Wer einmal an einem Grenzübergang warten musste, bis der eigene Ausweis geprüft war und die Grenze passiert werden durfte, dem erschließt sich ihre Bedeutung als ein Zusammenhang von Staatsgebiet, Kontrollinstanz und Übergangszone. Mit dieser Erfahrung gelangt man an den Kern dessen, was Grenzen vor allem im 19. Jahrhundert bezeichneten und als was sie noch heute hauptsächlich definiert werden, nämlich territoriale Markierungen zur Absicherung von Macht, an denen der Hoheitsbereich des einen Staates aufhört und der eines anderen anfängt.
Darüber hinaus haben Grenzen aber in einem weit umfassenderen Sinne Bedeutung für das eigene Leben. Denn sie spielen nach landläufiger Meinung nicht nur in Fragen der Erziehung eine wichtige Rolle, sie strukturieren als Zeitfaktoren auch Arbeitsabläufe oder stellen im Geschichtsbewusstsein Einteilungskriterien im Hinblick auf persönliche wie epochale Zäsuren dar.
Grenzen fungieren zudem in unserem Rechtssystem als Vorschriften, die unseren sozialen Handlungsbereich organisieren und dabei regeln, in welchem Ausmaß die Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit der Anderen vereinbar ist. In den Religionen dienen sie als ein Versprechen auf das, was jenseits menschlicher Endlichkeit liegt, und in der Wissenschaft motiviert die Überschreitung von Grenzen Forschung und Innovation. Sie kann allerdings auch apokalyptische Szenarien heraufbeschwören, wenn die Grenzen des Möglichen die Grenzen des Ethischen infrage stellen.
Nicht zuletzt zeigen Grenzen die Notwendigkeit an, den eigenen Zuständigkeitsbereich abzustecken und sich von anderen zu unterscheiden, sei es in individueller, kultureller oder politischer Hinsicht. Und auch das scheinbar grenzenlose World Wide Web und die Globalisierung lassen sich nicht ohne Grenzen denken, auch wenn es dabei eher um deren Negation geht beziehungsweise um eine ständige Verschiebung von Grenzen im Sinne variabler Netzwerkgemeinschaften und virtueller Profile.
Grenzen gehören offensichtlich zu den Konstanten menschlichen Denkens und Handelns. In allen Bereichen jedoch nach einem gemeinsamen Bedeutungskern, nach der Semantik der Grenze zu fragen, stellt ein schwieriges Unterfangen dar, weil Grenzen zwar zur Identitätsbildung konstitutiv beitragen, sich selbst aber einer positiven Bestimmung entziehen. Als relationale Größen lassen sie sich in erster Linie in Abhängigkeit zu dem definieren, was sie einerseits unterscheiden und andererseits in ein Verhältnis zueinander setzen. So betrachtet stellen sie Figurationen des Dritten dar, die sich in ihrer Funktion als Abschluss paradoxerweise selbst nach zwei Richtungen hin öffnen.
Grenzen müssen darüber hinaus als komplexe Konstruktionen verstanden werden, die einer variablen Konsistenz unterliegen. Denn was eine Grenze ist und welche Bedeutung sie hat, hängt von den historischen und gesellschaftlichen Umständen ab, in denen sie auftritt. Die Wirksamkeit von Limes oder Berliner Mauer etwa unterliegt einer historischen Halbwertszeit und mit ihr zugleich die kulturelle Relevanz, die man ihnen als Grenze beimisst. Was in einem bestimmten Zeitraum den äußersten Rand des politischen Einflussbereichs markiert und damit eine existenzielle Bedrohung darstellt, kann zu einer anderen Zeit ein touristischer Programmpunkt unter vielen sein.
Mit der Einsicht in die grundlegende Konstruktion von Grenzen wird im Hinblick auf ihr Bedeutungsspektrum auch eine ihrer klassischen Unterscheidungen hinfällig, nämlich die zwischen natürlichen und künstlichen Grenzen. Der französische Historiker Lucien Febvre hat anhand von geografischen, militärischen und staatspolitischen Grenzen gezeigt, dass zwar eine typologische Differenzierung nach bestimmten Erscheinungsformen wie Flüssen, Schutzwällen oder Landmarken möglich ist, diese Grenzen jedoch nicht an sich existieren, sondern erst dazu gemacht werden.
Im Umkehrschluss bedeutet dieser Gedanke der Konstruktion, dass Grenzen der beständigen Verteidigung bedürfen, um als solche zu gelten. Das trifft für militärische Anlagen ebenso zu wie für symbolische Grenzen im Sinne von juristischen, religiösen oder sozialen Verhaltensnormen. Geschwindigkeitsverbote oder das Haltegebot an roten Ampeln beispielsweise sind zwar in der Straßenverkehrsordnung festgelegt, ihre Gültigkeit behalten sie allerdings nur dadurch, dass sie in polizeilichen Maßnahmen überprüft werden. Grenzen manifestieren sich demnach als konkrete Gebilde oder Handlungen, die auf einer gemeinschaftlichen Übereinkunft beruhen. Ändert sich diese jedoch, und zwar dadurch, dass sie nicht mehr kontrolliert und praktiziert wird, verlieren auch die Erscheinungsformen ihre limitierende Funktion. Die Zuschreibung als Grenze erlischt.
Solche Ambivalenzen sind charakteristisch für das semantische Profil der Grenze,
Wo aber beginnt hier die Grenze und wo hört sie auf? Welchen rechtlichen Bedingungen unterliegt der Zwischenraum? Und greift bei ihm nicht eine zeitliche Komponente, der zufolge die Grenze in Abhängigkeit zur Dauer bemessen werden muss, innerhalb derer man sie durchschreitet? Grenzen als Zonen haben offensichtlich einen anderen Status als klar definierte Grenzlinien. Sie sind nicht ausschließlich über ihren Status der Negation charakterisierbar, sondern weisen ein nicht geringes Potenzial an Eigendynamik auf,
Die Gegensätze im begrifflichen Radius der Grenze zeigen sich nicht zuletzt daran, dass Akte der Begrenzung sowohl positiv als auch negativ bewertet sein können. So stellen strikte Grenzziehungen im Sinne von Ausschlusspraktiken – sei es aufgrund der Religion, des Geschlechts oder der Hautfarbe – Formen der Gewaltausübung dar, während andererseits subkulturelle oder künstlerische Gruppenbildungen Freiräume eröffnen können, die dem Status der Abgrenzung einen positiven Stellenwert zusprechen. Gleiches gilt für die Übertretung von Grenzen, die beispielsweise mit dem menschlichen Entdeckungseifer positiv besetzt sein können, die aber ebenso – denkt man an die Schaffung künstlicher Intelligenz – Bedrohungs- und Untergangsszenarien heraufbeschwören. Grenzen sind also nicht gleich Grenzen, und wenn man verstehen will, woher sie die breite Bedeutungsspannweite nehmen, dann muss man einen Blick werfen auf die Geschichte ihres Begriffs und die Kontexte, in denen er verwendet wurde.
Begriffs- und Bedeutungsgeschichte
Das Wort "Grenze" stammt als Lehnwort aus dem Slawischen (von polnisch granica und tschechisch hranice) und ist bereits für das 13. Jahrhundert belegt. Seine Verbreitung findet es allerdings erst im 16. Jahrhundert durch Martin Luthers Bibelübersetzung. Hierzu heißt es im "Deutschen Wörterbuch" von Jakob und Wilhelm Grimm, Luther habe "geradezu eine vorliebe für das wort"
Über die spezifischen Verwendungsweisen hinaus liefert das Grimm’sche Wörterbuch zwei aufschlussreiche Bedeutungsvarianten für das Liminale, die sich seit dem 16. Jahrhundert herauskristallisiert haben: Eine erste beschreibt die Grenze als "gedachte linie, die zur scheidung von gebieten der erdoberfläche dient; der sprachgebrauch vergröbert vielfach den begriff, indem er ihn überträgt auf die äuszeren merkmale, denen die grenze folgt, z.b. wälle, wasserläufe, gebirgszüge".
Die zweite Bedeutung bietet eine überraschende Erkenntnis, denn unser alltagssprachlicher Gebrauch von Grenzen als ein klarer Abschluss erweist sich in der Geschichte des Begriffs als recht späte semantische Ergänzung: "während der begriff grenze im ursprünglichen sinne auf der vorstellung eines raumes diesseits und jenseits der scheidelinie fuszt, entwickelt sich wesentlich erst seit dem 18. Jh. ein gebrauch, der von dem raum jenseits der grenze mehr oder weniger absieht und das wort so den bedeutungen ‚schranke, abschlusz, ziel, ende‘ nähert."
In diesem Zusammenhang kann eine andere wortgeschichtliche Herleitung aufzeigen, dass die Mehrdeutigkeit der Grenze nicht nur auf eine Bedeutungserweiterung zurückzuführen ist, sondern auch mit der begrifflichen Herkunft zusammenhängt. So wird der Terminus in dem von Friedrich Kluge begründeten "Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache" neben seinem slawischen Ursprung mit dem germanischen Wort "Granne" in Verbindung gebracht, das mit "Borste, Stachel an Mensch, Tier u. Pflanze"
Andererseits eröffnet gerade die semantische Vielfalt der Grenze produktive Diskurse des Uneindeutigen, die vor allem in der Literatur aufzufinden sind. Es wundert daher nicht, dass es in der europäischen Literatur zahlreiche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen der Grenze gibt, bei denen der Begriff zum Teil gegen die gängigen Bedeutungsvarianten eingesetzt und um neue Aspekte erweitert wird.
Grenzen aus philosophischer Perspektive
In der Philosophie kommt der Grenze als eigenem Phänomen lange Zeit keine Aufmerksamkeit zu. Vielmehr rückt sie eher unfreiwillig ins Blickfeld, da die zentrale Frage der Unterscheidung – sei es der zwischen Natur und Kultur, Sein und Nichtsein oder Kunst und Nicht-Kunst – zwangsläufig die der Abgrenzung einschließt. In diesem Sinne wird sie erstmals eingehender von Immanuel Kant thematisiert, dem es in seiner "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik" (1783) um die Erfassung der Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit geht. Im Unterschied zu dem oben aufgezeigten Weder-noch der Grenze wendet Kant deren Bedeutung in ein Sowohl-als-auch. Eine Grenze ist für ihn "etwas Positives (…), welches sowohl zu dem gehört, was innerhalb derselben, als zum Raume, der außer einem gegebenen Inbegriff liegt".
Der Grund für diese positive Konzeption liegt darin, dass es Kant um die Grenzen der Vernunft geht, und diese eröffnen seinem Verständnis nach zugleich eine Ahnung von dem, was außerhalb ihrer Reichweite liegt, und haben insofern – und sei es minimal – daran teil. Die äußersten Ränder der Erkenntnis als bestimmt durch etwas zu begreifen, das als Unbestimmtes ihren Horizont übersteigt, adelt die Vernunft in ihrer Kompetenz, die eigenen Grenzen überhaupt denken zu können. Kants terminologischer Versuch indes, mit der Grenze ausschließlich etwas Positives zu verbinden und die negativen Eigenschaften dem Begriff der Schranke zu übertragen, hat sich nicht durchgesetzt. Allerdings können seine Überlegungen dazu beitragen, jede Form der strikten Grenzziehung – insbesondere, wenn sie politisch motiviert ist – als Illusion zu entlarven. Denn über den Ausschluss bleibt das andere immer präsent.
In dieser dialektischen Weise konzipiert auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Grenze in seiner "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" (1817/1830), wobei ihr eine weitaus existenziellere Bedeutung zukommt als bei Kant: "Die Negation ist im Dasein mit dem Sein noch unmittelbar identisch, und diese Negation ist das, was wir Grenze heißen. Etwas ist nur in seiner Grenze und durch seine Grenze das, was es ist. Man darf somit die Grenze nicht als dem Dasein bloß äußerlich betrachten, sondern dieselbe geht vielmehr durch das ganze Dasein hindurch. Die Auffassung der Grenze als einer bloß äußerlichen Bestimmung des Daseins hat ihren Grund in der Verwechslung der quantitativen mit der qualitativen Grenze. Hier ist zunächst von der qualitativen Grenze die Rede. Betrachten wir z.B. ein Grundstück, welches drei Morgen groß ist, so ist dies seine quantitative Grenze. Weiter ist nun aber auch dieses Grundstück eine Wiese und nicht Wald oder Teich, und dies ist seine qualitative Grenze. – Der Mensch, insofern er wirklich sein will, muß dasein, und zu dem Ende muß er sich begrenzen."
Die besondere Rolle, die Hegel im Unterschied zur quantitativen der qualitativen Grenze zuspricht, hat mit ihrer bedeutungskonstitutiven Funktion zu tun: Während die eine nur das Maßverhältnis angibt, trägt die andere zur semantischen Unterscheidung der Phänomene bei. In seinen weiteren Ausführungen präzisiert Hegel die qualitative Grenze als ein widersprüchliches Phänomen, weil sie "einerseits die Realität des Daseins" ausmacht – eben in ihrer Sinnstiftung – und andererseits "dessen Negation".
Für die Grenze selbst hat dies zur Folge, dass sie nach Hegel nicht als ein "abstraktes Nichts", sondern als "seiendes Nichts"
Dass gerade die Grenze als eine paradoxe Figur im Kontext postmoderner Philosophiekonzepte diskutiert wird, überrascht wenig. Neben generellen Infragestellungen – "No border is guaranteed, inside or out"
Foucaults Überlegungen scheinen auf den ersten Blick hilfreich zu sein, weil sie den Anstoß dafür geben, Grenzen als dynamische Gebilde zu begreifen. Was allerdings genau mit der Spiralbewegung gemeint sein soll, bleibt unklar. Auch die Definition von Übertretung als Seinsform ist nicht unproblematisch, handelt es sich dabei doch um einen Vorgang und nicht um einen Zustand. Und schließlich ist kritisch anzumerken, dass Foucaults Definition – trotz aller Dialektik – selbst zu eindimensional auftritt, weil sie übersieht, dass Grenzen verschiedene Formen der (geduldeten und nicht geduldeten) Übertretung aufweisen können. Insofern müsste präzisiert werden, wer wann wo und unter welchen Umständen Grenzen passieren darf und wer nicht. Damit ist grundsätzlich die Frage zu stellen, ob man der Grenze tatsächlich gerecht wird, wenn man sie ausschließlich theoretisch abhandelt, oder ob ihre Semantik sich nicht eher anhand ihrer jeweiligen Verfahren und Anwendungsweisen erschließt.
Praktiken der Grenze
Die Semantik der Grenze über ihre Praktiken zu bestimmen, heißt, sie als ein Instrument zu verstehen, mit dessen Hilfe soziale Beziehungen geregelt werden, die mitunter sehr ungleich erscheinen können. Bedenkt man beispielsweise, dass das Mittelmeer jährlich von zahlreichen europäischen Touristen überflogen wird und gleichzeitig die europäische Grenzschutzagentur Frontex Flüchtlinge von dessen Überquerung abhält, dann zeigt sich in zynischer Weise, dass Grenzen unterschiedliche Grade der Durchlässigkeit aufweisen. Man muss daher von einer "selektive(n) soziale(n) Wirksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit von Grenzen"
Jenseits dieser politischen Beispiele finden im Zusammenleben der Mitglieder einer Gesellschaft ständig Grenzpraktiken statt, vom Bildungssektor über den Sportverein bis hin zum Gesundheitssystem. Immer geht es dabei um Statusfaktoren, die über Zugangsberechtigungen und Privilegien entscheiden. Jede und jeder besitzt eine ganze Reihe von Gruppenzugehörigkeiten, verfügt also über ein persönliches Konglomerat an Grenzöffnungen und -schließungen, welches das eigene soziale Leben strukturiert. Hegels Diktum, dass Grenzen durch das ganze Dasein hindurchgehen, hat hier seine ganz konkrete Bewandtnis.
Unter dem Gesichtspunkt der Vollzugsform lässt sich das Liminale als ein Akt der sozialen Verständigung bestimmen, wobei hierunter nicht das Ideal einer machtfreien Kommunikation gemeint ist, sondern im Gegenteil eine auf Machtfaktoren begründete Übereinkunft, mit deren Hilfe sich eine Gemeinschaft nach außen abgrenzt und nach innen die Verhaltensweisen im Zusammenleben reguliert. Diese Übereinkunft als Handlungsform kann als Akt verbaler Artikulation auftreten, etwa wenn jemand durch Beschimpfungen ausgegrenzt oder über einen Sprachritus in eine Gemeinschaft aufgenommen wird. Sie zeigt sich aber ebenso an internalisierten Verhaltensmustern.
Für alle Grenzpraktiken gilt, dass sie an das strukturelle Kriterium der Wiederholung gebunden sind. Denn es genügt nicht, dass Grenzen errichtet werden. Sie müssen immer wieder Sichtbarkeit erlangen, um Gültigkeit zu beanspruchen. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass sie veränderbar sind.
Damit sei zum Schluss angedeutet, dass das Nachdenken über die Ambivalenz der Grenze dazu beitragen kann, allzu strikte Grenzpraktiken kritisch zu hinterfragen. Es soll damit dem Liminalen keine moralische Relevanz zugesprochen werden, die es an sich gar nicht besitzen kann. Aber wenn es darum geht, seine identitätsstiftende Funktion in Anspruch zu nehmen, muss sie auch denjenigen zugesprochen werden, von denen man sich unterscheidet: Das eine und das andere werden durch die Grenze gleichermaßen in ihr Recht gesetzt.
Die Einsicht in den Konstruktionscharakter dieser Praxis braucht also nicht zu einem Pessimismus zu führen, dem zufolge Grenzen überall und nirgends zugleich anzutreffen sind. Vielmehr gilt es, in der Variabilität von Grenzen eine produktive Möglichkeit zu sehen, sich selbst und die Praktiken des sozialen Umgangs immer wieder neu zu entwerfen.