frage gestellt, woher die sprachliche Komplexität, die vermieden werden soll, eigentlich kommt. Diese Frage ist aber von entscheidender Bedeutung für die Erarbeitung und Bewertung sprachlicher Empfehlungen.
Die Erweiterung des Vokabulars und der Grammatik einer Sprache geschieht im Zuge ihres Ausbaus zu einer Standardsprache. Sie reflektiert in zweifacher Hinsicht die umfassenderen kommunikativen Funktionen, die eine solche Standardsprache im Vergleich zu (sozialen und/oder regionalen) umgangssprachlichen Varietäten erfüllen muss.
Zum einen müssen Standardsprachen die mündliche und vor allem schriftliche Kommunikation zwischen Menschen ermöglichen, die wenige gemeinsame Alltagserfahrungen teilen – am deutlichsten wird dies bei schriftlichen Erscheinungsformen der Standardsprache (manchmal "Schriftsprache" genannt), bei der die Schreiberinnen und Schreiber oft nicht wissen, wer einen Text lesen wird. Standardsprachen müssen also eindeutiger sein, da ihre Sprecherinnen und Sprecher nicht darauf setzen können, dass sich Mehrdeutigkeit durch das Wissen über Personen oder Kommunikationssituationen aufklären lässt.
Zum anderen muss eine Standardsprache die mündliche und schriftliche Kommunikation über komplexe Wissensbereiche ermöglichen (etwa politische und wirtschaftliche Abläufe, gesellschaftliche Pflichten, Rechte und Rechtsverletzungen, wissenschaftliche Erklärungen). Sie bildet deshalb sowohl fachsprachliche Varietäten aus (die vor allem der Kommunikation zwischen Expertinnen und Experten bestimmter Fachgebiete dienen) als auch fachnahe Varietäten zur breiteren gesellschaftlichen Verständigung über diese Fachgebiete. Die Gesamtheit solcher fachnahen Varietäten entspricht dem, was die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin mit Jürgen Habermas als "Bildungssprache" bezeichnet, also die für schulische und andere institutionalisierte Bildungszusammenhänge charakteristischen Register, die benötigt werden, um "kognitiv anspruchsvolle Lernangebote und Aufgabenstellungen (…) zu bewältigen" und "sich mit den Mitteln der Schulbildung ein Orientierungswissen verschaffen" zu können.
Dem Anthropologen John Lucy folgend können wir die Standardsprache als intellektualisiertes Register bezeichnen.
Die Diskussion um die sozialen und kognitiven Konsequenzen sprachlicher Komplexität (beziehungsweise ihres Fehlens) sind entscheidend von den Ideen des Soziologen Basil Bernstein geprägt. Bernstein ging von der Existenz zweier Klassen sprachlicher Register aus, die er "restringierter" und "elaborierter Code" nannte.
QuellentextElaborierter und restringierter Code
Wir verwenden Sprache in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zwecken – von der zwanglosen Plauderei im Treppenhaus, der hauptsächlich der guten Nachbarschaft dient, bis zum fachsprachlichen Austausch über neueste wissenschaftliche Erkenntnisse oder komplexe politische Entscheidungen. Dass Vokabular und grammatische Strukturen sich in ihrer Komplexität Situation und Zweck anpassen, scheint so offensichtlich, dass Basil Bernsteins kontroverse Hypothese vom "restringierten" und "elaborierten" Code zunächst fast trivial erscheint.
Bernstein formuliert zunächst nur das Offensichtliche: Die Sprache, die wir in familiären, informellen Situationen verwenden, ist durch ein vergleichsweise eingeschränktes Vokabular und eine eingeschränkte Auswahl grammatischer Strukturen gekennzeichnet. Sie kann sich diese Einschränkungen (wegen derer sie als "restringiert" bezeichnet wird) leisten, weil sie hauptsächlich dazu dient, beschreibend über alltägliche, allen Beteiligten vertraute Dinge zu sprechen. In Situationen, in denen eher analytisch über abstrakte und aus dem alltäglichen Umgang nicht vertraute Dinge gesprochen wird, kommt dagegen eine Sprache zum Einsatz, deren Wortschatz und Grammatik stark ausdifferenziert ("elaboriert") sind.
Dass diese Idee bis heute kontrovers diskutiert wird, hat zwei Gründe. Erstens verknüpfte Bernstein sie mit der Idee schichtenspezifischer Sprachgemeinschaften: Er nahm an, dass Angehörige der "Working Class" (also "bildungsfernen" Schichten) in ihrem sprachlichen Repertoire auf einen restringierten Code beschränkt sind und nicht lernen, den elaborierten Code zu beherrschen. Zweitens verknüpfte er die sprachliche Ebene mit dem Denken: Er nahm an, dass ein restringierter Code abstraktes Denken erschwert oder sogar unmöglich macht.
Die Kritik an Bernstein richtet sich zum einen auf eine (von ihm nie beabsichtigte) Festschreibung gesellschaftlicher Bewertungen von Sprache. Sprache dient ja nicht nur der Kommunikation, sondern auch der Identifikation, und wer die prestigeträchtigen Varietäten einer Sprache nicht beherrscht, dem bleibt allein deshalb (also auch ohne kommunikative oder gar kognitive Konsequenzen) der Zugang zu vielen gesellschaftlichen Bereichen versperrt. Bernsteins Äußerungen zum "elaborierten" Code wurden häufig als Rechtfertigung dieser Praxis in dem Sinne interpretiert, dass der "elaborierte" Code objektiv "besser" sei.
Zum anderen richtet sich die Kritik gegen die Idee eines restringierten Codes an sich. Man wies darauf hin, dass bildungsferne Schichten zu sehr komplexem Diskursverhalten in der Lage seien; am bekanntesten sind hier wohl die Studien des Soziolinguisten William Labov, der die sprachlichen Rituale von New Yorker Gangs untersuchte und zeigen konnte, dass diese äußerst subtilen Regeln folgen. Ob er damit tatsächlich Bernsteins Ideen widerlegt, ist aber fraglich: Erstens dienen diese sprachlichen Rituale vorrangig der Aushandlung sozialer Beziehungen innerhalb der Gang, sind also trotz ihrer Komplexität auf konkrete Aspekte des unmittelbaren Umfelds ausgerichtet; zweitens sagt ihre soziale Komplexität nichts über die Komplexität des Wortschatzes und der Grammatik aus.
Neuere Forschungen der Psycholinguistin Ewa Dabrowska deuten auf einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen sprachlicher Komplexität und Bildung hin: Sie konnte in einer Reihe von Experimenten zeigen, dass die korrekte Interpretation komplexer grammatischer Strukturen (etwa des Passivs) vom Grad der formalen Bildung und der damit einhergehenden Erfahrung mit komplexer Sprache (dem, was die Bildungsforscherin Ingrid Gogolin mit einem Begriff von Jürgen Habermas als "Bildungssprache" bezeichnet) abhängt.
Da in der Zwischenzeit außerdem eine solide Forschungslage geschaffen wurde, die zeigt, dass sprachliche Strukturen einen Einfluss auf unsere Denkprozesse haben können, stellt sich mit Dabrowskas Forschungsergebnissen auch erneut die Frage nach einem Zusammenhang zwischen sprachlicher und gedanklicher Komplexität. Hier liegen bislang keine neueren Forschungsergebnisse vor. Es ist zu hoffen, dass sich das bald ändert, denn gäbe es einen solchen Zusammenhang, würde sich daraus ein dringender und emanzipatorischer sprachlicher Bildungsauftrag ergeben.
Schon für diese Unterscheidung ist Bernstein stark kritisiert worden. Mit etwas Abstand lässt sich aber feststellen, dass er im Prinzip nur die Unterscheidung zwischen umgangssprachlichen Registern und ausgebauten standardsprachlichen Registern nachempfindet. Der Begriff "restringiert" ist sicher unglücklich gewählt, um damit den normalen, alltäglichen Sprachgebrauch zu charakterisieren, aber Bernstein stellt klar, dass er den "restringierten Code" nicht als grundsätzlich defizitär betrachtet. Es ist die Varietät, die alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft im alltäglichen Leben verwenden. Problematisch wird sie erst, wenn es um abstrakte, komplexe Zusammenhänge geht. Bernstein ging nun davon aus, dass bestimmte soziale Gruppen – im Prinzip die, die heute als "bildungsfern" bezeichnet werden – auf die umgangssprachliche Varietät ihrer Sprache beschränkt sind und die standardsprachlichen Register nicht erwerben. Das hat seiner Meinung nach Auswirkungen auf Denkprozesse, die ich gleich näher diskutieren werde.
Zunächst stellt sich noch die Frage, inwieweit Bernstein recht mit der Annahme hatte, dass die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich bezüglich ihrer standardsprachlichen Kompetenz unterscheiden. Diese Idee galt in der Linguistik lange Zeit als tabu; es galt die Grundannahme, dass (solange keine kognitiven oder sensorischen Einschränkungen vorliegen) alle Menschen ihre Muttersprache in gleicher Weise und in gleichem Maße erwerben. Diese Annahme hat sich in der Forschung vielfach bestätigt, wo es um die allgemeine Umgangssprache geht. Dort, wo es um standard- oder gar bildungssprachliche Register geht, scheint sie im Rückblick aber schon a priori wenig plausibel, da nicht alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft die gleiche Erfahrung mit diesen Registern haben.
Neuere Forschungsarbeiten der Psycholinguistin Ewa Dabrowska bestätigen aber auch empirisch, dass nicht alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft dasselbe zugrunde liegende Sprachsystem erwerben, sondern dass es klare Unterschiede im Verständnis einer Reihe von grammatischen Strukturen gibt (darunter bestimmte Typen komplexer Sätze und Passivstrukturen).
Sprachliche Komplexität und die Repräsentation von Wirklichkeit
Nun zeigt ein Vergleich von Bernsteins (durch Dabrowska im Kern bestätigten) Ideen zur Struktur des "restringierten Codes" eine große Übereinstimmung mit den strukturellen Aspekten der Leichten Sprache: ein eingeschränktes Vokabular (insbesondere ein Fehlen von Fach- und Fremdwörtern) und eine eingeschränkte Grammatik (etwa ein Verzicht auf Passivstrukturen, auf Nominalisierungen und auf Negation). In struktureller Hinsicht kann man die Leichte Sprache also als künstlich restringierte Sprachvarietät bezeichnen. Damit stellt sich die Frage, ob ihre strukturellen Einschränkungen Auswirkungen auf ihre Fähigkeit zur Repräsentation einer komplexen Wirklichkeit haben.
Bernstein bezieht seine Überlegungen ausdrücklich auf die Idee einer sprachlichen Relativität, also der Idee, dass die Strukturen einer Sprache Auswirkungen auf das Denken ihrer Sprecher haben. Er geht davon aus, dass das Register, das wir verwenden, Auswirkungen darauf hat, welche sozialen, intellektuellen und emotionalen Ereignisse uns wichtig erscheinen und welche Beziehungen wir zwischen Dingen, Personen und Ereignissen herstellen können.
QuellentextSprache und Denken
Die Idee, dass unsere Muttersprache mit den jeweiligen Eigenheiten ihres Wortschatzes und ihrer Grammatik einen Einfluss auf unsere Gedanken haben könnte, findet sich schon früh in der sprachwissenschaftlichen Literatur, besonders prominent bei dem deutschen Sprachwissenschaftler Wilhelm von Humboldt und dem US-amerikanischen Anthropologen Benjamin Lee Whorf. Sie wurde aber von den vorrangig universalistischen, das Gemeinsame am menschlichen Denken betonenden Geisteswissenschaften lange Zeit einhellig abgelehnt. Empirisch überprüfbar war sie, mangels entsprechend entwickelter Methoden, ohnehin nicht. Mit dem Aufkommen der modernen experimentellen Psychologie und der Übernahme ihrer Methoden durch die Linguistik und die linguistische Anthropologie änderte sich dies aber. Spätestens seit den 1990er Jahren häufen sich die Belege dafür, dass bei aller Gemeinsamkeit menschlicher Denkprozesse unsere Muttersprache uns bestimmte Denk- und Wahrnehmungsweisen leichter macht (und damit näher legt) als andere.
Die Beweislage ist dort am deutlichsten, wo Sprache sich systematisch verhält, also weniger im Wortschatz als in der Grammatik. Obwohl Sprachen beispielsweise in ihrem Farbvokabular stark voneinander abweichen, deutet die eher durchmischte Forschungslage darauf hin, dass unsere Farbwahrnehmung unabhängig von den Wörtern ist, mit denen wir über Farben reden. Schon anders sieht es aber bei den Wörtern aus, mit denen wir über Richtungen reden – manche Sprachen verwenden hier grundsätzlich relativ zu Sprecherinnen und Sprechern interpretierte Wörter wie rechts und links, andere verlassen sich auch in kleinräumigen Situationen auf absolut interpretierte Wörter wie Nord und Süd. Experimente, in denen Versuchspersonen räumliche Aufgaben lösen müssen, im Zuge derer sie sich um 180 Grad drehen, zeigen, dass sie – je nach Muttersprache – diese Rotation in ihre Denkprozesse mit einbeziehen oder eben nicht. Auch die Größe unseres Zahlenvokabulars scheint einen Einfluss auf unseren Umgang mit Mengen zu haben – Versuchspersonen, deren Muttersprache keine (oder nur sehr wenige) Zahlwörter enthält, tun sich in Experimenten schwerer mit dem genauen Abschätzen oder dem Vergleich von Mengen als solche, deren Sprache ihnen einen großes, systematisches Zahlenvokabular bietet.
Bei grammatischen Strukturen (die in unserer Kommunikation ja immer viel großflächiger zur Anwendung kommen als der situations- und themenabhängige Wortschatz) ist die Beweislage noch klarer. So wird etwa im Englischen (wie auch im Deutschen) die Umwelt sprachlich in Einheiten mit bestimmter Form und Funktion zerlegt, die durch zählbare Substantive bezeichnet werden – die Kerze, der Löffel usw. Seltener ist der Fall, bei dem ein Material direkt benannt und erst durch ein zusätzliches Wort zählbar gemacht wird – etwa Wachs (ein Klumpen Wachs, ein Stück Wachs, aber nicht „ein Wachs“) oder Papier (ein Blatt Papier, ein Stapel Papier, aber nicht „ein Papier“). In anderen Sprachen (etwa dem yukatekischen Maya oder dem Japanischen) ist das anders – dort besteht der Wortschatz vorrangig aus Materialwörtern, die durch "Klassifikatoren" erst zählbar gemacht werden ("Kerze" wäre dort in etwa eine Stange Wachs). In Experimenten, in denen es um das Kategorisieren oder Sortieren von Stimuli geht, zeigt sich, dass Sprecherinnen und Sprecher solcher "materialbezogenen" Sprachen stärker auf Materialien achten, Sprecherinnen und Sprecher von "form- bzw. funktionsbezogenen" Sprachen dagegen stärker auf gemeinsame Formen und Funktionen.
Weitere Bereiche der Grammatik, für die sich in Experimenten mehr oder weniger starke Effekte sprachlicher Strukturen auf Denk- und Handlungspräferenzen zeigen lassen, sind beispielsweise Genus (das grammatische Geschlecht eines Wortes kann Auswirkungen auf die Wahrnehmung der bezeichneten Gegenstände haben) und Tempus (Sprecherinnen und Sprecher von Sprachen ohne grammatisches System zur Zeitkodierung tun sich beim Umgang mit Zeitabläufen schwerer).
Die Erforschung des Einflusses sprachlicher Strukturen auf unser Denken (und Handeln) steht noch am Anfang, und viele grammatische Bereiche sind schlicht noch nicht untersucht. Dass es einen solchen Einfluss grundsätzlich gibt, kann aber inzwischen als gesichert gelten.
Für Bernsteins radikale Aussagen gab (und gibt) es keine empirischen Belege. Sie widersprachen außerdem dem sprachuniversalistischen Geist seiner Zeit und galten lange Zeit keiner näheren Untersuchung würdig. Inzwischen gibt es aber eine substanzielle Forschungslage, die für eine ganze Reihe grammatischer Phänomene einen Effekt sprachlicher Strukturen auf Denkprozesse zeigt.
Die inzwischen recht eindeutige Forschungslage zu Relativitätseffekten zwischen Sprachen hat der Annahme neue Glaubwürdigkeit verliehen, dass es solche Effekte auch zwischen unterschiedlichen Varietäten einer Sprache geben könnte. John Lucy, eine der zentralen Autoritäten auf dem Gebiet der sprachlichen Relativität, teilt zwar Bernsteins Annahmen nicht im Detail, hält einen von ihm "funktionale Relativität" genannten Einfluss von Registern unterschiedlicher Komplexität auf Denkprozesse aber für wahrscheinlich.
Selbst wenn sich ein direkter Zusammenhang zwischen sprachlicher Ausdifferenzierung und der Abstraktheit und Komplexität von Denkprozessen nicht bestätigen ließe, gibt es aber mindestens drei Bezugspunkte zwischen Sprache und Denken, welche die bewusste Einschränkung sprachlicher Komplexität problematisch erscheinen lassen.
Erstens gibt es Bedeutungsunterschiede zwischen den zu vermeidenden Strukturen und denen, durch die sie ersetzt werden. Fachbegriffe werden ja genau deshalb geprägt und Fremdwörter deshalb entlehnt, weil ein Konzept benannt werden muss, für das es keine allgemeinsprachliche Bezeichnung gibt. Auch negierte Sätze bedeuten nicht unbedingt dasselbe wie eine positive Umformulierung (Peter ist nicht gesund ist nicht dasselbe wie Peter ist krank). Und Passivstrukturen kommen unter anderem dort zum Einsatz, wo allgemeine Tatsachen berichtet werden sollen und ein aktiver Satz spezifische Handelnde benennen müsste (Morgen wird gewählt bedeutet etwa nicht notwendigerweise, dass eine bestimmte Person oder Gruppe wählt, die man in einem Aktivsatz zum Subjekt machen könnte).
Zweitens, und als häufiger Sonderfall des ersten Punktes, ist die Detailtreue einer vereinfachten Formulierung fast notwendigerweise geringer als die der komplexeren. Am deutlichsten ist das vielleicht im Falle von Zahlen, die durch allgemeine Mengenangaben ersetzt werden. Hier gehen wichtige Informationen verloren, denn Wörter wie wenig oder viel können für unterschiedliche Sprecher unterschiedliche Größenordnungen nahelegen. Einfachheit und allgemeine Verständlichkeit stehen im Normalfall im Widerspruch zu Genauigkeit und Vollständigkeit, sodass immer nur eine Seite auf Kosten der anderen optimiert werden kann.
Drittens geht mit dem Erwerb komplexerer sprachlicher Strukturen auch die Herausbildung eines metasprachlichen Bewusstseins einher,
Schlussbemerkungen
Da gesellschaftliche Prozesse fast ausschließlich über Sprache konstituiert und aufrechterhalten werden, setzt eine gesellschaftliche Teilhabe zwingend eine sprachliche Teilhabe voraus. Sobald wir den Bereich der unmittelbaren zwischenmenschlichen Kommunikation verlassen, kommen dabei Erscheinungsformen von Sprache zum Tragen, die in ihrem Vokabular, ihren grammatischen Strukturen und ihren Textkonventionen von erheblicher Abstraktion und Komplexität sind.
Dass diese Register Ausschlüsse produzieren, indem sie die sprachliche Teilhabe bestimmter Gruppen von Sprechern erschweren oder unmöglich machen, ist eine offenkundige Tatsache. Die Frage, wie wir mit dieser Tatsache umgehen sollten, erfordert aber eine sehr differenzierte Antwort. Dort, wo Menschen mit Behinderungen betroffen sind, ist die Sprachgemeinschaft insgesamt in der Pflicht, sprachliche Register zu (er)finden und zu verwenden, die ihnen einen Zugang zu Informationen und eine Teilhabe an Kommunikation ermöglichen.
Tatsächlich gestalten wir unsere sprachlichen Äußerungen im Alltag automatisch auf der Grundlage unserer Annahmen über Vorkenntnisse und sprachliche Fähigkeiten der Zuhörenden.
Dabei muss uns bewusst sein, dass die Vermeidung komplexer sprachlicher Register oder gar eine gezielte Verkleinerung des Wortschatzes und strukturelle Vereinfachung grammatischer Strukturen nicht ohne Auswirkungen auf die kommunizierten Inhalte bleiben kann. Ein komplexes Vokabular und eine komplexe Grammatik sind kein Selbstzweck und kein verzierendes Beiwerk; sie dienen dazu, komplexe Sachverhalte möglichst präzise und unzweideutig zu beschreiben. Eine Vereinfachung der Sprache führt deshalb unweigerlich zu einer Vereinfachung der Inhalte, sodass beim Zuschnitt von Äußerungen auf bestimmte Adressatenkreise immer eine Abwägung zwischen Verständlichkeit und Genauigkeit getroffen werden muss.
Dort, wo es nicht um Menschen mit kognitiven oder sensorischen Einschränkungen geht, kann die Lösung sprachlicher Schwierigkeiten deshalb nicht ohne Weiteres die Vermeidung oder drastische Vereinfachung komplexer Register sein. Sie ist stattdessen in einer besseren sprachlichen Bildung der Angesprochenen zu suchen. Im Falle von Deutschlernenden ist das im Prinzip selbstverständlich – der Fremdsprachenunterricht zielt immer auf die Vermittlung eines möglichst breiten Spektrums an Registern der Zielsprache ab (er wird sogar häufig dafür kritisiert, schrift- und bildungssprachlichen Registern zu viel Raum einzuräumen).
Auch im Falle von Jugendlichen, die mit Diskussionen über politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge überfordert sind, oder Erwachsenen, die mit ihrer Steuererklärung Probleme haben, kann die Verantwortung für das Glücken der Kommunikation nur bedingt auf der Seite derjenigen liegen, die sich in angemessener Weise komplexer sprachlicher Register bedienen. Auch hier ist eine sprachliche Bildung nötig, die den Umgang mit komplexer Sprache vermittelt. Dass eine solche gezielte sprachliche Bildung möglich und wirksam ist, zeigt Ewa Dabrowska: Versuchspersonen aus bildungsfernen Schichten konnten nach einer kurzen, aber gezielten grammatischen Einweisung ihr Verständnis komplexer Strukturen an das der bildungsnahen Versuchspersonen angleichen.
Natürlich sollten wir alle uns immer bemühen, unnötige sprachliche Komplexität zu meiden und unsere Sprache so einfach wie möglich zu gestalten. Aber wir dürfen sie dabei nicht leichtfertig einfacher gestalten, als es die kommunizierten Inhalte erfordern. Wir leben in einer komplexen Welt, die komplexes Denken und Handeln erfordert. Die Ausdifferenzierung der Sprache in bildungs- und fachsprachliche Register ist kein Hindernis, sondern der Weg zu einem solchen Denken und Handeln.