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Schutzverantwortung und humanitäre Intervention

Peter Rudolf

/ 15 Minuten zu lesen

Der NATO-Einsatz gegen das Gaddafi-Regime 2011 war der erste Krieg, der politisch weithin mit dem Prinzip der "Schutzverantwortung" (Responsibility to Protect, R2P) gerechtfertigt wurde. Nach diesem Prinzip hat die internationale Staatengemeinschaft zwar nicht rechtlich, jedoch moralisch eine subsidiäre Verantwortung, massenhafte Menschenrechtsverletzungen notfalls auch mit militärischer Gewalt zu verhindern, wenn die Regierung des betreffenden Landes ihrer Schutzverantwortung gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern nicht gerecht wird.

Zwar ist die R2P-Diskussion eine Fortsetzung der Debatte um die "humanitäre Intervention", sofern es um den harten Kern der Problematik geht – die Frage eines militärischen Eingreifens. Doch das R2P-Prinzip hat den Diskurs über den humanitär motivierten Einsatz militärischer Gewalt verändert: Im Falle schwerster Menschenrechtsverletzungen ist nicht mehr eine Intervention begründungspflichtig, sondern der Verzicht darauf. Die Berufung auf R2P begünstigt somit tendenziell einen Moralismus, der die Dilemmata humanitär begründeter Kriege eher ignoriert, statt sie in ihrer Vielschichtigkeit ethisch zu reflektieren. Notwendig ist indes eine politisch-ethische Bewertung, die dem komplexen Problem eines menschenrechtlich begründeten Einsatzes militärischer Gewalt gerecht wird.

Schutzverantwortung als normatives Prinzip

Selten hat ein Begriff so schnell Eingang in das politische, ethische und völkerrechtliche Vokabular gefunden wie jener der "Schutzverantwortung". Wahlweise ist dabei von einem Konzept, einem Prinzip, einer Norm oder einer Doktrin die Rede – schon diese schillernde Konnotation verweist auf unterschiedliche Deutungen. Die den Begriff ursprünglich propagierende International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) verstand R2P als Prinzip, Regierungen sprechen meist von einem Konzept, und in der akademischen Literatur wird R2P oft als eine (entstehende) Norm bezeichnet. Zu unterscheiden ist zwischen der breiten Konzeption von R2P, die der ICISS-Bericht aus dem Jahr 2001 (R2P 2001) vorstellt, und der engen, wie sie das Abschlussdokument des VN-Weltgipfels von 2005 enthält (R2P 2005).

Als die ICISS ihre Arbeit 2001 aufnahm, stand dahinter die Absicht, der Debatte um die humanitäre Intervention nach den Erfahrungen in Ruanda und auf dem Balkan einen neuen diskursiven Rahmen zu geben. Mit der Einrichtung dieser Kommission hatte die kanadische Regierung das Anliegen des damaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen (VN) Kofi Annan aufgegriffen, einen Konsens in der Frage menschenrechtlich begründeter Militärinterventionen zu schaffen. Der Begriff "humanitäre Intervention" wurde bewusst nicht mehr benutzt. Stattdessen verwendet der Kommissionsbericht die Begriffe "Intervention" und "militärische Intervention". Damit wurden die Vorbehalte berücksichtigt, die humanitäre Organisationen der ursprünglichen Bezeichnung entgegenbrachten – sie sahen darin eine Etikettierung militärischer Gewalt, in der bereits eine positive Konnotation mitschwingt.

Inhaltlich machte sich die Kommission eine Neuinterpretation des Souveränitätsbegriffs zu eigen – Souveränität wurde nicht mehr als Kontrolle verstanden, sondern als Verantwortlichkeit. Die Schutzverantwortung teilt sich zwar in drei Dimensionen auf: Prävention, Reaktion und Wiederaufbau. Im Mittelpunkt des Berichts steht jedoch der harte Kern der militärischen Interventionsproblematik. In extremen Fällen sei, so die These, ein militärisches Eingreifen gefordert, wenn nationale Regierungen ihrer Schutzverantwortung nicht gerecht werden. Zum einen gilt dies dann, wenn ein Verlust an Menschenleben in großem Ausmaß zu beklagen ist oder droht, ob durch staatliches Handeln oder staatliches Schutzversagen; zum anderen in Fällen "ethnischer Säuberungen" großen Ausmaßes.

Die Schutzverantwortung in dem Sinne, wie sie unter dem Dach der VN Zustimmung erfahren hat, ist in einigen Punkten enger gefasst. Das Abschlussdokument des Gipfeltreffens 2005 spricht von der Verantwortung, Bevölkerungen vor Genozid, Kriegsverbrechen, "ethnischer Säuberung" und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. R2P 2005 enthält somit eine Liste spezifischer Fälle von Verbrechen. Der internationalen Gemeinschaft, vertreten durch die VN, fällt eine subsidiäre Rolle zu, wenn nationale Regierungen ihrer Schutzverantwortung offenkundig nicht nachkommen. Dies umfasst im konkreten Fall auch den Einsatz von Zwangsmitteln nach Kapitel sieben der VN-Charta, falls sich friedliche Mittel als unangemessen erweisen.

Bei R2P 2005 ist, wenn es um Zwangsmittel geht, allerdings nicht von "Verantwortung" die Rede, sondern von "Bereitschaft". Von einer Interventionspflicht wird nicht gesprochen. R2P 2005 enthält des Weiteren keinen ausdrücklichen Verweis auf das dritte Element von R2P 2001: die Verantwortung für den Wiederaufbau. Auch benennt dieses Dokument keine Kriterien für eine legitime Intervention, wie sie bei R2P 2001 zu finden sind: Dazu gehören ein gerechtfertigter Grund, rechte Absicht, Ultima Ratio, Proportionalität und vernünftige Erfolgsaussichten. All diese 2001 genannten Merkmale entstammen der Bellum-iustum-Tradition, an die während der 1990er Jahre in der Debatte um die "humanitäre Intervention" angeknüpft wurde.

Nach einhelligem Verständnis ist das Prinzip der Schutzverantwortung, genauer die militärische Interventionskomponente, jedoch noch keine völkerrechtlich verpflichtende Norm. In wesentlichen Punkten spiegelt das Prinzip Verpflichtungen im menschenrechtlichen Bereich wider. Eine Vielzahl von Menschenrechtsnormen hat das Verständnis legitimer staatlicher Gewalt verändert – und damit das Verständnis von Souveränität. Gewisse menschenrechtliche Grundnormen – Recht auf Leben, Verbot von Folter und Sklaverei, Verbot der Diskriminierung – gehören völkerrechtlich zum ius cogens, zum zwingenden Recht, das keine Abweichungen erlaubt. Sie sind zugleich Erga-omnes-Verpflichtungen, Pflichten also, deren Einhaltung nicht nur einem bestimmten anderen Rechtssubjekt geschuldet ist, sondern der gesamten Staatengemeinschaft und anderen Völkerrechtssubjekten. Daraus ergibt sich ein Eingriffsrecht bei Verletzung fundamentaler Menschenrechte.

Zum ius cogens gehört allerdings auch das Gewaltverbot, von dem die individuelle und kollektive Verteidigung nach Artikel 51 der VN-Charta ausgenommen ist. Aufgrund des Gewaltverbots ist eine militärische Intervention nur dann unzweideutig erlaubt, wenn der VN-Sicherheitsrat eine Bedrohung des internationalen Friedens konstatiert und Zwangsmaßnahmen nach Kapitel sieben autorisiert.

Der eigentlich innovative Kern des Schutzverantwortungsprinzips, die Interventionspflicht, ist keine bindende Rechtsnorm. Dafür mangelt es dem Prinzip an wesentlichen Voraussetzungen, darunter insbesondere Allgemeingültigkeit, Klarheit, Konsistenz und vor allem auch an einer entsprechenden Rechtspraxis. Staaten wollen sich nicht rechtlich zu einer Intervention verpflichten lassen. Völkerrechtlich hat R2P keine signifikanten Folgen, es bleibt vor allem ein politisch-moralisches Konzept. Im Kern geht es dabei um einen Bewusstseinswandel, um die Schaffung "einer reflexhaften internationalen Reaktion, dass massenhafte Verbrechen, die stattfinden oder bevorstehen, alle und nicht niemanden etwas angehen".

Im R2P-Diskurs hat die alte Idee der humanitären Intervention ihre neue Ausprägung gewonnen. Doch umfasst die Schutzverantwortung weit mehr; denn die militärische Intervention ist nur ein Element der – um den gegenwärtigen VN-Jargon zu benutzen – dritten Säule von R2P, der zeitnahen und entschlossenen Reaktion. Insofern haben die Verfechter des R2P-Prinzips recht, wenn sie gegenüber Kritik darauf verweisen, es gehe nicht nur um militärische Interventionen. Was unter Prävention und Wiederaufbau diskutiert wird, fasst im Wesentlichen zusammen, womit die VN und andere Organisationen bereits in den 1990er Jahren intensiv beschäftigt waren und weiterhin beschäftigt sind. Insofern trifft die Einschätzung zu, R2P sei in vielem "alter Wein in neuen Schläuchen".

Doch der "neue Schlauch" der Moralisierung hat deutliche Auswirkungen auf den internationalen Diskurs, die nicht zu unterschätzen sind. R2P hat die Parameter der internationalen Debatte verändert. Scheitern Prävention und Diplomatie, dann wird, wie die Fälle Libyen und Syrien zeigen, R2P zum Argument all jener, die nach einer Intervention rufen. In der deutschen Debatte behaupteten Befürworter der NATO-geführten Libyen-Mission, externes Eingreifen zur Verhinderung massiver Gräueltaten sei eine moralische Pflicht gewesen, der sich die Bundesrepublik entzogen habe. Staaten können sich sehr wohl aus moralischen Gründen der angeblichen Pflicht zur militärischen Intervention entziehen. Das Moralverständnis, das R2P zugrunde liegt, kann keinen Monopolanspruch auf ethisch begründetes Handeln erheben. Denn die Probleme, die mit einer humanitär ausgerichteten Militärintervention einhergehen, sind so groß, dass im Einzelfall eine "Vielzahl normativer Erwägungen" zu berücksichtigen und abzuwägen ist.

Menschenrechte und Militärgewalt

Wer eine Verpflichtung zu menschenrechtlich begründeten militärischen Interventionen postuliert, argumentiert im Rahmen des "liberalen" Paradigmas internationaler Politik. Denn aus "realistischer" Sicht besteht Verantwortung zuallererst in der Durchsetzung nationaler Interessen. Eigene Staatsbürger zur Rettung anderer in den Krieg zu schicken, ohne dass grundlegende nationale Interessen auf dem Spiel stehen, ist aus Sicht der realistischen Denkschule moralisch verantwortungslos.

Die Frage nach grenzüberschreitenden moralischen Verpflichtungen, nach dem Ausmaß einer Verantwortung für "Fremde", stellt sich erst im Rahmen des Liberalismus, wird aber durchaus unterschiedlich bewertet. Entscheidend ist dabei, ob man eher dem Kosmopolitismus oder dem Partikularismus zuneigt, ob man also einen moralischen Universalismus vertritt, in dem die Grundrechte eines jeden Menschen von gleicher Bedeutung sind, oder ob man einen Vorrang für die Rechte der eigenen Mitbürger anerkennt und moralische Verantwortung in abgestuftem Sinne versteht. In partikularistischer Sicht wird unterschieden zwischen globalen Pflichten und besonderen Pflichten für die Bürger in einer politischen Gemeinschaft, die sich durch eigene Identität und spezifische Loyalitäten auszeichnet. Ein solches Verständnis politischer Ethik gibt nationalen Verpflichtungen nicht grundsätzlich Vorrang vor globalen; auch jenseits der eigenen Grenzen gilt die "negative" Pflicht, elementare Menschenrechte nicht zu verletzen. Geringer ist jedoch das Maß an "positiven" Pflichten.

Militarisierte kosmopolitische Moral.

R2P als Prinzip ist einer liberalen kosmopolitischen Moral verpflichtet, die staatliche Grenzen gering achtet und transnationale Verpflichtungen zwischen Individuen in den Mittelpunkt stellt. Denn R2P postuliert faktisch – ohne dass ihre Verfechter dies näher begründen – eine allgemeine Verpflichtung, überall auf der Welt notfalls mit militärischen Mitteln schwere Gewalttaten zu unterbinden und im Dienst der Humanität Krieg zu führen, wenn sich dadurch schlimme Übel beenden lassen.

Selbst wenn man die Imperative eines kosmopolitischen Ansatzes akzeptiert, der weitreichende, universal geltende Hilfspflichten behauptet, so bleibt die Frage: Warum wird im öffentlichen Diskurs vielfach die militärische Nothilfe gegenüber anderen Hilfspflichten privilegiert, etwa gegenüber der Verpflichtung, Krankheiten zu bekämpfen, die Millionen Menschen den Tod bringen? Wenn eine positive Pflicht zur humanitären Intervention begründbar ist, weil sich jeder aus unparteiischer Abwägung heraus eine Welt wünschen müsste, in der ihm als Opfer gewaltsamer Menschenrechtsverletzungen geholfen würde, dann lassen sich aus einer solchen Perspektive auch andere Verpflichtungen zu humanitärer Hilfe ableiten – zur Bekämpfung von Armut, Krankheit, Hunger.

Dieses Problem stellt sich besonders bei einer an Handlungsfolgen orientierten Betrachtung: Ist das Ziel die Rettung einer größtmöglichen Zahl von Menschen, dann kann es unter Umständen weit effizienter sein, jene finanziellen Ressourcen, die ein Militäreinsatz verschlingt, anders einzusetzen. Insofern darf man die Opportunitätskosten eines humanitären Eingreifens nicht ignorieren. Mit den Summen, die für Militäraktionen ausgegeben werden, wären weit mehr Menschen zu retten, würden sie in Gesundheitsinitiativen fließen, etwa für Impfungen gegen Masern oder die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Malaria. Nun ließe sich einwenden, mit humanitären Interventionen seien nicht allein humanitäre Ziele verbunden, sondern sie mischten sich immer mit anderen Anliegen, wie etwa dem, Flüchtlingsströme zu verhindern. Doch solche sekundären Ziele kann man auch mit Maßnahmen zur internationalen Gesundheitspolitik und zur Katastrophenhilfe erreichen.

Globale Hilfspflicht versus nationale Verantwortung.

Die Pflicht, zur Rettung der Bürger anderer Staaten notfalls Krieg zu führen, wird meist in Analogie zur individuellen Nothilfe begründet, wozu jeder nach seinen Fähigkeiten und unter Abschätzung der Eigengefährdung verpflichtet ist. Doch das ist die Ebene individueller Moral. Bei humanitären Militärinterventionen geht es dagegen um Fragen politischer Ethik: Ist ein Staat überhaupt berechtigt, seine Soldaten – Bürger in Uniform – zu verpflichten, für den Schutz "Fremder" zu töten und dabei das Risiko des eigenen Todes einzugehen?

Eine globale militärische Hilfspflicht steht in Widerspruch zur Verantwortung gegenüber eigenen Staatsbürgern. Sie widerspricht auch dem "Vertrag", den Soldaten mit ihrer Gesellschaft eingegangen sind: notfalls ihr Leben für deren grundlegende Interessen zu opfern. Faktisch wird das Risiko eigener Verluste minimiert durch die Art, wie in den Fällen Kosovo und Libyen humanitär begründete Kriege geführt wurden – nämlich allein mit Luftstreitkräften. Doch Interventionen unter dem Imperativ, eigene Opfer nahezu vollständig auszuschließen, entsprechen nicht dem Ziel, eine möglichst große Zahl von Menschen zu retten. Wenn Gräueltaten zügig unterbunden werden sollen, wie sie meist im Kontext von Bürgerkriegen und gewaltsamen politischen Umbrüchen verübt werden, erfordert dies den mit größeren Risiken für die eigenen Soldaten verbundenen Einsatz von Bodentruppen.

Töten, um zu retten.

Wer eine Interventionspflicht behauptet, setzt voraus, es sei moralisch gerechtfertigt, zu töten, um zu retten – und zwar nicht nur direkte Übeltäter zu töten, sondern auch Soldaten, die nicht selbst an Verbrechen beteiligt sind, und Nichtkombattanten, deren Tod als "Kollateralschaden" hingenommen wird. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass sich damit die Debatte verschiebt: "Es wird nicht mehr vorrangig diskutiert, ob und unter welchen Umständen eine Ausnahme vom Tötungsverbot gerechtfertigt sei, sondern welche Arten von Menschenrechtsverletzungen zu einer Intervention verpflichten, selbst unter Inkaufnahme von unschuldig Getöteten."

Wenn Interventionsbefürworter sich der Frage nach der moralischen Legitimität des Tötens stellen, dann greifen sie häufig auf zwei Argumentationsfiguren zurück. Die eine lautet: Wir müssen den Tod Unschuldiger in Kauf nehmen, um eine weit größere Zahl Unschuldiger vor dem Tod zu retten. Doch das Argument ignoriert den Unterschied zwischen Schadenszufügung und Hilfsverzicht – zwei Verhaltensweisen, die je nach Situation moralisch unterschiedlich zu bewerten sind. Die andere Argumentationsfigur stützt sich auf das klassische Prinzip der "Doppelwirkung", mit dem sich die Inkaufnahme von nicht beabsichtigten, aber gleichwohl voraussehbaren Opfern legitimieren lässt. Demnach ist der Tod Unschuldiger hinnehmbar, wenn er nicht das Mittel zur Erreichung eines guten Zwecks, sondern vielmehr die nicht intendierte Folge einer gerechtfertigten Handlung ist, die insgesamt mehr gute als schlechte Folgen hat.

Das Prinzip der Doppelwirkung eröffnet einen weiten Spielraum für die Inkaufnahme unbeabsichtigter, aber gleichwohl absehbarer Opfer unter Nichtkombattanten – ein Spielraum, der, wie kritisiert wurde, im Falle humanitär begründeter Interventionen zu groß ist. Diese sollen ja dem Schutz von Menschen dienen. Bei einer humanitär begründeten Intervention lässt sich von ihrem eigenen Anspruch her der Tod von Nichtkombattanten nicht einfach als unbeabsichtigter und indirekter "Kollateralschaden" legitimer Kriegsführung hinnehmen.

Das dem Argument der "Kollateralschäden" zugrunde liegende moralische Prinzip einer "Doppelwirkung" muss deshalb nach jenem restriktiven Verständnis angewandt werden, wie es Michael Walzer hinsichtlich der Verpflichtungen gegenüber den Rechten von Nichtkombattanten formuliert hat. Demnach reicht es nicht aus, dass die üble Wirkung nicht beabsichtigt und auch nicht Mittel zur Erreichung des moralisch akzeptablen Ziels ist. Vielmehr müssen die voraussehbaren üblen Wirkungen – im Sinne einer "Doppelintention" – unter Inkaufnahme eigener Kosten soweit wie möglich minimiert werden. Das heißt: Bei einer humanitären Intervention ist das Risiko zu akzeptieren, dass eigene Soldaten ihr Leben verlieren, um das Leben von Nichtkombattanten nicht zu gefährden. Die Risiken für beide, für die eigenen Soldaten und für Unschuldige, lassen sich militärisch nicht notwendigerweise zusammen reduzieren. Diesem moralischen Dilemma lässt sich nicht entgehen, auch wenn es Befürworter humanitärer Interventionen gern ausblenden.

Folgenverantwortung – eher ignoriert als nüchtern reflektiert.

In der Debatte um humanitäre Interventionen werden die Probleme der Umsetzung, die Erfolgsaussichten und absehbare Gesamtfolgen weithin ausgeblendet. Die Folgenverantwortung bezieht sich nicht nur darauf, ob die eingesetzten Mittel geeignet sind, die erklärten Ziele zu erreichen. So war 1999 im Kosovo die Luftkriegsführung erkennbar nicht in der Lage, die nach Beginn des Kriegs einsetzenden Morde und Massenvertreibungen zu verhindern. Sie erstreckt sich auch auf die absehbaren Gesamtfolgen einer Intervention, die gewöhnlich eine Parteinahme in einem bürgerkriegsartigen Konflikt bedeutet.

Humanitäre Interventionen mit dem Ziel, Menschenleben zu retten, werden oft als schnelle Operation zu geringen eigenen Kosten dargestellt. Doch als bloße Kurzzeittherapie können humanitäre Interventionen kaum erfolgreich sein, geschehen die Menschenrechtsverletzungen doch in einem Kontext, der eine dauerhafte Befriedung verlangt. Besonders groß ist die Folgenverantwortung, wenn im Zuge einer humanitären Intervention ein Regimesturz betrieben wird. Denn danach ist mit langfristiger gewalthaltiger Instabilität zu rechnen. Mit dem Postulat einer Verantwortung für den "Wiederaufbau" kommt im R2P-Diskurs zwar ein wichtiger Aspekt der Folgenverantwortung in den Blick. Doch seit sich Ernüchterung eingestellt hat, was das damit verbundene Konzept des liberal peace building angeht, ist die Scheu vor langfristigen Verwicklungen politisch nur allzu verständlich.

Folgerungen

In der Summe legen die analysierten Probleme und Dilemmata folgenden Schluss nahe: Menschenrechtlich begründete Militärinterventionen sind nur in Extremsituationen zu rechtfertigen. Wenn die menschlichen Kosten einer solchen Intervention im Vergleich zum Nutzen unverhältnismäßig groß sind oder es unwahrscheinlich ist, dass die angestrebten humanitären Ziele erreicht werden, dann ist im Sinne einer konsequentialistischen Bewertung die Intervention moralisch falsch. Dies gilt auch dann, wenn der Einsatz militärischer Gewalt das Kriterium der Ultima Ratio erfüllt. In beiden Fällen – Proportionalität und Erfolgsaussichten – handelt es sich um eine prospektive Bewertung, die mit etlichen Ungewissheiten behaftet ist.

Das heißt: Es sprechen nicht nur pragmatische, sondern gerade auch moralische Gründe dafür, die Schwellenkriterien für eine mit dem Prinzip der Schutzverantwortung begründete Militärintervention sehr hoch anzusetzen. Eine Intervention wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn (1) in massiver koordinierter Form eine große Zahl von Zivilisten in kurzer Zeit getötet werden; (2) militärisch die Rettung einer beträchtlichen Zahl von Menschen unter niedrigen Verlusten für die eingreifenden Staaten möglich ist; (3) die Aussicht besteht, dauerhafte Sicherheit ohne eine langfristige militärische Präsenz und ein kostspieliges, aber selten erfolgreiches nation building schaffen zu können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine "humanitäre Intervention" ist eine militärische Intervention in einem Land ohne Zustimmung der jeweiligen Regierung oder gegen ihren Widerstand mit dem erklärten Ziel, massiven Menschenrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten. Vgl. Stefan Oeter, Humanitäre Intervention und Gewaltverbot, in: Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Einmischung erwünscht?, Frankfurt/M. 1998, S. 37.

  2. Vgl. Alex J. Bellamy, Responsibility to Protect, Cambridge 2009, S. 4–7; Gareth Evans, The Responsibility to Protect, Washington, DC 2008.

  3. Vgl. Hugh Breakey, The Responsibility to Protect and the Protection of Civilians in Armed Conflicts, Griffith University, Mai 2011, S. 31–37.

  4. Vgl. A.J. Bellamy (Anm. 2), S. 41f.

  5. Vgl. ICISS (ed.), The Responsibility to Protect, Ottawa 2001.

  6. Vgl. UN A/60/L.1, S. 31.

  7. Vgl. Diana Amneus, Responsibility to Protect, in: Global Society, 26 (2012) 2, S. 246ff.

  8. Vgl. Noha Shawki, Responsibility to Protect: The Evolution of an International Norm, in: Global Responsibility to Protect, 3 (2011), S. 172–196.

  9. Vgl. Matthias Pape, Humanitäre Intervention, Baden-Baden 1997, S. 64–67; Juliane Kokott, Der Schutz der Menschenrechte im Völkerrecht, in: Hauke Brunkhorst et al. (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte, Frankfurt/M. 1999, S. 182f.

  10. Vgl. Jutta Brunnée/Stephen J. Toope, The Responsibility to Protect and the Use of Force, in: Global Responsibility to Protect, 2 (2010), S. 191–212; Christian Schaller, Die völkerrechtliche Dimension der "Responsibility to Protect", SWP-Aktuell 56/2008.

  11. Vgl. Mehrdad Payandeh, With Great Power Comes Great Responsibility?, in: The Yale Journal of International Law, 35 (2010), S. 469–516.

  12. The New York Times vom 11.3.2012.

  13. Als erste Säule wird die Schutzverantwortung des Staates bezeichnet, als zweite die internationale Unterstützung und das capacity building. Vgl. UN A/63/677.

  14. Vgl. Alan J. Kuperman, R2P: Catchy Name for a Fading Norm, in: Ethnopolitics, 10 (2011) 1, S. 125–128.

  15. Vgl. Paul D. Williams/Alex J. Bellamy, Principles, Politics, and Prudence, in: Global Governance, 18 (2012), S. 287.

  16. Vgl. Harald Müller, Ein Desaster: Deutschland und der Fall Libyen, HSFK Standpunkte 2/2011.

  17. Vgl. Aidan Hehir, The Responsibility to Protect, Houndsmills 2012, S. 137f.

  18. Christine Chwaszcza, Moral Responsibility and Global Justice, Baden-Baden 2007, S. 133.

  19. Vgl. Christoph Broszies/Henning Hahn, Die Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte im Kontext, in: dies. (Hrsg.), Globale Gerechtigkeit, Berlin 2010, S. 9–52.

  20. Hier und im Folgenden stütze ich mich auf die Überlegungen von: Walter Pfannkuche, Humanitäre Interventionen und andere Hilfspflichten, in: Georg Meggle (Hrsg.), Humanitäre Interventionsethik, Paderborn 2004, S. 133–145. Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit der Position, die Verhinderung von Völkermord sei moralisch gebotener als die Bekämpfung von Hunger und Krankheit, aus einer kosmopolitisch-utilitaristischen Perspektive: Peter Singer, Bystanders to Poverty, in: N. Ann Davis/Richard Keshen/Jeff McMahan (eds.), Ethics and Humanity, Oxford 2010, S. 185–201.

  21. Vgl. hierzu und im Folgenden: Benjamin A. Valentino, The True Costs of Humanitarian Intervention, in: Foreign Affairs, 90 (2011) 6, S. 60–73.

  22. Vgl. hierzu und im Folgenden: Daniel Brooks Baer, The Ultimate Sacrifice and the Ethics of Humanitarian Intervention, in: Review of International Studies, 37 (2011), S. 301–326; Robert Spaemann, Grenzen, Stuttgart 2001, S. 328–332.

  23. Vgl. Martin L. Cook, "Immaculate War", in: Ethics and International Affairs, (2000) 14, S. 55–65.

  24. Barbara Bleisch, Humanitäre Intervention zwischen Erlaubtheit und Gebotenheit, in: Jean-Daniel Strub/Stefan Grotefeld (Hrsg.), Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg, Stuttgart 2007, S. 137.

  25. Vgl. Peter Schaber, Humanitäre Intervention als moralische Pflicht, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 92 (2006) 3, S. 299.

  26. Vgl. Kirsten Meyer, Die moralische Bewertung humanitärer Interventionen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 97 (2011) 1, S. 18–32.

  27. Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung: Richard Norman, Ethics, Killing and War, Cambridge 1995, S. 83–93.

  28. Vgl. James Pattison, Humanitarian Intervention and the Responsibility to Protect, Oxford 2010, S. 119f.

  29. Vgl. Michael Walzer, Just and Unjust Wars, New York 20003, S. 152ff.

  30. Vgl. Steven Lee, Double Effect, Double Intention, and Asymmetric Warfare, in: Journal of Military Ethics, 3 (2004) 3, S. 233–251.

  31. Vgl. Berthold Meyer, Konfliktfolgenabschätzung, in: Thomas Bruha/Sebastian Heselhaus/Thilo Marauhn (Hrsg.), Legalität, Legitimität und Moral, Tübingen 2008, S. 133–148.

  32. Vgl. zum Begriff: Julian Nida-Rümelin, Verantwortung, Stuttgart 2011, S. 113.

  33. Vgl. Richard K. Betts, The Delusion of Impartial Intervention, in: Foreign Affairs, 73 (1994) 6, S. 20–33.

  34. Vgl. Michael Newman, Humanitarian Intervention, New York 2009, S. 138–180.

  35. Vgl. Alexander B. Downes, Catastrophic Success, Department of Political Science, Duke University, Durham (North Carolina), unveröffentlichtes Papier o.J.; Goran Peic/Dan Reiter, Foreign-Imposed Regime Change, State Power and Civil War Onset, 1920–2004, in: British Journal of Political Science, 41 (2010), S. 453–475.

  36. Vgl. Ned Dobos, Rebellion, Humanitarian Intervention, and the Prudential Constraints on War, in: Journal of Military Ethics, 7 (2008) 2, S. 102–115.

  37. Vgl. hierzu und im Folgenden: Robert A. Pape, When Duty Calls: A Pragmatic Standard of Humanitarian Intervention, in: International Security, 37 (2012) 1, S. 53ff.

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Dr. phil., geb. 1958; Politikwissenschaftler, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Ludwigkirchplatz 3–4, 10719 Berlin. E-Mail Link: peter.rudolf@swp-berlin.org