Im Jahr 2010, 20 Jahre nach dem Ende der DDR, wurde in Brandenburg die Enquete-Kommission zur "Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg" eingesetzt. Diese Kommission zur "Aufarbeitung der Aufarbeitung" hat zum Ziel, den Umgang mit ehemaligen Stasi-Mitarbeiterinnen und Stasi-Mitarbeitern in öffentlichen Ämtern einerseits und mit SED-Opfern andererseits zu untersuchen sowie sich mit der seit 1990 entwickelnden politischen Kultur des Bundeslandes, der landwirtschaftlichen Entwicklungen, der Rolle der Medien und anderem auseinanderzusetzen, um Empfehlungen für die Zukunft auszusprechen. Strukturell und inhaltlich schließt sich dieses Bemühen der Aufarbeitung zwei früheren Enquete-Kommissionen an, die sich kurz nach Ende des SED-Regimes bundesweit mit dessen Vergehen auseinandersetzten.
Im deutschen Kontext überraschen diese weitreichenden Bemühungen, vergangenes Unrecht aufzuarbeiten, nicht. Neben den Kommissionen wurde bezüglich der DDR eine Vielzahl von weiteren Initiativen gestartet. Zu nennen seien unter anderem symbolische Formen wie Gedenkstätten und Museen, rechtliche Aufarbeitung durch Gerichtsverfahren, Wiedergutmachung für Opfer und Versehrte, das Archivieren und Zugänglichmachen von Dokumenten durch die Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen sowie die Förderung eines öffentlichen Diskurses über die ostdeutsche Vergangenheit.
Doch dies ist keine Selbstverständlichkeit. In vielen Gesellschaften wird nach Ende eines gewaltsamen Konflikts oder einer Diktatur vergangenes Unrecht nicht oder nur partiell aufgearbeitet. Nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen – lässt sich seit den frühen 1990er Jahren ein Trend verzeichnen, durch den der Umgang mit einer gewaltvollen Vergangenheit zu einer globalen Norm avancierte und sich in verschiedenen Formen institutionalisiert hat. Dies wird oft unter dem Begriff Transitional Justice gefasst und bezeichnet Bemühungen, mit einer gewaltsamen Vergangenheit und ihren soziopolitischen Auswirkungen zurechtzukommen. Wie der Begriff suggeriert, wird der Moment des Übergangs, also der transition, zu einem friedlichen Zusammenleben eng mit dem Streben nach Gerechtigkeit, justice, verknüpft. Dies beruht auf der Annahme, dass diese Phase der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen bedarf, da nur ein klarer Bruch mit vergangenem Unrecht zukünftigen Verbrechen vorbeuge, Vertrauen in die neue Regierung und Staatsform generiere und zur Aussöhnung zwischen den Konfliktparteien beitrage. Gemeinhin werden folgende Ziele unter dem Begriff subsumiert: Aufdecken der Wahrheit über begangene Verbrechen und Identifizieren der Verantwortlichen, Bestrafen von Tätern, Wiederherstellen der Würde der Opfer sowie die Förderung von Gedenken und Aussöhnung.
Zum ersten Mal wurde der Begriff Transitional Justice zu Beginn der 1990er Jahre verwendet.
Maßnahmen zum Umgang mit vergangenem Unrecht
Seit diesen Anfängen hat sich ein umfangreicher Maßnahmenkatalog zum Umgang mit vergangenem Unrecht herausgebildet, unter dem im Allgemeinen die folgenden Instrumente subsumiert werden: Rechtsprechung und Strafe durch Tribunale, Aufdecken der Vergehen durch Wahrheitskommissionen, Fördern von Erinnerung und Gedenken, Entschädigungen für Opfer von Menschenrechtsverbrechen einschließlich symbolischer und materieller Reparationen und Lustration (Entlassung) von korruptem und kriminellem Personal. Im Folgenden werde ich kurz auf die einzelnen Maßnahmen eingehen und sie in Kontext setzen.
Tribunale.
Das Strafen von Rechtsbrüchen ist ein zentrales Element der Transitional Justice. Für die rechtliche Aufarbeitung von vergangenen Menschenrechtsverbrechen durch Tribunale und Strafgerichtsprozesse wurden mit dem Internationalen Militärtribunal von Nürnberg und dem Internationalen Tribunal für den Fernen Osten (Tokioter Prozesse) historische Meilensteine gesetzt.
Dem seit 2002 aktiven IStGH kommt die Aufgabe zu, nach seinem Inkrafttreten begangene Verbrechen im Kontext von Krieg und Repression zu ahnden. Basierend auf dem Prinzip der Komplementarität wird er jedoch nur tätig, wenn ein Staat weder in der Lage noch willens ist, eine Straftat selbst zu ahnden. Ermittlungsverfahren können entweder extern durch Anrufung oder intern durch die Anklagebehörde eingeleitet werden. Bisher hat der IStGH in acht Fällen Untersuchungen eingeleitet: Demokratische Republik Kongo, Uganda, Zentralafrikanische Republik, Darfur/Sudan, Kenya, Libyen, Elfenbeinküste und Mali, wovon vier dem Gerichtshof durch Aufruf zukamen, zwei vom UN-Sicherheitsrat übertragen und zwei vom Chefankläger in die Wege geleitet wurden.
Die rasante Entwicklung internationaler Strafgerichtsbarkeit wirft die Frage auf, welche Rolle Gerichtsprozessen beim Umgang mit vergangenen Vergehen zukommt. Generell verfolgen sie das Ziel, vergangenes Unrecht richtig zu stellen und den Wunsch nach Vergeltung zu reduzieren. Dies wird oft mit der Hoffnung verknüpft, vor zukünftigen Gewalttaten abzuschrecken. Gerichte beruhen auf einer individualisierten Vorstellung von Schuld und können nur Einzelpersonen zur Rechenschaft ziehen. Aus pragmatischen und finanziellen Gründen werden somit meist nur die "großen Fische", das heißt die Drahtzieher und Anführer, angeklagt. Obwohl Strafe das Hauptziel von Tribunalen bleibt, beanspruchen einige Gerichte, zur Förderung von Frieden und Aussöhnung beizutragen.
Wahrheitskommissionen
erlebten in den 1980er Jahren in Lateinamerika Konjunktur, also vor dem bis heute andauernden Trend der Aufarbeitung. Nach den sogenannten Schmutzigen Kriegen in Argentinien, Uruguay und Chile und der Straffreiheit für Militär und Politiker verfolgten sie unter anderem das Ziel, im Kontext einer Kultur des Verschweigens und Verleugnens die Wahrheit über vergangene Menschenrechtsverbrechen ans Licht zu bringen. Dem folgten bis dato etwa 40 Kommissionen, vor allem nach Bürgerkriegen (beispielsweise in Sierra Leone, Liberia, Guatemala, El Salvador, Osttimor), aber auch in postkommunistischen Staaten wie Estland, Litauen und Rumänien sowie, wie einführend dargelegt, (Ost)Deutschland.
Wurden Wahrheitskommissionen zunächst in Abwesenheit von Strafgerichtsprozessen eingerichtet, so übernehmen sie inzwischen eine komplementäre Funktion. Als zeitlich begrenzte Einrichtungen dienen sie dazu, durch individuelle Zeugenaussagen die Verbrechen eines gewaltsamen Regimes aufzudecken und breit zu dokumentieren. Im Gegensatz zu Tribunalen verfolgen sie meist das Ziel, möglichst vielen Betroffenen das Wort zu erteilen und somit vor allem auch Opfern die Möglichkeit zu geben, ihr Leid öffentlich darzustellen und Gehör zu finden. Viele Kommissionen sind daher eher opfer- als täterzentriert.
Gedenken.
Gedenkstätten, Mahnmale und Gedenktage sind schon seit Langem von großer Bedeutung beim Blick auf vergangenes Unrecht, doch wird dieser vermehrt auf den Aspekt der Aufarbeitung geworfen.
Im Kontext von Transitional Justice kommt Gedenken die Funktion zu, die Würde der Opfer, die oft Zielscheibe der Verbrechen war, wiederherzustellen und ihr Leid öffentlich anzuerkennen. Des Weiteren soll Gedenken öffentliche Diskussionen über vergangenes Unrecht anregen, wie sich in den oft heftigen Debatten um Form und Botschaft eines neu zu errichtenden Mahnmals zeigt. Für die Opfer kann Gedenken zudem zum Moment des Widerstands werden, wenn vergangene Verbrechen im öffentlichen Diskurs verdrängt oder verschwiegen werden. Dies zeigt sich am Beispiel Chiles, wo Erinnerungsorte nur durch heftigen Protest von Opfervertreterinnen und -vertretern errichtet wurden. Letztlich kann Gedenken aber auch dazu dienen, eine gemeinsame Interpretation vergangener Gräueltaten zu konstruieren und somit eine gespaltene Nation zusammenzubringen. Die politische Relevanz der Stätten unterscheidet sich entsprechend der Initiatoren von Gedenken sowie dem Kontext der Gewalt und der aktuellen Aufarbeitung.
Entschädigungen.
Vergangenes Unrecht zu entschädigen – wenn dies überhaupt je möglich ist – kann verschiedene Formen annehmen. Die wohl bekannteste Form der Entschädigung ist finanzieller Natur. Das bisher größte Reparationsprogramm sind die monetären Leistungen Deutschlands an die Opfer des Nationalsozialismus. Als jüngeres Beispiel für finanzielle Entschädigungen wäre Marokko zu nennen, wo nach den Menschenrechtsvergehen in den 1960er bis 1990er Jahren eine Wahrheitskommission Reparationen als Empfehlung aussprach. Die Kommission schlug vor, dass den über 10.000 Opfern oder ihren Familien eine Gesamtsumme von etwa 85 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt und ihre Gesundheitsversorgung sowie der Schutz ihrer Menschenrechte gewährleistet werden solle. Neben individuellen Zahlungen wurden zum ersten Mal auch kollektive Leistungen, wie die Förderung von ökonomischem Wachstum in bisher marginalisierten Regionen, vorgeschlagen. Vor allem für arme Menschen ist materielle Wiedergutmachung oft mehr als nur eine Geste. Der Verlust von Haus, Hof und Vieh verschärft die ohnehin desolate Situation, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, und der Tod von vor allem männlichen Familienmitgliedern führt nicht selten zu einem Verlust von Arbeitskräften, was besonders in verarmten, ländlichen Gebieten gravierende Folgen für die Hinterbliebenen haben kann.
Symbolisch wären neben den bereits erläuterten Gedenkstätten Entschuldigungen zu erwähnen.
Nach der Erfahrung von Gewalt kommt Entschädigungen die Funktion zu, den Verlust und das Leiden der Opfer offiziell anzuerkennen und damit sowohl Schuld einzugestehen als auch Verantwortung zu übernehmen. Im Idealfall fördern symbolische oder monetäre Entschädigungen dadurch das Vertrauen der Opfer in die (neue) politische Führung. Mit Blick auf die Opfer ist die Anerkennung ihres Leids durch Entschädigungen ein wichtiger Schritt, ihnen ihre Würde zurückzugeben und sie gesellschaftlich und rechtlich gleichzustellen. Durch ihre aktive Rolle in der Diskussion um Reparationen werden Opfer zudem aus ihrer Passivität und ihrem Opferstatus herausgelöst und zu gleichwertigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern beim Ausloten des Transitional-Justice-Prozesses und des neuen gesellschaftlichen Miteinanders.
Lustration.
Im Zuge von Lustrationsverfahren werden ehemalige Regierungstreue, Kriminelle oder korruptes Personal aus entscheidungsrelevanten oder gesellschaftlich bedeutenden Positionen entfernt.
Ziel von Lustrationsprozessen in Zeiten der Transition ist, kriminelle Unterstützer des alten Regimes zu entfernen, um einen erfolgreichen Übergang zu gewährleisten. Zudem sollen damit Gesetzesüberschreitungen, selbst wenn zur Zeit des Vergehens legitim, sanktioniert werden. Parallel dazu wird oft auch ein Paradigmenwechsel erhofft, da alte Kaderschmieden und Seilschaften aufgelöst und politisch-ideologische Netzwerke zerstört werden sollen. Dadurch soll das Vertrauen in öffentliche Institutionen wiederhergestellt und in für Menschenrechtsvergehen zuträgliche Strukturen gehoben werden.
Vergangenes Unrecht aufarbeiten: Ein globales Konzept?
Der bisher dargestellte Katalog an Maßnahmen zur Aufarbeitung vergangenen Unrechts liest sich wie ein Werkzeugkasten und wird auch häufig als solcher betrachtet.
Doch drängt sich die Frage auf, welche Relevanz und Umsetzbarkeit globale Normen der Aufarbeitung für lokale Kontexte der Gewalterfahrungen haben. Können im sogenannten Westen entstandene Vorstellungen und Maßstäbe von Schuld, Strafe und Gerechtigkeit so einfach auf Fälle übertragen werden, deren soziales Miteinander nach anderen Konventionen verläuft?
Jüngere Beiträge zur Transitional-Justice-Forschung stehen diesem global/lokal-Komplex eher kritisch gegenüber, in dem sie auf die inhaltliche Ausrichtung und die damit einhergehenden kulturellen Grenzen von Transitional Justice verweisen.
Des Weiteren wird angemerkt, dass extern angestoßene Transitional Justice gemeinhin vorsieht, von einem gewaltvollen Konflikt zu Demokratie – und nicht einfach nur friedlicher Koexistenz – zu gelangen.
Es wird also vermehrt argumentiert, dass die globale Norm der Transitional Justice und ihre Umsetzung Projekten und Netzwerken entspringen, die sich fern vom Kontext der tatsächlichen Gewalt befinden. Vorsicht ist geboten, wenn wir unsere Vorstellungen von Recht und Gerichten in andere Länder exportieren möchten. Um die "Lokalen" ins Boot zu holen, wird daher oft die Bevölkerung konsultiert, um deren Einstellung zu Tribunalen, Wahrheitskommissionen und anderen Instrumenten zu eruieren. Wie die Politikwissenschaftlerin Sandra Rubli in ihrer Forschung zu Burundi zeigt, werden Bedürfnisse nach Gerechtigkeit in konsultativem Verfahren on the ground erhoben, um die Maßnahmen – in ihrem Fall eine Wahrheitskommission – entsprechend der Bedürfnisse der von Gewalt Betroffenen anzupassen.
Doch bedeutet die Skepsis der von Gewalt betroffenen Menschen keineswegs, dass sie per se keinen Umgang mit der Vergangenheit wünschen. Vielmehr werden alltägliche Verfahren und Praxen, die sich im sozialen Miteinander etabliert haben, verwendet, um dem Vergangenen zu gedenken, Gewaltakteure zu integrieren und/oder Schließungsprozesse vorzunehmen.