Viele betrachten die Ländergruppe aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika als eine eher zufällige Konstellation von Staaten, die auf willkürliche Weise durch wenig mehr als das Akronym BRICS verbunden zu sein scheint. In diesem Artikel widerspreche ich dieser Einschätzung und erläutere meine Gründe dafür. Außerdem mahne ich BRICS-Skeptiker verschiedener Richtungen zur Vorsicht, insbesondere diejenigen aus dem globalen Norden, die entweder vorzeitig einen Nachruf auf diese Ländergruppe schreiben wollen, oder die diese – in ihrer gegenwärtigen oder zukünftigen Ausrichtung – als bedeutungslos einstufen.
Ich bewege mich dabei im folgend skizzierten Referenzrahmen: Zunächst gehe ich kurz auf den geistigen Ursprung der BRICS ein und stelle die Frage, ob dieser für den Erfolg oder das Versagen dieser Ländergruppe eine Rolle spielt. Dabei zeichne ich auch einige der wesentlichen Streitpunkte in Bezug auf die heuristische Begriffsbildung der BRICS nach. Mein Interesse für die BRICS ist eng verknüpft mit der grundlegenden Frage nach einer umfassenderen Demokratisierung der internationalen Beziehungen, sowohl in Bezug auf die internationalen Institutionen als auch bezüglich einer Stärkung der ideellen und materiellen Kapazitäten bisher ausgeschlossener Akteure, um diesen eine Mitgestaltung in den unterschiedlichen Themenbereichen der Weltpolitik zu ermöglichen. Eine besondere normative Bedeutung kommt aus meiner Sicht früheren Projekten von Süd-Süd-Kooperation zu, die spezifische Pfadabhängigkeiten mit politischen Implikationen für die BRICS-Staaten geschaffen haben. Abschließend widerlege ich einige der Behauptungen der BRICS-Skeptiker. Ausgehend von alternativen Argumentationssträngen unterstütze ich nachdrücklich Formationen wie die BRICS als lebensfähige politische Gruppierungen mit Gestaltungspotenzial.
Ursprünge
Die Abkürzung BRICS wurde 2001 von Jim O’Neill geprägt, zwei Jahre bevor sein damaliger Arbeitgeber, die Bank Goldman Sachs, das "Global Economics Paper" Nummer 99 mit dem Titel "Dreaming with BRICs: The Path to 2050" veröffentlichte. Am 1. Oktober 2003 stellten Dominic Wilson und Roopa Purushothaman dann in dem genannten Paper drei Thesen im Zusammenhang mit der gezielten Nebeneinanderstellung dieser vier Länder auf (damals gehörte Südafrika noch nicht dazu). Die erste These lautete, dass "im Laufe der nächsten fünfzig Jahre Brasilien, Russland, Indien und China – die BRICs-Volkswirtschaften – zu einer viel größeren globalen Wirtschaftsmacht werden könnten". Die zweite These deutete auf ein "überraschendes Ergebnis" hin: "Wenn die Dinge so weiter laufen wie bisher, könnten die BRICs-Volkswirtschaften zusammen in weniger als vierzig Jahren die G6 (…) überholt haben. Bis 2025 könnten sie bereits über die Hälfte der Wirtschaftsgröße der G6 ausmachen." Die dritte These schließlich war nicht weniger futuristisch und legte die Möglichkeit nahe, dass "die Liste der zehn weltweit größten Volkswirtschaften 2050 ganz anders aussehen könnte. Die weltweit größten Volkswirtschaften (nach dem BIP) werden dann möglicherweise nicht mehr die reichsten sein (nach dem Pro-Kopf-Einkommen), was zu komplexeren strategischen Entscheidungen für die Unternehmen führen wird."
Der Gedanke wurde von den vier betreffenden Staaten zum Teil kritisch aufgenommen. Die Idee, auf dieser Grundlage eine gemeinsame Gruppe zu bilden, gewann erst 2006 an politischem Schwung, als die politischen Eliten dieser Länder begannen, die öffentliche Meinung in diese Richtung zu beeinflussen, während gleichzeitig nach außen hin Vorbereitungen für einen entsprechenden Entwicklungsprozess getroffen wurden.
Trotz der Rolle, die Goldman Sachs bei der ursprünglichen Formulierung der BRICs-Idee spielte, muss diese meines Erachtens nicht notwendigerweise als das Aufzwingen eines westlichen Modells zur Gestaltung der wirtschaftlichen Zukunft der Welt verstanden werden. Die BRICS-Staaten besitzen alle einen individuellen Handlungsspielraum und eigene Identitäten, ihre Geschichte und politische Präferenzen, die bei der Erwägung, ob sie von einer solchen Ländergruppe eher Vor- oder Nachteile zu erwarten haben, eine Rolle spielen. Als Staaten verfügen sie über relativ große strategische Spielräume sowie über die erforderlichen Mittel, um unabhängig prüfen zu können, ob eine solche Formation aus individueller und kollektiver Perspektive wünschenswert und machbar ist. Dies gilt umso mehr, als der notwendige Aufwand, um ein solches Projekt in die Wege zu leiten und aufrechtzuerhalten, den Akteuren durchaus bewusst war. Goldman Sachs mag nachvollziehbar auf eine neue ökonomische Realität hingewiesen haben; die eigentliche normative Architektur, die Motivation und die praktischen Details konnten jedoch erst aus einem engagiert geführten, offiziellen Dialog zwischen den führenden politischen Entscheidungsträgern und den außenpolitischen Bürokratien dieser Länder heraus entstehen. Es sind die BRICS-Staaten selbst, die anhand der diplomatischen Praxis auf ihre eigene Art und Weise versucht haben, der Idee Form und Gehalt zu geben.
BRICS als heuristisches Instrument
Von Beginn wurde der BRICS-Gruppe mit Skepsis begegnet, angefangen beim Konzept als solches. Es wurde nicht nur über die Langlebigkeit der Ländergruppe diskutiert, sondern auch über den analytischen Wert des Konzeptes für ein besseres Verständnis der laufenden Veränderungen in der internationalen politischen Kultur. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Leslie Elliott Amijo kommt bei ihrer eingehenden Überprüfung des analytischen Wertes der BRICS zu dem Schluss, dass es sich dabei in Wirklichkeit um ein "Trugbild" (mirage) handele. Gleichzeitig plädiert sie aber dafür, das Konzept zunächst beizubehalten, da es uns zur Einsicht verhelfe, wie machtpolitische Übergangsprozesse zurzeit im internationalen System stattfinden.
Auf der Grundlage der Idee von polycentric governance bezeichnet der in Washington lehrende Politikwissenschaftler James H. Mittelman die BRICS als "Bastelei" (bricolage), die nicht als Ergebnis einer bewussten Gestaltung, sondern als Zufallsprodukt zu verstehen sei. Mit Bezugnahme auf Claude Lévi-Strauss und Jacques Derrida betont Mittelman, dass "der Bricolage-Ansatz (…) eine Grammatik, ein Instrument (bietet), um die Verknüpfung von Spontaneität und internationalen Gruppierungen zu untersuchen, ohne den einen oder anderen dieser beiden Faktoren einseitig hervorzuheben. Dieser Ansatz behandelt das Experimentieren als Funken für potenzielle Änderungen bei der Steuerung der globalen politischen Ökonomie."
Der in Montreal ansässige Theodor Tudoroiu argumentiert, dass der analytische Wert der BRICS in der verführerischen "Einfachheit" des Konzeptes liegt. Es beziehe sich auf "große, bekannte Länder, die leicht auf unserer mentalen Landkarte zu verorten sind".
Das Interessante an all diesen Darstellungen der BRICS ist, dass in ihnen einerseits das tiefe Misstrauen zu spüren ist, das dieses Konzept – sowohl in praktischer wie in analytischer Hinsicht – umgibt; gleichzeitig tendieren die Autoren aber zu einer nuancierten Haltung, die nahelegt, dass das Konzept mehr hergibt, als man gemeinhin annehmen könnte. Keiner dieser Autoren lehnt das Konzept der BRICS-Staaten grundsätzlich ab. Im Gegenteil, sie sind eher zurückhaltend und erkennen seine heuristische Relevanz an, sowie seine Bedeutung, wenn es darum geht, etablierte Strukturen der global governance zu hinterfragen.
Normative Bedeutung der BRICS
Ein wichtiger Grund, weshalb die BRICS zunehmend die Aufmerksamkeit der traditionellen Großmächte im internationalen System auf sich ziehen, sind die "Ängste", mit denen diese den Aufstieg nicht-westlicher Mächte und die damit einhergehenden Umwälzungen in der "alten Welt" beobachten.
Ob die BRICS als solche allerdings die Modalitäten des aktuellen Diskurses ändern werden, ist eine andere Frage, die in kurz- und langfristiger Perspektive wohl unterschiedlich beantwortet werden muss. Solange die tiefer liegenden, strukturellen Ungleichheiten im jetzigen internationalen System bestehen bleiben, wird es nach meiner Überzeugung auch anhaltende Bemühungen darum geben, die Privilegien der Etablierten anzufechten. Das Instrument zur Artikulation solcher Gegenmeinungen könnten Gruppierungen wie die BRICS sein; morgen könnten aber auch andere Gruppierungen mit ähnlichen oder anderen Akronymen Ansprüche stellen und den verschanzten Status quo herausfordern. Dies bringt uns zur Frage nach früheren Modellen von Süd-Süd-Kooperation – und ob deren Scheitern zwangsläufig zu einem Verstummen oder Relevanzverlust der Forderungen des globalen Südens geführt hat. Ich behaupte, dass keines der Anliegen vom Tisch ist und viele Staaten und deren Bevölkerungen im globalen Süden nur auf den geeigneten Moment warten, um diese in einer Weltordnung, die von ihnen als ungleich und untragbar empfunden wird, sowohl ideell wie auch institutionell wieder einzubringen.
Die BRICS wurden in mindestens einem Bericht mit Gruppen wie der Bewegung der Blockfreien Staaten (Non-Aligned Movement, NAM) und der Organisation erdölexportierender Länder (Organisation of the Petroleum Exporting Countries, OPEC) verglichen.
Natürlich gibt es auch im Süden BRICS-Skeptiker. So gibt der indische Historiker Vijay Prashad zu bedenken, dass die BRICS noch immer keine ernsthafte Herausforderung für die Strukturen des globalen Kapitalismus darstellten.
In einem kürzlich erschienenen Artikel wird "eine langfristige Vision für die BRICS" entworfen. Die drei indischen Autorinnen und Autoren sehen für die nächsten Jahre eine vertiefte Kooperation in folgenden Bereichen vor: institutionelle Reform, Multilateralismus, verbesserter Marktzugang, Entwicklung sowie die Nutzbarmachung indigener Wissensformen aus all diesen Ländern, um den Ertrag von Innovation und Entwicklungskooperation neben dem Technologietransfer zu optimieren.
Einer der Grundsätze guter sozialwissenschaftlicher Arbeit ist es, historisch entstehende politisch-wirtschaftliche Formationen nicht durch ein telos oder festes Endziel festzulegen. Wir sollten diesen Rat befolgen. Vielleicht sollten wir bei den BRICS einen Neubeginn wagen.