Was treibt Menschen an, sich selbst im Internet darzustellen und ihr Privat- und Innenleben zu offenbaren? Was verbirgt sich hinter dieser digitalen Veröffentlichung des Privaten, die nicht nur kritische Stimmen einen gläsernen Menschen im Sinne Orwells ausrufen lässt? Schlimmer noch: Die Preisgabe von Daten, welche die Person betreffen, geschieht offenbar freiwillig oder in der Verheißung auf bessere Informationen, Produkte und Freunde. Werden wir in solchen Fällen Zeugen einer gefährlichen Erosion der Grenzlinie zwischen dem Privaten und Öffentlichen?
Jenseits einer kulturpessimistischen Perspektive lassen sich Phänomene der Selbstoffenbarung oder -inszenierung im Internet auch unter der Frage nach ihrer Funktion für die eigene Identität betrachten. Denn die sich dort selbst zum Thema machenden Menschen agieren nicht vor dem Hintergrund einer Kommerzialisierung personenbezogener Daten, einem sich verschärfenden Kapitalismus oder Tendenzen der Ökonomisierung von Gesellschaft insgesamt. Wenn man den Selbstinszenierungen und -offenbarungen im Netz auf den Grund gehen möchte, sollte man nicht vergessen, dass sie sich auch im Kontext einer Verschärfung von Unsicherheiten vollziehen – durch Veränderungen überkommener Muster der Lebensführung etwa, wie der Form unserer Arbeit und Partnerschaft, der abnehmenden Haltbarkeit unseres Wissens oder der zunehmenden Loslösung von Kultur an nationalstaatliche Grenzen. Mit anderen Worten: Die Unsicherheiten berühren Fragen der eigenen Identität. Handelt es sich bei den Inszenierungen des Selbst im Web dann nicht vielleicht auch um Praktiken, sich dieser bewusst zu werden und zu versichern?
Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, muss etwas weiter ausgeholt werden. Denn Identität ist etwas, das überhaupt immer schon "nur als Problem"
Selbstthematisierung oder Arbeit an der eigenen Identität ist so immer auch Vollzug und konstitutives Moment sozialer Wirklichkeit oder Normalität.
Institutionen der Selbstthematisierung: Beichte und Psychoanalyse
Sich selbst zum Thema zu machen, ist keineswegs ein neues Phänomen, das dem Internet vorbehalten wäre oder erst mit seiner Entstehung aufkam. Zwei Institutionen, bei denen ein Zusammenhang zwischen der Be- oder Verarbeitung von Unsicherheiten und Selbstthematisierungen besteht, lassen sich bereits in der Beichte und der Psychoanalyse ausmachen. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Neue an der Identitätsarbeit im Internet seine Konturen.
In der Beichte, die das vormoderne Europa in Bezug auf die Arbeit an der eigenen Identität maßgeblich prägt, wird die Individualität eines Menschen in Form von Abweichung, im Kontext von Schuld, thematisiert.
Mit einem Sprung in die Moderne wird deutlich, dass die aufkommende Psychoanalyse einen anderen Akzent setzt. Gemeinsam ist ihr und der Beichte, dass beide dazu anregen, den Blick nach innen zu richten. Allerdings geht es in der Psychoanalyse nicht um eine Abrechnung mit dem eigenen Leben im Kontext von Schuld, sondern das Selbst in seiner Ganzheit ist das Thema. Es geht nicht mehr um Sünde, sondern um innere Stärke, um die Frage: krank oder gesund? Gerade Sigmund Freud war "an jenen intrapsychischen Vorgängen interessiert, durch die das Ich gegenüber den leibgebundenen Ansprüchen des Es und den sozial vermittelten Erwartungen des Über-Ich zu einer Art von Stärke gelangen konnte, die er stets mehr oder weniger mit psychischer Gesundheit assoziierte".
Neben der Anregung zur Introspektion, einmal im Kontext von Sünde und einmal im Kontext von innerer Stärke, ist den institutionalisierten Formen der Selbstthematisierung in Beichte und Psychoanalyse vor allem gemeinsam, dass sie sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollziehen.
Erzählen vor Publikum: Web 2.0
Auffällig ist zunächst, dass die klassische Psychoanalyse heute von immer mehr gruppentherapeutischen Einrichtungen abgelöst wird.
Das Web 2.0 beziehungsweise Social Web basiert auf dem Prinzip der Nutzerpartizipation und ist von daher kein Massenmedium im klassischen Sinne. Denn jene zeichnen sich dadurch aus, dass "keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfänger stattfinden kann".
Und ebendiese Beteiligung läuft über diverse Darstellungspraktiken ab: Mit der "Mobilmachung des ‚Empfängers‘"
Gleichzeitig helfen diese Feedbackprozesse und das Schauen am Verhalten der Anderen beim Aufbau und Erhalt einer eigenen Identität. Nicht nur, weil im Netz beides möglich ist, nämlich ich Ich sein kann, es aber nicht sein muss, sodass sich Identitätsentwürfe testen und abgleichen lassen. Bereits derjenige, der (auch unbedacht) gewissen Gruppen beitritt oder auf seine kulturellen oder sonstigen Vorlieben verweist, erhält dafür Rückmeldung und Vergemeinschaftung – Identität – plus einen Bonus an durchschnittlichen Richtwerten für das, was "total" oder "voll" oder auch nur "ganz normal" und damit wertvoll ist. Die Medienforscherin Angela Tillmann betont, dass auch eine kontinuierliche Arbeit an einer eigenen Homepage dabei helfen kann, sich selbst zu erfassen. Die Bewegung in Foren und Clubs sowie die Gestaltung eigener Internetseiten ermöglichen in dieser Hinsicht Selbstdarstellungen, gegenseitige soziale Unterstützung, Orientierungsmaßstäbe und Herstellung von Zugehörigkeiten.
Wenn sich das Web 2.0 als ein Ort der Selbstthematisierung auffassen lässt, was bedingt dann die Orientierung an den "gewöhnlichen" Anderen? Was nimmt unseren Biografisierungen ihren exklusiven Charakter? Denn genau diese Loslösung der Selbstthematisierung vom Geheimnis und Privaten, als Veröffentlichung des eigentlich privaten Selbst, scheint es ja zu sein, die den gewissenhaften Beobachter aufhorchen lässt.
Selbstdarstellung und Unsicherheit
Auch die Selbstdarstellungen im Netz stehen in einem Zusammenhang mit der Bewältigung von Unsicherheiten. Dies lässt sich in zweierlei Hinsicht verdeutlichen: Zum einen sind publikumsorientierte Formen der Selbstthematisierung in den Rahmenbedingungen des Web 2.0 bereits angelegt. Zum anderen bedienen sie eine Funktion im Hinblick auf die Bearbeitung biografischer oder identitärer Unsicherheiten.
Dass sich die Notwendigkeit zur Inszenierung des Selbst im Social Web schon aufgrund seiner Struktur verschärft, ist der Organisation über das Prinzip der Nutzerpartizipation geschuldet. Denn das Web 2.0 zeichnet sich zwar durch interaktiven Gebrauch aus, allerdings fehlt dort, im Gegensatz zur direkten Interaktion, die körperliche Anwesenheit der Akteure. Mit anderen Worten: Wir sehen nicht direkt, mit wem wir es zu tun haben und auch nicht, wie sie oder er sich gerade fühlt. "Raum und Körper müssen (…) textuell erschaffen und darüber hinaus auch theatral glaubhaft gemacht werden."
Ein solcher Zusammenhang zwischen Theatralität und Unsicherheit tritt auch mit Blick auf die Bewältigung biografischer oder identitärer Unsicherheiten zum Vorschein. In Anlehnung an Überlegungen des Soziologen Herbert Willems lassen sich für die Theatralisierungstendenzen im Netz zwei wesentliche Bedingungsfaktoren ausmachen: In einer Gesellschaft wird Theatralität zum einen von Kontingenzsteigerungen
Offen ist dabei aber noch, wie sich der Hang zur öffentlichen Offenbarung "trivialer" Privatheiten erklären lässt. Die Frage muss also lauten: Wenn das Thema der Beichte Erlösung und das der Psychoanalyse innere Stärke und Erkenntnis ist, welche Unsicherheit welches Subjektes wird dann im Netz besprochen?
Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass Identität wohl immer schon nur als Problem existiert hat. Als Thema tritt sie dann auf die soziale Bühne, wenn sie nicht mehr selbstverständlich ist: "Daß die Menschen in vormoderner Zeit nicht von ‚Identität‘ und ‚Anerkennung‘ redeten, lag nicht daran, daß sie keine Identität (…) besessen hätten oder nicht auf Anerkennung angewiesen waren, sondern es lag daran, daß diese Dinge damals zu unproblematisch waren, um eigens thematisiert zu werden."
Unsere gegenwärtige Gesellschaft allerdings, ob nun als "postmodern", "reflexivmodern", "radikalmodern" oder gar "postsozial" bis "postgesellschaftlich" beschrieben, kann vor allem auch als in Prozessen institutioneller Abflachung und Neujustierung befindlich begriffen werden. Über den Weg aus der "normalen" Arbeit hinaus wird die "normale" Biografie verabschiedet. Die oder der Einzelne hat sich immer wieder auf Neues einzulassen oder schlichtweg darauf, dass auch dieser Anspruch nicht gilt. "Man könnte sagen, die selbstverständliche Hintergrundserfüllung durch Institutionen schwindet."
In einer solchen Welt erscheint das Drängen des Ich nach Außen, an und auf die Oberfläche, als Ausdruck der Suche nach einer verloren gegangenen Struktur, die ihm zuvor den Raum des Privaten gewährte. Gleichzeitig aber macht es die Produktion einer anderen sichtbar: In der wechselseitigen Offenbarung findet sich heute eine Möglichkeit, sich seiner selbst zu versichern und Maßstäbe von "richtig" und "falsch" und dessen, was als wünschenswert gilt, aushandeln zu können. Dabei ist dieses Drängen aber eben nicht vollkommen kopflos, inszeniert oder durchsichtig. Im Netz ist es das Problem der Identität selbst, das den Darstellungen des Ich im Großteil der Fälle einerseits ihren Virtualitätsstopp anheftet, sie also an eine gewisse Realität bindet und nicht zu vollständig frei erfundenen Geschichten werden lässt, und sie andererseits daran hindert, aus den Bildschirmen herauszukriechen. Denn wenn Identität das Problem der Ordnung und der Fluchtweg aus der Unsicherheit ist, dann handelt es sich demnach bei den Selbstdarstellungen im Web vielleicht einfach um immer noch notwendige, wenn auch sichtbarere "Techniken der Imagepflege".
Vielleicht lässt es sich vorerst so fassen: Je unübersichtlicher uns die Welt erscheint, je mehr althergebrachte Grenzen eingerissen werden, an die sich unsere Ideen anlehnen können, wie die Welt beschaffen ist oder sein sollte, desto wichtiger wird es, zu wissen, wer wir sind – um einen Fixpunkt auszumachen, an dem wir uns orientieren können. Dazu zeigt man sich, berät sich und fragt nach. Unter dem Aspekt der Vergewisserung der eigenen Identität erweist sich die Darstellung und Besprechung des Selbst im Web dann aber weniger als Zeichen eines Schwindens der Grenzlinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, sondern vielmehr als Ausdruck eines doch recht alten Problems – wenn man nur lange genug hinschaut.