Bis vor Kurzem war die Beschreibung der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) einfach: Die BRICS sind die "neuen Giganten", die Schwellenländer auf der Überholspur, die neuen Mächte der Weltpolitik. Die Zahlen sprachen für sich – beispielsweise vergrößerte sich der Anteil der BRICS an der globalen Produktion von 16 auf 22 Prozent und der Anteil der BRICS-Gruppe am Welt-Bruttosozialprodukt (BSP) in Kaufkraftparität steigerte sich von 2000 bis 2010 um etwa zehn Prozentpunkte auf nahezu 30 Prozent (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version). Die Wirtschaftszahlen blieben während der 2008 beginnenden globalen Rezession im Vergleich zu den meisten anderen Akteuren relativ stabil. So entstand der Eindruck, dass sich eine neue, multipolare Welt schneller entwickelt, als so manchen lieb ist. "BRICS" bezeichnet damit nicht nur die Gruppe der fünf (anfangs vier) großen Wachstumsmärkte, sondern fungiert auch als eine Art "Container" oder Fixpunkt für ein "ungutes Gefühl" in den USA und in der EU, dass die "natürliche" Weltordnung – aufgeteilt in Führungsstaaten aus dem Norden und Folgende (beziehungsweise Bittsteller) aus dem Süden – zu einem Ende kommt. Die BRICS sind also Projektionsfläche sowohl für Hoffnung als auch für Sorge.
2013 scheint vor diesem Hintergrund ein schlechtes Jahr für die BRICS gewesen zu sein. Statt von aufstrebenden Giganten wird nun – in Anspielung auf das englische Wort brick – von "Ziegelsteinen ohne Mörtel"
Zudem kämpfen alle BRICS-Länder mit innenpolitischen oder wirtschaftlichen Problemen, von denen hier nur einige exemplarisch aufgezählt werden können: Für China lässt sich beispielsweise auf interne Unsicherheiten über die Richtung notwendiger ökonomischer und politischer Reformen hinweisen.
Obwohl keiner dieser Faktoren etwas an der Realität der mittel- bis langfristigen Verschiebung des Kräftegleichgewichts in der Weltwirtschaft verändert, stellen die dargestellten Herausforderungen dennoch die Erwartung kontinuierlich hoher Wachstumsraten infrage. Da die Definition der BRICS aber genau daran geknüpft ist, ist es nicht überraschend, dass eine Abschwächung in diesem Bereich vielerorts mit einer Infragestellung des Konzepts und der damit heutzutage verbundenen "politischen Institution" einhergeht. Es scheint daher ein guter Zeitpunkt für eine Reflexion über das Phänomen BRICS gekommen zu sein – denn längst weckt der Name Erwartungen über das reine Stützen der Weltwirtschaft hinaus, beispielsweise als treibende Kraft in den Reformen internationaler Institutionen, als wichtiger Faktor in den internationalen Klimaverhandlungen, als neue Entwicklungshelfer und als Vorbilder für ein (eher) staatszentriertes Modell wirtschaftlicher Entwicklung.
Hat dabei die Institution eine Bedeutung über die B-R-I-C-S, also die Ansammlung der Einzelstaaten, hinaus? Gibt es ein "Kollektiv BRICS", welches als Akteur in die Weltpolitik wirkt? Funktioniert eine solche Institution heute (oder in der Zukunft), auch wenn die Gründungsprämisse (hohe, dynamische Wachstumsraten) nicht mehr grundsätzlich erfüllt wird? Im Folgenden wird zunächst die etwas kuriose Entwicklungsgeschichte der BRICS als Institution nachgezeichnet, ehe anschließend einige Antworten auf diese Fragen skizziert werden.
Entstehung der BRICS
Der Begriff "BRIC" wurde 2001 durch Jim O’Neill geprägt, damals Chefvolkswirt der Investmentbank Goldman Sachs. Durch die Analyse und den Vergleich von Wachstumsprognosen identifizierte er vier Länder, die bis zum Jahr 2050 die G7-Staaten in ihrer Wirtschaftskraft überholen werden: Brasilien, Russland, Indien und China. Er verknüpfte seine Prognose über den Wandel der Kräfteverhältnisse mit einem Aufruf zur entsprechenden Erweiterung der G7. Es sollte aber noch einige Jahre dauern, bis sich die BRIC-Staaten dieses Konzept zu eigen machten. Die direkten Konsequenzen aus O’Neills Veröffentlichung waren vielmehr die Schaffung von BRIC-Investmentfonds.
Erste Vorläufer der BRIC(S) als Institution waren trilaterale Treffen von China, Indien und Russland, den "RIC", die außerhalb Asiens allerdings kaum Beachtung fanden. Die Außenminister der drei Staaten trafen sich zwischen 2002 und 2006 jährlich am Rande anderer Veranstaltungen. Dann begannen sie, eigenständige Treffen zu organisieren; thematisch wurden dabei insbesondere gemeinsame regionale und sicherheitspolitische Anliegen diskutiert. Die RIC-Länder treffen sich nun häufig vor oder nach den BRICS-Gipfeln. Dennoch sind die beiden Foren separat zu verstehen: RIC dient als zielgerichtetes Dialogforum dreier Großmächte einer Region mit teilweise konfliktiven Auseinandersetzungen um Grenzen, Sicherheit und Handel. BRICS hingegen ist sogar nach den Worten des ehemaligen brasilianischen Außenministers Celse Amorim "eine Gruppe, die zunächst in den Köpfen von Analysten existierte und dann als eine Art Praxis zwischen den Ländern entstand".
In der Tabelle (vgl. PDF-Version) werden einige der wichtigen Entwicklungsschritte der BRICS als politische Institution zusammengefasst. Erst nach und nach entwickelte sich ein gemeinsames Verständnis über die Funktion dieser neuen Institution, die in der Erklärung zum vierten BRICS-Gipfel in Neu-Delhi wie folgt formuliert wurde: "BRICS is a platform for dialogue and cooperation amongst countries that represent 43% of the world’s population, for the promotion of peace, security and development in a multi-polar, inter-dependent and increasingly complex, globalizing world. Coming, as we do, from Asia, Africa, Europe and Latin America, the transcontinental dimension of our interaction adds to its value and significance."
Bei BRICS handelt es sich also um eine "künstliche" Institution, deren Namen und Mitgliedschaft am Reißbrett entworfen wurden, und für die dann nach einer aktiven Vereinnahmung durch die designierten Mitglieder ein Sinn gesucht wurde. In der Disziplin der Internationalen Beziehungen gehen wir normalerweise davon aus, dass Staaten internationale Institutionen gründen, um bestimmte Interessen zu verfolgen. Diese Institutionen können geografisch oder funktionell verankert sein. Sie können universell oder exklusiv, also wie ein Club, organisiert sein. Das BRICS-Forum unterscheidet sich hiervon also fundamental, und es wird vielfach hinterfragt, ob sich auf einer solchen Basis überhaupt eine stimmige, effektive Institution entwickeln kann.
BRICS in der Analyse
Die politikwissenschaftliche Literatur hat sich intensiv mit dem Thema BRICS auseinandergesetzt. Meistens – wie auch in dieser Ausgabe von APuZ – wird überblickartig die Entstehungsgeschichte der BRICS nachgezeichnet; es folgen Kapitel zu den einzelnen Staaten. Vielleicht spricht diese Charakteristik der Literatur bereits für sich: Es ist momentan nicht unmittelbar erkennbar, welchen Mehrwert diese Institution den einzelnen Mitgliedstaaten sowie der internationalen Politik im Allgemeinen gebracht hat.
Es gibt aus politischer, strategischer und interessanterweise auch aus wirtschaftlicher Sicht keinen unerlässlichen Grund, warum genau diese fünf Länder als Gruppe wichtiger sein sollten als eine mögliche andere Zusammenstellung, die beispielsweise Indonesien, Mexiko, Südkorea oder die Türkei umfasst. Die BRICS-Staaten haben bei nüchterner Betrachtung zunächst nicht viel gemeinsam. Die Politikwissenschaftlerin Leslie Elliott Armijo hat eine umfassende, aber sicherlich nicht abschließende Auflistung der grundlegenden Unterschiede erstellt: Sie reichen von Differenzen der innenpolitischen Regime (drei Demokratien, zwei autoritäre Regime), über divergierende Wirtschaftsordnungen, Exportprofile und Globalisierungsraten bis zu unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Traditionen.
Eine weitere Herausforderung ist die Dominanz Chinas innerhalb der BRICS. Wenn man den Anstieg des Anteils der BRICS am Welt-BIP aufschlüsselt, relativiert sich der in Abbildung 1 gewonnene Eindruck (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version). Ähnliche Grafiken ließen sich für die Anteile an den weltweiten Devisenreserven, an den ausländischen Direktinvestitionen, an der industriellen Produktion und vielen anderen wichtigen Indikatoren zeichnen. Dies schürt Ängste weltweit, aber eben auch in den anderen BRICS-Staaten, die alle Besorgnis über die Überflutung ihrer Märkte durch billige chinesische Produkte äußern. Hinzu kommen andere Formen des Wettbewerbs oder sogar Rivalität unter den BRICS-Staaten, wie etwa der andauernde indisch-chinesische Grenzkonflikt. Insgesamt ist die Dominanz Chinas so ausgeprägt, dass wir uns die Frage stellen sollten, ob wir – in Bezug auf die Auswirkungen und den Einfluss auf die Welt(-wirtschaft) – zwar stets BRICS sagen, aber eigentlich nur China meinen.
Die genannten Probleme schlagen sich zum Beispiel auch in der relativ geringen Handelsquote der BRICS untereinander nieder. 2012 betrug der Handel unter den BRICS-Staaten etwa 230 Milliarden US-Dollar. Das ist zwar elfmal so viel wie im Jahr 2002, anteilsmäßig aber dennoch nur etwa zehn Prozent des gesamten Handels der BRICS-Staaten.
Vielleicht ist aber genau das auch ausreichend, um die Existenz der BRICS zu rechtfertigen. Eine alternative Sichtweise, die weniger auf den Output der Organisation schaut als auf die ihr zugrunde liegenden Prozesse, kann zu einer positiveren Beurteilung führen. Außerdem gibt es mit der Ankündigung der Gründung einer BRICS-Entwicklungsbank erste Hinweise, dass mittelfristig auch greifbare Resultate folgen könnten.
Relevanz für die Mitglieder
Als gemeinsames Interesse der Mitglieder an der Institution BRICS lässt sich ihre symbolische Kraft identifizieren. Wie erwähnt, eint die BRICS-Staaten das Streben nach einer Weltordnung und internationalen Institutionen, welche die BRICS zumindest als gleichwertige Partner begreifen. Viele Politiker und Experten aus den BRICS-Staaten empfinden den Umgang mit ihnen in der internationalen Politik immer noch als "Behandlung zweiter Klasse". Dabei sind die einzelnen BRICS-Staaten in vielen Belangen bereits Teil der etablierten Ordnung: Zwei von ihnen sind Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, und alle sind Mitglieder von IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO).
Der BRICS-Zusammenschluss bietet den Mitgliedern aber darüber hinaus die Möglichkeit, ihre jeweils individuellen Verhandlungspositionen gegenüber den traditionellen Mächten zu stärken. Wenn eine Kohärenz zwischen den nationalen Interessen besteht, werden sie im BRICS-Forum koordiniert, vor allem im Vorfeld zu Treffen der G20, der UN-Vollversammlung und anderen wichtigen internationalen Foren. Obwohl es sich bei den BRICS-Staaten um Schwellenländer handelt, äußern sie den Anspruch, für den globalen Süden zu sprechen; damit sichern sie sich auch bestimmte Privilegien, die nur Entwicklungsländern zustehen – bisher war dieser Vorgang insbesondere im Rahmen des globalen Klimaregimes zu erkennen.
Das BRICS-Forum erfüllt darüber hinaus für die einzelnen Staaten weitere, unterschiedliche Zwecke. Als größter Mitgliedstaat ist China zur Durchsetzung seiner Interessen am wenigsten auf die BRICS angewiesen.
BRICS-Entwicklungsbank: Erfolg oder schöner Schein?
Im März 2013 haben die BRICS-Staaten als eines der Resultate ihres fünften Gipfeltreffens in Durban angekündigt, eine eigene Entwicklungsbank (BRICS Development Bank, BDB) als Alternative zur Weltbank zu gründen. Diese soll in den fünf Ländern sowie – potenziell – in anderen aufstrebenden Märkten in Infrastruktur und andere Projekte investieren. Eine solche Zielsetzung könnte definitiv zur Verbreiterung der Machtbasis der BRICS beitragen, denn im Bereich der Infrastruktur gibt es weltweit eine Finanzierungslücke, deren Schließung insgesamt zu einer nachhaltigeren wirtschaftlichen Entwicklung führen könnte. Die BDB könnte damit ein wichtiger Faktor in der internationalen Finanzarchitektur werden und für eine bessere Repräsentation der Schwellen- und Entwicklungsländer sorgen. Es wird bisweilen außerdem vermutet, dass die BDB als Hebel für die raschere Durchsetzung für seit Langem überfällige Reformen in der Weltbank und dem IWF wirken könnte.
Im September 2013 wurden erste Vorschläge zur institutionellen Struktur und finanziellen Ausstattung der Bank angekündigt, dennoch sind viele Fragen bislang offen geblieben. So stehen zum Beispiel noch schwierige Beschlüsse aus über den Standort der Bank, ihren theoretischen Ansatz, ihr Personal und ihre Stellung in der globalen Entwicklungsarchitektur (neben anderen internationalen, aber auch neben den jeweils nationalen Entwicklungsbanken der einzelnen BRICS-Staaten). Auch ist die grundsätzliche Frage nach der Kapitalausstattung der Bank noch ungeklärt. Beispielsweise würde der momentan geplante Kapitalgrundstock von 50 Milliarden US-Dollar bei paritätischer Teilnahme aller Staaten bedeuten, dass Südafrika etwa 2,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die BDB aufwenden müsste, während China vermutlich keinerlei Probleme hätte, diesen Betrag beizusteuern. Dies weist nochmals auf die bereits angesprochene Herausforderung der Dominanz Chinas für die BRICS hin; eine zu offensichtliche Führungsrolle Chinas in der BDB wäre für die anderen Staaten vermutlich nicht akzeptabel.
Bis zur Gründung der BDB, die für 2015 geplant ist, ist also in grundlegenden Punkten noch ein Konsens zu finden beziehungsweise sind entsprechende schwierige Entscheidungen zu treffen. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und politischen Differenzen innerhalb der BRICS ist daher ein gehöriges Maß an Skepsis bezüglich der tatsächlichen Implementierung des Projekts angebracht.
Fazit
Die Einschätzungen über die momentane und zukünftige Bedeutung der BRICS sind zweigeteilt. Die jeweiligen Lager stimmen dabei nicht ganz überraschend zum Großteil mit der geografischen Herkunft der urteilenden Beobachter überein. Vor allem in den BRICS-Staaten selbst wird die politische Institution BRICS mit sehr viel Hoffnung und sogar Enthusiasmus betrachtet, vor allem als Dialogforum zwischen aufsteigenden Mächten, denen bisher zumindest in gewissem Maße der Zugang zur "ersten Liga" der Weltpolitik durch die traditionellen Mächte verwehrt wurde. Insbesondere von europäischen und US-amerikanischen Beobachtern sind im Gegensatz dazu eher pessimistische Stimmen über die Zukunftsfähigkeit der Institution zu vernehmen.
Für eine eher skeptische Haltung spricht insgesamt, dass die BRICS ihr Profil als Institution bisher nur so scharf gefasst haben, dass es ihrem individuellen Spielraum nicht im Wege steht – zum Beispiel auch beim Ausbau der Beziehungen zu den transozeanischen Partnern USA und EU. In diesem Sinne lassen sich etwa auch die gemeinsamen Erklärungen der Staaten im Anschluss an die jährlichen Gipfeltreffen verstehen: Stets sind sie auf kleinstem gemeinsamem Nenner formuliert, sodass das Risiko eines Interessenkonflikts und einer Abspaltung eines oder mehrerer Staaten minimiert wird (im Falle Syriens zum Beispiel haben sich die BRICS-Staaten zunächst darauf beschränkt, den ungefährdeten Zugang humanitärer Organisationen zum Krisengebiet zu fordern).
Eine optimistischere Sichtweise lässt sich rechtfertigen, wenn wir uns auf die BRICS als klare ökonomische Kategorie konzentrieren. Wie der US-amerikanische Autor Zachary Karabell schreibt, werden wir in Zukunft auf das erste Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends zurückblicken und den Aufstieg der Schwellenländer und die darauffolgende globale Machtverschiebung als zentrales Element sehen, insbesondere wenn wir das Wachstum einer signifikanten Mittelschicht in Indien und China und die Erfolge bei der Armutsbekämpfung in Asien und Afrika betrachten.
Mit dem Versuch einer Einschätzung zu den BRICS begibt man sich also auf unsicheres Terrain zwischen zwei sich diametral gegenüberstehenden Lagern. Realistisch ist aber wohl, dass die BRICS sehr gut als ein Forum für die "Koordinierung gewisser diplomatischer Taktiken"
Ebenso ist von den BRICS nicht zu erwarten, dass sie als radikaler Gegenpol zu den etablierten Mächten wirken. Dennoch schafft der Aufstieg der BRICS als Einzelstaaten für die internationale Gemeinschaft die Notwendigkeit, diese Staaten besser und partnerschaftlicher in bestehende internationale Institutionen einzubinden. Dies ist vermutlich der einzige Weg, diese Institutionen auf längere Sicht hin funktional zu halten. Die BRICS werden diesen schwierigen Prozess der Adaption sicherlich als gemeinschaftliche Institution, aber auch als Einzelstaaten mitgestalten; es liegt aber sicherlich nicht in ihrem Interesse, die gegebene Weltordnung zu revolutionieren.