Ein Blick auf deutsche Verhältnisse zeigt erfolgreiche Managerinnen, Väter in Elternzeit, eine Frau als Bundeskanzlerin. Soziale Rollen scheinen von der Geschlechtszugehörigkeit entkoppelt: Jede Berufs- und Lebenskonstellation erscheint möglich – unabhängig davon, ob man weiblich oder männlich ist. Hat Deutschland also überhaupt noch ein "Sexismusproblem"? Sexismus wird definiert als individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen oder institutionelle und kulturelle Praktiken, die entweder eine negative Bewertung einer Person aufgrund ihres Geschlechts widerspiegeln oder den ungleichen Status zwischen Frauen und Männern in der Gesellschaft aufrechterhalten.
Bei genauerer Betrachtung ist das oben beschriebene komplexe und unsystematische Bild leicht zu vereinfachen: All diese Beispiele stellen Ausnahmen der Regel dar – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Das belegen objektive Indikatoren für Geschlechterungleichheit wie das "Gender Empowerment Measure" (GEM, ein Indikator für das Geschlechterverhältnis in Politik und Wirtschaft eines Landes) und der "Gender Inequality Index" (GII, ein Indikator für Geschlechtsunterschiede in Gesundheit, Wohlstand, Bildung, etc.), die jährlich in über 150 Ländern der Welt gemessen werden. In keinem der untersuchten Länder ist die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern verwirklicht:
Es kann also festgehalten werden, dass, obwohl sich die Bedingungen für Frauen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert haben (beispielsweise bezüglich der beruflichen Entwicklung), Frauen nach wie vor sowohl strukturell benachteiligt als auch von alltäglicher Diskriminierung betroffen sind.
Moderner Sexismus und Neosexismus
Angelehnt an Forschung zu modernem Rassismus wurden die Konzepte des Modernen Sexismus und Neosexismus in den USA beziehungsweise Kanada unabhängig voneinander im gleichen Jahr entwickelt, um "versteckte" Vorurteile gegenüber Frauen zu messen.
Obwohl Männer in der Regel Modernem und Neosexismus in stärkerem Ausmaß zustimmen als Frauen, stimmt auch ein substanzieller Anteil an Frauen Modernem und Neosexismus zu. Dass auch Frauen Diskriminierung leugnen und sich gegen Maßnahmen für Geschlechtergerechtigkeit aussprechen, wirkt zunächst erstaunlich. Eine Theorie, die beiträgt, diesen Befund zu erklären, ist die der Systemrechtfertigung.
Moderner und Neosexismus sind konzeptuell zwar eng verwandt, unterscheiden sich aber in ihrer Operationalisierung. Die Skala zur Messung des Modernen Sexismus bildet vor allem die erste Komponente (Leugnung fortgesetzter Diskriminierung) ab, während die Skala zur Messung von Neosexismus vorwiegend die zweite und dritte Komponente abbildet (Widerstand gegen vermeintliche Privilegien und Ablehnung von Forderungen nach Gleichbehandlung).
Ambivalenter Sexismus
Die Publikation des Konzepts des Ambivalenten Sexismus war ein Meilenstein in der Sexismusforschung. Zum ersten Mal wurde Sexismus nicht allein als negative Einstellung definiert, sondern es wurde dargelegt, dass auch vermeintlich positive Einstellungen zur Aufrechterhaltung des Status quo beitragen können. Ambivalenter Sexismus bezeichnet das Zusammenspiel aus Hostilem (feindlichem) Sexismus und Benevolentem (wohlwollendem) Sexismus. Hostiler Sexismus drückt sich in einer negativen Sichtweise auf Frauen aus. Er ist begründet in der Überzeugung, dass Männer ihren höheren Status verdienen und gleichzeitig gekennzeichnet durch die Furcht, diesen höheren Status durch Frauen verlieren zu können. Im Kern geht es um männliches Bedrohungserleben und die damit einhergehende Abwertung der Bedrohungsquelle: Hostile Sexisten gehen davon aus, dass Frauen das Ziel verfolgen, Macht und Kontrolle über Männer zu erlangen, entweder durch feministische Ideologie oder durch das Ausnutzen ihrer sexuellen Attraktivität.
Benevolenter Sexismus erscheint hingegen im Gewand der "Ritterlichkeit" beziehungsweise des "Kavaliertums". Aus der subjektiven Sicht der Benevolenten Sexisten stellt er positive Überzeugungen und Verhaltensweisen gegenüber Frauen dar. Benevolent sexistisches Verhalten lässt sich beispielsweise wie folgt beobachten: Ein Mann bietet einer Frau an, eine relativ einfache Aufgabe zu übernehmen, wie das Installieren eines Computerprogramms, damit sie sich "als Frau nicht damit herumschlagen muss". Genauer lässt sich Benevolenter Sexismus durch die drei Subfacetten protektiver Paternalismus, komplementäre Geschlechterdifferenzierung und heterosexuelle Intimität beschreiben.
Auf den ersten Blick erscheinen die drei Subfacetten freundlich, harmlos und unproblematisch: Hilfestellungen und Schutzangebote sind zunächst einmal prosoziale, positive Gesten, die eigentlich verstärkt statt verändert werden sollten. In der Tat müssen benevolente Verhaltensweisen nicht immer sexistisch motiviert sein, sie können genauso gut einfach nett gemeint sein. Benevolente Verhaltensweisen werden erst dann sexistisch, wenn sie nur für ein Geschlecht gelten und es nicht gewünscht wird, wenn Frauen sich in gleicher Art und Weise "paternalistisch" verhalten. Gleiches gilt auch für die komplementäre Geschlechterdifferenzierung: Auch positive Zuschreibungen und Komplimente werden erst dann problematisch, wenn sie einseitig sind und nur für Frauen gelten. Forschungen zeigen, dass die positiven "wärmebezogenen" Zuschreibungen nicht mit positiven "kompetenzbezogenen" Zuschreibungen (beispielsweise intelligent, eigenständig) einhergehen. Das Resultat ist, dass Frauen zwar als wunderbar charakterisiert werden, aber auch als schwach und schutzbedürftig.
Zusammenhang zwischen Hostilem und Benevolentem Sexismus
Ambivalenter Sexismus basiert auf dem Zusammenspiel zwischen struktureller Macht und dyadischer Macht:
Eine kulturvergleichende Studie in 19 Ländern zeigt, dass Hostiler und Benevolenter Sexismus überall positiv korreliert sind: Eine Person, die hostil sexistischen Aussagen zustimmt, stimmt auch mit hoher Wahrscheinlichkeit benevolent sexistischen Aussagen zu.
Hostiler und Benevolenter Sexismus hängen ebenfalls mit den oben bereits vorgestellten objektiven Indikatoren für Geschlechterungleichheit (GEM, GII) zusammen. Das bedeutet, dass je stärker Frauen strukturell benachteiligt sind und je schlechter ihre Lebensqualität im Vergleich zu Männern ist, desto mehr stimmen Menschen in diesem Land Hostilem und Benevolentem Sexismus zu. Wie bei Modernem und Neosexismus kann auch bei Ambivalentem Sexismus beobachtet werden, dass auch Frauen benevolent und hostil sexistischen Einstellungen zustimmen – obwohl sich diese Arten von Sexismus ebenfalls gegen ihre eigene Gruppe richten. Zur Erklärung wird im Folgenden die Internalisierung sexistischer Einstellungen betrachtet.
Internalisierung von Sexismus
Obwohl Frauen in allen Ländern Hostilen Sexismus stärker ablehnen als Männer, stimmen sie Benevolentem Sexismus in manchen Ländern stärker zu als Männer. Wie ist das zu erklären? Zunächst einmal ist Benevolenter Sexismus schmeichelhaft. Da Menschen gern Komplimente bekommen und es einige Frauen mögen, auf Händen getragen und beschützt zu werden, verspricht dieses Konzept erst einmal Vorteile. Forschungsergebnisse zeigen, dass es Frauen vorteilhafter finden, eine Frau zu sein, wenn sie mit benevolent sexistischen Einstellungen konfrontiert werden. Benevolenter Sexismus suggeriert, die negativen Konsequenzen, die Hostiler Sexismus mit sich bringt, ausgleichen zukönnen, sodass scheinbar kein Geschlecht im Nachteil ist und das Verhältnis zwischen Frauen und Männern insgesamt als fair und gerecht betrachtet werden kann.
Durch Benevolenten Sexismus werden Frauen- und Männerbilder propagiert, die Frauen und Männern klare Verhaltenscodes vorschreiben. Zum Beispiel wird von Frauen erwartet, nett zu sein und die Bedürfnisse anderer Menschen vor die eigenen Bedürfnisse zu stellen. Im Laufe der Sozialisation internalisieren, das heißt verinnerlichen viele Mädchen und Frauen diese Rollenerwartung. Es bilden sich sogenannte self-silencing beliefs (eine Überzeugung, sich selbst zum Schweigen zu bringen). Für ein friedliches und harmonisches Miteinander sind solche Überzeugungen natürlich vorteilhaft. Problematisch werden sie dann, wenn sie für Frauen, nicht aber für Männer gelten, und es bei Frauen weniger gern gesehen wird, wenn sie ihre Gedanken und Gefühle offen äußern. Studien zeigen, dass Frauen, die self-silencing beliefs internalisiert haben, ein niedrigeres psychologisches Wohlbefinden haben und sich weniger trauen, gegen Alltagssexismus in ihrem Leben vorzugehen.
Schließlich zeigt Forschung zur Internalisierung von Sexismus, dass einige Frauen sogar hostil sexistischen Aussagen zustimmen wie "Wenn Frauen in einem fairen Wettbewerb gegenüber Männern den Kürzeren ziehen, behaupten sie gerne, sie seien diskriminiert worden". Forschungsbefunde zeigen, dass Frauen diese Aussagen allerdings nicht auf sich selbst und auch nicht auf Frauen als soziale Kategorie beziehen, sondern gegen nicht-traditionelle Frauentypen wie Karrierefrauen und Feministinnen richten.
Negative Konsequenzen von wohlwollendem Sexismus
Wie oben beschrieben, werden Frauen durch benevolent sexistische Zuschreibungen nicht nur als wunderbar und warmherzig, sondern ebenfalls als inkompetent und schwach charakterisiert. Neben den vorgestellten Vorteilen, die Benevolenter Sexismus für Frauen mit sich bringen kann, können negative Konsequenzen auf der Mikroebene (für Frauen als Individuen) und Makroebene (für Frauen als soziale Kategorie) unterschieden werden. Benevolenter Sexismus stellt für Frauen auf der Mikroebene ein Problem dar: Studien zeigen, dass sich bei Frauen, die Benevolentem Sexismus ausgesetzt sind, die kognitive Leistungsfähigkeit reduziert.
Auf der Makroebene wird durch Benevolenten Sexismus die Geschlechterungleichheit aufrechterhalten, indem Widerstand gegen Sexismus ausgehebelt wird. Frauen akzeptieren Diskriminierung von ihrem eigenen Partner eher, wenn dieser die Diskriminierung benevolent rechtfertigt ("Das ist doch nur zu deinem Schutz").
Ambivalente Einstellungen gegenüber Männern
Da einige Frauen Benevolenten Sexismus ablehnen, andere ihn aber wiederum wertschätzen und einfordern, sind Männer oft verunsichert, da sie nicht wissen, wie sie sich "richtig" verhalten sollen. Zu dieser Problematik gibt es derzeit nur unzureichende Forschung.
Hostilität gegenüber Männern drückt sich in den Annahmen aus, dass alle Männer ihre Macht ausnutzen, ihre Kontrolle aufrechterhalten wollen und Frauen als Sexobjekte betrachten. Außerdem werden Männer in solchen Bereichen negativ beschrieben, in denen sich Frauen überlegen fühlen. Dies spiegelt sich beispielsweise in der Überzeugung wider, dass "Männer wie Babys sind, wenn sie krank sind". Benevolenz gegenüber Männern drückt sich hingegen in einer Idealisierung von Männern aus. Männer werden als Beschützer und Versorger idealisiert ("Männer behalten in Notsituationen die Nerven") – was mit der Annahme einhergeht, dass sich Frauen zuhause um ihre Männer kümmern müssen ("Auch wenn beide Ehepartner einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ist es die Aufgabe der Frau, sich zuhause um ihren Mann zu kümmern"). Schließlich spielt auch hier – wie beim Benevolenten Sexismus gegenüber Frauen – die Überzeugung eine Rolle, dass jede Frau einen Mann braucht, um ein erfülltes Leben zu führen ("Frauen sind ohne Männer unvollkommen").
Hostilität und Benevolenz gegenüber Männern sind nicht feministisch – im Gegenteil, sie basieren auf der Annahme, dass Männer von Natur aus dominant sind und sich daran nichts ändern lässt. Sie tragen ebenfalls dazu bei, den ungleichen Status zwischen Frauen und Männern zugunsten der Männer zu verstärken.
Fazit – Konfrontation von subtilem Sexismus?
Der Ausdruck sexistischer Verhaltensweisen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Während klassische Formen von Sexismus nicht mehr so stark in den "westlichen" Ländern verbreitet sind, haben subtil sexistische Verhaltensweisen wie Moderner, Neo- und Benevolenter Sexismus zugenommen. Da diese schwerer zu erkennen sind, wird das Konfrontieren sexistischer Handlungen zu einer Herausforderung. Anfang 2013 stand Sexismus im Zentrum des öffentlichen Interesses, weil eine Journalistin ein benevolent sexistisches Kompliment eines Politikers öffentlich als Diskriminierung definiert hat.
Bislang gibt es erst wenige wissenschaftliche Untersuchungen, wie subtile sexistische Vorurteile und Verhaltensweisen verändert werden können.