Die internationale Aufmerksamkeit gilt im Nahen Osten derzeit den schwer prognostizierbaren Ereignissen in Syrien und Ägypten. Die anfänglichen Hoffnungen sind angesichts der Entwicklungen in den postrevolutionären Ländern der Ernüchterung gewichen. Nichtsdestotrotz liegt im Folgenden das Augenmerk auf einer für die Zukunft der Region nicht weniger bedeutenden Entwicklung: die Rolle der Kurden. Laut Schätzungen leben bis zu 30 Millionen Kurden im Länderviereck Türkei, Irak, Iran und Syrien. Die überwiegend sunnitischen Kurden repräsentieren das größte Volk der Welt ohne einen eigenen Staat. In den meisten Heimatländern existiert folglich wenig Interesse an einer kurdischen Eigenständigkeit, Autonomie oder föderativen Staatsstrukturen. Im Gegenteil: In der Vergangenheit war die Bevölkerungsgruppe systematischer Ausgrenzung und Diskriminierung, aber auch massiver Verfolgung und Unterdrückung ausgesetzt.
Mit den aktuellen Ereignissen im Nahen Osten erhält die Kurden-Frage (wieder) einen besonderen Stellenwert. In der weltweiten Berichterstattung ist stellenweise die Rede von einem "Kurdischen Frühling" oder einer "kurdischen Renaissance". Im Nordirak genießen die Kurden durch die Autonome Region Kurdistan (ARK) bereits seit einigen Jahren relative Autonomie; der Rückzug der Truppen Baschar al-Assads aus den kurdischen Siedlungsgebieten in Syrien hat dem Autonomiebestreben der syrischen Kurden weiteren Auftrieb gegeben; und letztlich stärkte auch die im März 2013 erfolgte Waffenruhe zwischen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und der türkischen Regierung bei den türkeistämmigen Kurden wieder den Glauben an eine friedliche Lösung der Kurden-Frage. Die Euphorie über einen "Kurdischen Frühling" ist zwar übertrieben, hat aber einen wahren Kern: Während sich die regionalen geopolitischen Parameter der vergangenen Jahrhunderte größtenteils zuungunsten kurdischer Autonomiebestrebungen auswirkten, kehren die Kurden im 21. Jahrhundert als Akteur auf die regionale Bühne zurück – scheinen gar zu den "Gewinnern" der aktuellen Unsicherheiten im Nahen Osten zu gehören.
Selbstbewusste Kurden im Irak.
Die Kurden im Nordirak sind die einzigen, die politische Autonomie in ihrem "unsichtbaren Kurden-Staat" genießen. Die 2005 verabschiedete irakische Verfassung erkennt offiziell den Status der kurdischen Autonomiebehörde, das Parlament Kurdistans und Kurdisch als Amtssprache an. Viele wichtige Entscheidungsträger des irakischen Staates sind kurdischer Herkunft, wie etwa Staatspräsident Dschalal Talabani oder Außenminister Hoschjar Zebari. Ebenso ist ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit weit fortgeschritten: Der ARK stehen 17 Prozent der irakischen Staatseinnahmen zu (rund 13 Milliarden US-Dollar). Die drei boomenden kurdischen Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaimaniyya sind mit zwölf Prozent Wirtschaftswachstum gemessen am Pro-Kopf-Einkommen die am weitesten prosperierenden Städte Nordiraks. Mit 50 transnationalen Unternehmen (darunter viele türkische) hat die ARK bereits Verträge abgeschlossen. Darüber hinaus existieren über zehn Universitäten im Nordirak und zwei internationale Flughäfen, über die sich die Kurden-Region weltweiten Anschluss erhofft.
Dieser positiven inneren Entwicklung steht allerdings eine negative Dynamik in den Beziehungen zwischen der ARK und der irakischen Zentralregierung gegenüber. Territorialkonflikte sowie Streitigkeiten in Sicherheits- und Wirtschaftsfragen bestimmen die politische Agenda. Bei den Gebietskonflikten geht es um die Kontrolle über die in der Verfassung als "umstritten" definierten Regionen, insbesondere die ölreichen Städte Kirkuk und Mosul. Immer wieder eskalieren diese Grenzkonflikte, wie etwa im März 2013, als sich irakische Infanterie- und Panzereinheiten und kurdische Peschmerga-Kämpfer gegenüberstanden. Ein weiterer Streitpunkt ist die Verteilung der Öl- und Erdgasreserven in der Kurden-Region. Ihre Vermarktung müsste nach Ansicht der Zentralregierung über Bagdad abgewickelt werden. Doch die kurdische Autonomiebehörde beschloss im Jahr 2007 ihr eigenes Gesetz, das die Erschließung der Öl- und Gasfelder auch in den umstrittenen Gebieten zulässt. Trotz dieser verfassungsmäßigen Grauzone haben über 40 ausländische Ölfirmen, darunter Energieriesen wie Exxon, Total und Chevron, Verträge zur Nutzbarmachung der Ölfelder mit der kurdischen Autonomiebehörde geschlossen – zum Unmut der Zentralregierung, die diese unilateralen Verträge als verfassungswidrig betrachtet.
Willensstarke Kurden in der Türkei.
Den Kampf um die politisch-kulturelle Gleichberechtigung führt seit Jahrzehnten auch die kurdische Nationalbewegung in der Türkei. Obwohl mehrere Aufstände der türkeistämmigen Kurden die Republik seit ihrer Gründung 1923 herausgefordert haben, ist ihnen trotz staatsbürgerrechtlich formaler Gleichstellung die Anerkennung ihrer kulturellen Identität bislang verwehrt worden. Verschärft wird die Situation dadurch, dass die wirtschaftliche Lage in den kurdischen Siedlungsgebieten in Südostanatolien im Vergleich zu anderen Teilen des Landes sehr schlecht ist und es auch kaum staatliche Förderprogramme gibt. Trotz Fortschritten im rechtlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Status türkeistämmiger Kurden, bleiben zentrale Forderungen der kurdischen Bewegung nicht erfüllt. Dazu gehören die Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde bei Parlamentswahlen, die Einführung des Kurdischen als gleichberechtigte Unterrichtssprache, die Freilassung von politischen Häftlingen, die Stärkung der Kommunalverwaltungen und die Einführung föderaler Elemente. Zwar keimten mit dem 2013 gestarteten "Lösungsprozess" neue Hoffnungen auf – die direkten und halböffentlichen Verhandlungen zwischen Staatsvertretern und dem PKK-Führer Abdullah Öcalan, der seit 1999 in Haft sitzt, sind ein Novum. Der Ausgang der türkisch-kurdischen Versöhnungsversuche bleibt jedoch ungewiss, hängt dieser nicht zuletzt wesentlich davon ab, wie weit die Zugeständnisse der türkischen Regierung gehen werden (bislang betonen sie einzig das Ende der Kampfhandlungen), was auch die Glaubwürdigkeit und das gegenseitige Vertrauen beeinflusst.
Politisch erwachte Kurden in Syrien.
Die syrischen Kurden sind im Gegensatz zu den türkeistämmigen und irakischen politisch beziehungsweise ökonomisch weniger stark. Das geht in erster Linie auf ihre geografische Zerstreuung, politische Fragmentierung und ihre geringeren ökonomischen Ressourcen zurück. Ihr Hauptsiedlungsgebiet liegt in der al-Dschazira-Region im Nordosten, die von den Kurden auch als Rojava (Westkurdistan) bezeichnet wird. Da die Kurden als Gefahr für den Baath-Nationalismus galten, waren sie jahrzehntelang Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Diese reichten von einer sprachlich-kulturellen Ausgrenzung über die Unterdrückung von Parteien bis hin zur Ausbürgerung von über 100.000 Kurden im Jahr 1962.
2004 brachen in der kurdischen Hochburg Qamischli Unruhen gegen das syrische Regime aus, bei denen etliche Demonstranten von Sicherheitsbehörden erschossen und verhaftet wurden. Die enorm fragmentierte politische Landschaft der Kurden hat damals ein konzentriertes und damit effektiveres Vorgehen gegen das autokratische System Assads unmöglich gemacht. Der syrische Bürgerkrieg änderte auch hier die Vorzeichen: Mit dem Rückzug des syrischen Militärs aus kurdischen Siedlungsgebieten bekamen Autonomiebestrebungen Aufwind. Das politische Vakuum ließ jedoch schnell innerkurdische Machtkämpfe aufleben. Erst durch die Vermittlung des nordirakischen Kurden-Führers Masud Barzani vereinte sich die syrisch-kurdische Opposition im Kurdischen Nationalrat und gründete für die Selbstverwaltung der kurdischen Städte das Hohe Kurdische Komitee. Die Autonomiebestrebungen sind mit den Dynamiken des syrischen Bürgerkriegs eng verwoben: Zum einen werden auch die kurdischen Regionen vermehrt zum Ziel von Anschlägen dschihadistischer Gruppen wie die al-Nusra-Front mit zahlreichen zivilen Opfern. Zum anderen lehnen andere syrische Oppositionsgruppen das kurdische Bestreben ab: Der Chefkommandeur der Freien Syrischen Armee (FSA) Selim Idriss warnte bereits, dass er das Autonomiebestreben der Kurden nicht akzeptieren werde. Ein "Bürgerkrieg im Bürgerkrieg" bleibt daher für Syrien keineswegs ausgeschlossen.
Machtlose Kurden im Iran.
Auch die iranischen Kurden sind Repressionen und Benachteiligungen ausgesetzt. Die mehrheitlich sunnitischen Kurden passen mit ihrer ethnisch-religiösen Differenz nicht in das homogen definierte persisch-schiitische Ethnizitätskonzept des Iran. Dennoch waren es die Kurden im Iran, die 1946 den ersten (wenn auch kurzlebigen) offiziellen Kurden-Staat, Republik Mahabad, ausgerufen haben. Parteien wie die Demokratische Partei Kurdistan im Iran (DPKI) oder die Komala sind gefangen in politischen Grabenkämpfen und haben sich schon mehrmals gespalten; andere Organisationen wie die Kurdische Vereinigte Front oder die Koalition kurdischer Reformisten wurden von den Wahlen ausgeschlossen. Daneben versuchen manche Gruppen ihre Forderungen auch mit Waffengewalt durchzusetzen wie die Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK). Dabei scheut auch das iranische Regime nicht vor Gewalt zurück: Kurdische Oppositionelle wurden im Auftrag des Regimes auch im Ausland ermordet, wie etwa der Parteivorsitzender der DPKI Abdul Rahman Ghassemlou 1989 in Wien oder sein Nachfolger Sadegh Scharafkandi 1992 in Berlin. Das letzte prominente politische Opfer ist der kurdische Oppositionelle Sivan Ghaderi, der 2005 von Sicherheitskräften getötet und anschließend mit einem Jeep durch die Straßen der Stadt Mahabad geschleift wurde. Daraufhin kam es in den kurdischen Gebieten zu Unruhen mit zahlreichen Toten und Verhaftungen.
Regionale Auswirkungen
Die oben skizzierten Konflikte zwischen den jeweiligen kurdischen Minderheiten und ihren Regierungen sind mittlerweile paradigmatisch miteinander verbunden. Insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und der syrischen Kurden-Partei PYD sowie die offene türkische Unterstützung für die FSA provozieren grenzüberschreitende Kampfhandlungen – und gefährden damit die türkische und allgemein die regionale Stabilität. Die Türkei befürchtet angesichts des Autonomiebestrebens der PYD einen regionalen Domino-Effekt und droht mit Konsequenzen – es drängen sich Parallelen auf zu den feindlichen Beziehungen zwischen der Türkei und nordirakischen Kurden in den 1990er Jahren.
Auch der Erfolg der Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK hängt damit zusammen, welche Strategie langfristig im Umgang mit der syrischen PKK-Schwesterorganisation eingeschlagen wird: Scheitern die Gespräche mit der PKK und setzen parallel die Kurden in Syrien ihre De-facto-Autonomie in einen De-jure-Status um, wird das vermutlich den Wunsch der türkeistämmigen Kurden nach mehr Eigenständigkeit dynamisieren. Die Türkei ist jedoch aus innen- wie auch geopolitischen Gründen auf die Fortführung des Friedensprozesses angewiesen. Innenpolitisch, da die Regelung der Minderheitenfrage eine wesentliche Baustelle des türkischen Demokratisierungsprozesses ist. Geopolitisch, da sich die PKK durch die Friedensgespräche auch langfristig aus der Einflusssphäre der (schiitischen) Zweckallianz zwischen Damaskus und Teheran lösen könnte. Damit eröffnet sich die Möglichkeit für eine (sunnitische) türkisch-kurdische Zusammenarbeit, die den Einfluss des Iran im Nahen Osten eindämmen könnte. Dass der Iran diese Entwicklung nicht hinnehmen möchte, zeigt sich unter anderem daran, dass Qassem Soleimani, Kommandeur der Quds-Brigaden (eine Einheit der Iranischen Revolutionsgarde), dem PKK-Oberkommandeur Murat Karayılan logistische Unterstützung und Waffen anbot, falls die PKK den eingeschlagenen Friedenskurs aufgeben und weiterkämpfen sollte. Gestärkt wird die türkisch-kurdische Kooperation durch das Zusammenwirken mit den Kurden im Nordirak – die wiederum benötigen die Türken als "Bollwerk" gegen die irakische Zentralregierung des Schiiten Nuri al-Maliki, der für seine Nähe zum Iran bekannt ist.
Die USA waren mit der Einrichtung der Flugverbotszone im Jahr 1991 Geburtshelfer der ARK. Traditionell standen die US-Regierungen den Kurden im Nordirak näher als der PKK und ihrer Schwesterorganisation in Syrien, weil sie stets auch Rücksicht auf die Interessen des NATO-Partners Türkei nehmen mussten. Angesichts der aktuellen Entwicklungen im Zuge des "Arabischen Frühlings" wird eine Neujustierung der europäischen und US-amerikanischen Kurden-Politik notwendig. Die Frage des Umgangs mit der PKK, die von der EU wie auch den USA als Terrororganisation eingestuft wird, berührt die Dynamiken des (regionalen) Kurden-Konflikts und beeinflusst somit auch die Sicherheitspräferenzen Washingtons und der europäischen Staaten mit Blick auf die Region insgesamt. Die Gefahr durch dschihadistische Gruppen im Nahen Osten unterstreicht zusätzlich die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit mit allen säkularen Kräften der Region, zu denen auch die Mehrheit der verschiedenen kurdischen Bewegungen gehört. Die politische Emanzipation der Kurden ist ein wesentlicher Baustein für eine weitere Befriedung und Demokratisierung der nahöstlichen Krisenregion, von der nicht nur regionale Staaten, darunter Israel, sondern auch Anrainer, wie etwa EU-Mitgliedstaaten, profitieren. Vor diesem Hintergrund gilt es, die syrischen Kurden als Akteure der Friedenskonferenzen zu Syrien einzubeziehen.
Fazit
Die Kurden waren im 20. Jahrhundert oft Spielball der Großmächte und hatten meistens das Nachsehen, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen in der Region ging. Im 21. Jahrhundert scheinen sich die geopolitischen Parameter des Nahen Ostens zu ihren Gunsten zu verändern. Doch sollte die Gründung eines unabhängigen Kurdistans nicht vorrangiges Ziel sein: Einerseits wäre die Gründung eines solchen Staates mit Blick auf die kritische Haltung ihrer Heimatländer derzeit unrealistisch, andererseits haben die auf über vier Staaten verteilten Kurden zunächst genug interne Probleme zu lösen. Solche Gedankenspiele würden die ohnehin fragile Ordnung der Region zusätzlich destabilisieren. Denkbar wären Modelle der ökonomischen Integration auf Basis einer stärkeren Autonomie an den Schnittstellen der kurdischen Siedlungsgebiete, die neben der regionalen Wirtschaft auch die Demokratiefähigkeit fördern würden. Die bestehenden Grenzen wären damit de jure nicht aufgehoben, wären de facto aber weniger hinderlich bei der Institutionalisierung grenzüberschreitender Kooperationsmechanismen. Damit würden sich auch neue Handlungsmöglichkeiten für ein gewaltfreies Bestreben um weitere Selbstbestimmungsrechte eröffnen. Es gilt, das sich gegenwärtig öffnende window of opportunity für die Kurden – erstmals haben sie nach einem Jahrhundert die Gelegenheit, ihre Rolle in der Region neu zu definieren – klug zu nutzen. Der Westen wäre gut beraten, den gewaltfreien Kampf für Selbstbestimmung mit Interesse zu begleiten und dieses Mal die Rechnung im Nahen Osten nicht ohne die Kurden zu machen.