Indien steht außenpolitisch und ökonomisch an einem Scheideweg. Nach Erlangung der Unabhängigkeit 1947 und dem blutigen Teilungskrieg hatte Premierminister Jawaharlal Nehru eine Politik des non-alignment formuliert, um sich im Kalten Krieg keinem der beiden Blöcke anzuschließen. Ökonomisch wurde diese Außenpolitik von der Konzeption des swaraj, der möglichst weitgehenden Autarkie unterfüttert. Mit dem Ende der Blockkonfrontation und dem Druck, die indische Wirtschaft für den Weltmarkt zu öffnen, waren Anfang der 1990er Jahre diese beiden Konstanten verschwunden. Die indische Regierung musste ihre "Außenpolitik neu erfinden".
Ökonomisch stand Wachstum im Vordergrund; außenpolitisch richtete sich Indien mit der Look-East-Politik
Doch die indische Politik benötigt aus verschiedenen Gründen eine klarere Orientierung: Erstens sind die Jahre der hohen Wachstumsraten zumindest vorläufig vorbei; damit ist die Basis für die internationale Reputation infrage gestellt, aber auch die Fortsetzung des bisherigen Entwicklungsmodells. Die derzeitige Wachstumskrise
Die lebhafte Debatte über die Notwendigkeit einer expliziten außenpolitischen Strategie spiegelt einen Selbstfindungsprozess der außenpolitischen Eliten wider,
Konzept der "strategischen Autonomie"
"Strategische Autonomie" bedeutet in Indien, unabhängig von äußerer Einflussnahme auf internationaler Ebene manövrierfähig zu sein. Das Land hat sich in vielen Fragen weitgehend von der Politik der Blockfreiheit verabschiedet.
Mit der multipolaren Ausrichtung will Indien in den wichtigen Foren der Weltpolitik – so etwa in der Welthandelsorganisation (WTO), im Internationalen Währungsfonds (IWF), in der Weltbank und im UN-System – die Ungerechtigkeiten der derzeitigen Stimm- und Machtverteilung überwinden. Neben Quoten- und Stimmrechtsreformen im IWF fordert es für sich einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die mit moralischer Rhetorik unterlegte Positionierung hat in internationalen Verhandlungen zu einem Stil geführt, den kritische Beobachter als "an unrealistic combination of arrogance and poverty" bezeichnet haben.
Dem institutionalisierten Multilateralismus auf globaler Ebene steht besonders mit Bezug auf die Region Südasien ein ausgeprägter Bilateralismus gegenüber. Er lässt sich angesichts widriger Umstände als kluge Nachbarschaftspolitik bezeichnen; kritischer betrachtet spiegelt er aber auch eine mangelnde Fähigkeit zur regionalen Integration wider. Es ist Indien nicht gelungen, ein Vertrauensverhältnis zu den kleineren Nachbarländern aufzubauen und als "wohlwollender Hegemon" aufzutreten; vor allem das Verhältnis zu Pakistan ist von Misstrauen geprägt. Am deutlichsten schlägt sich der Bilateralismus in der Annäherung an die USA nieder. Nach Jahrzehnten der Distanz in den indisch-amerikanischen Beziehungen ergaben sich mit dem Atomvertrag 2005 zur Nutzung ziviler Nukleartechnologie für Indien neue außenpolitische und außenwirtschaftliche Möglichkeiten.
Jenseits des Multilateralismus und des Bilateralismus hat in den vergangenen zehn Jahren eine neue außenpolitische Variante an Bedeutung gewonnen: die Mitwirkung in Clubs unterschiedlicher Zusammensetzung und Größe. Besonders prominent sind die G20 und die BRICS; zugleich strebt Indien aber eine Anbindung an zahlreiche regionale Foren an (ASEAN, Shanghai Kooperation, Asiatisch-Pazifischer Dialog) und hält sich für ausgewählte Fragen Club-Optionen unterhalb der BRICS-Ebene offen, etwa im IBSA- (Indien, Brasilien, Südafrika) und BASIC-Rahmen (BRICS ohne Russland).
Was will Indien im "Club der Aufsteiger"?
Indien war keine treibende Kraft zur Schaffung der BRICS. Zugleich ist die indische Regierung im BRICS-Kontext aktiv involviert und hat jüngst durch die Vergabe einer Studie über die BRICS-Langfriststrategie konzeptionell Führungsqualitäten demonstriert.
BRICS ist eine noch junge, fluide Gruppierung, der in Indien völlig unterschiedliche Funktionen zugeschrieben werden: erstens als ein Club-Modell, um als Clearing-House für die Norm- und Meinungsbildung zu globalen Problemstellungen zu fungieren und im Sinne einer Vorabstimmung die Weltordnung mitzubestimmen; zweitens als Entwicklungs- und Lerngemeinschaft mit einer selektiven Kooperation in ausgewählten Sektoren; drittens als "mächtiger Nachfolger" der Gruppe der 77 und Gegenmodell zur westlich bestimmten Weltordnung im Sinne globaler Gerechtigkeit; und viertens als Ausgangspunkt für die Gründung multilateraler, komplementärer und konkurrierender internationaler und regionaler Organisationen. Tatsächlich nutzt die indische Außenpolitik alle vier Funktionen, ohne bislang eine der Varianten zu präferieren.
BRICS hat sich dabei zunächst im Sinne der Clearing-House-Funktion als Plattform für Koordination, Konsultation und Kooperation bei Fragen von globalem Interesse bewährt. Formal betont die indische Regierung, dass gerade die beiden großen Länder China und Indien gemeinsame Interessen haben, die sie in verschiedenen internationalen Foren vorbringen.
Als ökonomische Entwicklungsgemeinschaft ist das BRICS-Forum demgegenüber, trotz der Rhetorik über die Notwendigkeit der Verflechtung und gemeinsamer Projekte (beispielsweise im Infrastrukturbereich), nur von begrenzter Bedeutung. Mit Ausnahme der jeweils engen bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zu China sind die Interdependenzen unter den BRICS-Staaten eher gering. Dies gilt insbesondere für die ausländischen Direktinvestitionen, die einen zentralen Indikator für die Verflechtung von Volkswirtschaften darstellen. Der Bestand indischer Investitionen in den BRICS liegt trotz steigender Tendenz lediglich bei 3,2 Prozent.
In jüngerer Zeit wird vor diesem Hintergrund die Funktion der BRICS als Lernforum für interne Entwicklungsstrategien betont. In der 2013 in Indien verfassten "Long-Term Vision for BRICS" wird eine Vielzahl gemeinsamer Herausforderungen benannt, etwa die Überwindung von Armut und Ungleichheit, die Herausbildung einer kaufkräftigen Mittelklasse, der Zugang zu Gesundheitssystemen oder der Bildungssektor. Der Think-Tank Gateway House hat derartige Perspektiven für Indien detailliert in den jeweiligen bilateralen Verhältnissen durchdekliniert.
Die BRICS-Gruppe soll aus indischer Sicht zudem ein Gegengewicht zur US-Dominanz schaffen und in den weltpolitischen Foren eine neue, nicht mehr westlich geprägte Architektur etablieren. Die weltwirtschaftliche Machtverschiebung mit dem hohen Wirtschaftswachstum der aufstrebenden Mächte soll sich nicht nur ökonomisch niederschlagen, sondern auch politisch durch mehr Mitsprache und Gestaltungsmöglichkeiten ausdrücken. Der indische Premierminister Singh sprach zur Eröffnung des vierten BRICS-Gipfels 2012 in Neu-Delhi von der Notwendigkeit einer raschen Reform der globalen Finanzinstitutionen. Aktuell geht es dabei um die Umsetzung der zwischen 2008 und 2010 vereinbarten Governance- und Quoten-Reform des IWF.
Die vierte Funktion, die Schaffung formeller Institutionen im Sinne eines multipolaren Institutionalismus, wurde – durchaus als Coup – beim BRICS-Gipfel 2012 mit der Einrichtung einer BRICS-Entwicklungsbank und einer gemeinsamen Währungsreserve als Stabilisierungsfonds (Contingent Reserve Arrangement, CRA) in Aussicht gestellt.
BRICS-Bank als Lackmustest
Während die BRICS-Entwicklungsbank die Weltbank und regionale Entwicklungsbanken in gewisser Weise herausfordert, ist der CRA von seinen Funktionen her eher dem IWF verwandt. Allerdings zeigt der Umsetzungsprozess, wie schwierig es ist, aus einem Club heraus eine operative Organisation zu gründen. So wurde zwar auf dem BRICS-Gipfel in Durban 2013 vereinbart, einen Stabilisierungsfonds von 100 Milliarden US-Dollar einzurichten, doch wurde die Errichtung der Bank auf den Gipfel in Brasilien im Frühjahr 2014 verschoben. Hintergrund sind nennenswerte Interessengegensätze, die zumindest fünf Punkte betreffen: den Standort, die Kapitalisierung, die Governance-Struktur, die Besetzung von Leitungspositionen sowie Kriterien hinsichtlich der Ausrichtung und möglicher Konditionalitäten.
Ob die BRICS-Bank tatsächlich eine Alternative zu den westlich geprägten Internationalen Finanzinstitutionen darstellt, wird sich daran messen lassen, ob sie innovative Mechanismen in Bezug auf Stimmrechte einführen kann. So ist als eine mögliche Option daran gedacht, dass die beteiligten Länder das gleiche Grundkapital einzahlen und auf dieser Basis gleiche Stimmrechte haben, um anschließend dann bei Aufstockungen ohne entsprechende Stimmrechte ihr ökonomisches Gewicht einbringen zu können.
Für Indien ist das Unterfangen ambivalent: Einerseits würde die Etablierung der Bank und des Fonds in das Gesamtkonzept einer multipolaren Welt passen und zugleich Indiens "strategische Autonomie" erhöhen. Andererseits ist offensichtlich, dass diese Institutionen ganz maßgeblich durch China geprägt wären. Angesichts dessen, dass Indien bislang recht gut mit den internationalen Finanzinstitutionen, aber auch der WTO "gefahren" ist, stellt sich die Frage, ob es bereit ist, seinem größten Rivalen hier einen entsprechenden Hebel zu geben. Zugespitzt gesagt: Fühlt sich Indien mit einem in den BRICS eingebrachten "Beijing Consensus" wohler als mit einem (Post-)Washington Consensus?
Wird durch die Initiativen auch die Abhängigkeit vom US-Dollar reduziert? Derzeit werden sämtliche Kapitalangaben noch in dieser Leitwährung angegeben. Zugleich wurde in Neu-Delhi im März 2012 vereinbart, im Rahmen des BRICS Interbank Cooperation Mechanism Kredite auch in lokaler Währung zu ermöglichen.
Fazit und Schlussfolgerungen
Die indischen Erwartungen an den BRICS-Club schwanken stark und sind maßgeblich durch das Verhältnis zu China geprägt. Einerseits gibt es die Auffassung, dass dieser Zusammenschluss für Indien besonders deshalb wichtig ist, weil Indien mit China "in einem Boot" sitzt.
Zentrale Zielvorstellungen der BRICS entsprechen vollkommen der indischen Außenpolitik. Es gibt aber politische und wirtschaftliche Gründe, warum die indische Regierung das BRICS-Forum als nur eine von mehreren Möglichkeiten ansieht, die eigenen Interessen auf internationaler Bühne zu verwirklichen. Die Außenpolitik Indiens ist (unabhängig von den BRICS) äußerst reaktiv und durch Zurückhaltung geprägt.
Das zunehmende Engagement Indiens in Clubs weist darauf hin, dass das Land den "exklusiven Multilateralismus" für sich entdeckt hat. Mit dem Eingehen "selektiver Koalitionen"
Dadurch, dass Indien je nach Politikfeld die Partner wechselt und einen starken Impetus hat, etablierte Mächte auszubalancieren, tut es sich schwer, mittelfristig angelegte "Paketlösungen" mit Partnern zu erarbeiten und entsprechende Koppelgeschäfte zu vereinbaren. Die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zu integrative bargaining zeigte sich etwa bei den WTO-Verhandlungen in Doha 2008. Indien geriet mit Brasilien in einen Konflikt, als dieses Konzessionen unterstützte, um zu einem Abschluss zu kommen.