Im Bericht des unabhängigen Expertenkreises zur Erforschung des Antisemitismus im Auftrag des Bundesministeriums des Innern (BMI) wird festgehalten, dass antisemitische Einstellungen nach einem Rückgang gegen Mitte des vergangenen Jahrzehnts jüngst wieder angestiegen sind. Eindringlich warnt die Expertenkommission vor einer tiefen Verwurzelung klischeehafter Judenbilder und antisemitischer Einstellungen in Deutschland. Man beobachte bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitete alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken. Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland seien zumindest latent antisemitisch. So gehöre vielerorts "Du Jude" als Schimpfwort auf den Schulhöfen fast schon zur Normalität. Sätze wie "Juden gehören in die Gaskammer" oder "Auschwitz ist wieder da" seien laut Bericht bei Wettkämpfen in Fußball-Regionalligen keine Seltenheit. Darüber hinaus wird kritisiert, dass keine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland existiert.
Die antisemitischen Einstellungen stehen dabei in einem irritierenden Kontrast zu der seit einigen Jahren propagierten "christlich-jüdischen Leitkultur". Hierin wird die jüdische Kultur als zentraler Eckpfeiler einer über Jahrhunderte entwickelten Symbiose mit den christlichen Werten für die deutsche Identität dargestellt. Führende Politikerinnen und Politiker sprachen von "der christlich-jüdischen Tradition",
Diese Debatte entwickelte sich vor dem Hintergrund eines zunehmend bipolaren und statisch interpretierten Kultur- und Religionsverständnisses: Spätestens seit der Jahrtausendwende wird intensiv über einen vermeintlichen "Kampf der Kulturen" und der Religionen diskutiert. In diesem Zusammenhang führte der Politikwissenschaftler Bassam Tibi auch den Begriff der "Leitkultur"
Im Zuge dieser Debatte entwickelte sich eine positive Bezugnahme auf jüdische Kultur und Religion als wesentliche Bestandteile einer "deutschen Leitkultur", oftmals verbunden mit einer scharfen Abgrenzung gegenüber dem Islam.
Selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland wird rasch deutlich, dass es nie eine christlich-jüdische Symbiose gab. Eine jahrhundertelange Tradition der Verfolgung, Diskriminierung und Pogrome in Deutschland und anderen europäischen Staaten gegen Juden bestimmt vielmehr das historische Bild des christlich-jüdischen Verhältnisses. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts stand rabbinisches Denken unter Verdacht, sich abzuschotten, grundsätzlich fremd zu sein und die christliche Kultur zu unterminieren. Es dominierte die Vorstellung vom "Juden" als verschlagenen Ausbeuter, der als Antipode zu "den Deutschen" stigmatisiert wurde. Bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich vor allem die Identitätsbestimmung der "Deutschen" als Gegenbild zu allem Jüdischen fest. Der deutschen Innerlichkeit und Kultur wurde das "zersetzende und vagabundierende" Jüdische gegenübergestellt, was dann im Nationalsozialismus zur alles bestimmenden Maxime erhoben wurde. Selbst im 19. Jahrhundert, als es zur jüdischen Emanzipation und formalen Gleichstellung kam, waren Juden Außenseiter und nie Teil der europäischen Mehrheitsgesellschaften.
Der Bezug auf eine irgendwie geartete "Leitkultur" ist mit weiteren blinden Flecken verbunden: Sowohl die deutsche Geschichte des Antisemitismus als auch der gegen Migranten gerichtete Rassismus werden hierbei ausgeblendet. Zudem wird für eine säkularisierte Gesellschaft ein omnipräsenter religiöser Identitätsbezug hergestellt, der mit den realen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr übereinstimmt.
Den Mythos ordnet Korn in einen Zusammenhang mit der "permanente(n) Abwehr des ungeheuerlichen Eingeständnisses" deutscher Schuld ein, denn durch die "Vertreibung und Vernichtung der Juden im kollektiven Bewusstsein der Deutschen"
Gerade an diesem Punkt wird deutlich, dass die Diskussion um die "christlich-jüdische Leitkultur" insbesondere im Kontext einer historischen Bildung gegen Antisemitismus in die falsche Richtung weist. Die bipolare Zuordnung zu "den Deutschen", "den Juden" oder "den Muslimen" stellt jedoch in der Debatte um die "christlich-jüdische Leitkultur" eine zentrale Rolle dar. Zudem übersehen die Verfechter der "christlich-jüdischen Leitkultur", dass Antisemitismus nach wie vor ein zentrales Problem in unserer Gesellschaft darstellt. Daher bleibt zu fragen: Wie kann eine politische Bildungsarbeit auf starre Vorstellungen von Identität und Kultur reagieren? Wie können Kultur, Geschichte und Zugehörigkeit diskutiert werden, ohne Schubladendenken und einfache Zuweisungen zu forcieren?
Schulische und außerschulische Bildungsarbeit
Bisher gleicht der Kampf der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit gegen Antisemitismus einem Flickenteppich, der zwar mit Mitteln aus öffentlichen Fördertöpfen bedacht wird, bei dem aber kein in sich geschlossenes Konzept vorzufinden ist. Scharf kritisiert wird daher im erwähnten Bericht der Expertenkommission auch der Umgang der Schulen mit Antisemitismus. Dort werde das Thema fast nur mit Bezug auf den Holocaust behandelt, wodurch Antisemitismus als ein "ausschließlich den Nationalsozialisten zuzuordnendes Phänomen" dargestellt werde, "das 1933 quasi aus dem Nichts erschien und 1945 wieder verschwand".
Genau an dieser Stelle muss daher eine Auseinandersetzung mit historischem Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust einsetzen. Die Schwierigkeiten zeigen sich dabei in der aktuellen Bildungssituation, wenn es darum geht, historisches Lernen zum Thema Antisemitismus mit der Gegenwart zu verbinden. Eine Studie kam Anfang 2012 zu dem Ergebnis, das 21 Prozent der 18- bis 30-Jährigen den Begriff "Auschwitz" nicht einordnen konnten.
Aber nicht nur die unterschiedlichen Zugänge zu Geschichte und die hiermit einhergehenden tradierten Bilder sind für die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Antisemitismus von Bedeutung. Die Bezeichnung Einwanderungsgesellschaft soll auch herausheben, dass der Prozess der Migration für eine Gesellschaft grundlegend ist, denn die konstruierten und umkämpften Identitätskonzepte und Zugehörigkeitszuweisungen stehen in einem diskursiv umkämpften Feld, wodurch es zunehmend "normal wird (…), dass sich in den individuellen Identitätskonstruktionen unterschiedliche Erinnerungsgemeinschaften überlappen, kreuzen, miteinander verknüpfen".
In diesem Kontext könnte auch geklärt werden, dass Antisemitismus nicht nur als Feindschaft gegen Juden, sondern dieser in all seinen Facetten verstanden werden muss. Um dies herauszuarbeiten, sollte der Antisemitismus definitorisch als eine Erscheinungsform analysiert werden, die vor Jahrhunderten auftauchte und sich im unmittelbaren Zusammenhang mit den sozialen Krisen der bürgerlichen Gesellschaft herausbildete. Antisemitismus kann somit als übergreifender Terminus für die Feindschaft gegen Juden und als politische und ideologische Erklärung für bestimmte Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf der Welt fungieren. Juden werden dabei, ähnlich wie beim Rassismus, bestimmte Wesensmerkmale zugesprochen, die als für sie typisch angesehen werden. Ausgrenzung, Stigmatisierung und sogar Vertreibung und Vernichtung können als Ziel anvisiert werden.
Historisches Lernen hat die Aufgabe, die verschiedenen Facetten des Antisemitismus zu analysieren und in ihrer Zusammensetzung herauszuarbeiten. Richtschnur für die Bekämpfung des Antisemitismus ist, zu vermitteln, wie Strukturen und Mechanismen aufgedeckt werden können, die aufzeigen, wie jahrhundertealter Judenhass sich mit einer modernisierten Form der Ausgrenzung, Diskriminierung und biologistischen Unterscheidungsmerkmalen verbindet. Aus dieser Betrachtungsweise könnte auch gelernt werden, dass es zu bestimmten historischen Zeitpunkten ganz unterschiedliche diskursive Stränge in der Einordnung und Bewertung von Juden gab. Im 19. Jahrhundert finden wir in Deutschland zum einen die Emanzipation und Gleichberechtigung von Juden vor; gleichzeitig aber auch die Formierung hin zum biologistischen Antisemitismus. Vor diesem Hintergrund können vor allem die historische Entwicklung und die Entwicklung menschlichen Zusammenlebens in den Vordergrund rücken, die dem "So-Sein" und dem scheinbar unabänderlich Gegebenen diametral entgegenstehen.
Pädagogische und didaktische Methoden
Kurzum: Eine politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus sollte im Kontext der Leitkulturdebatte den instrumentellen Charakter der scheinbar positiven Bezugnahme auf jüdische Religion und Kultur offenlegen. Die Homogenisierung, beispielsweise von allem Jüdischen, sollte aufgegriffen werden, um zu zeigen, dass die Vereinnahmung "der Juden" schon eine Differenzkonstruktion in sich birgt. In der politischen Bildungsarbeit müsste die "Differenzannahme ohne offenkundige Feindschaft im Sinne der Vorstellung, Juden seien eine irgendwie besondere Gruppe, die sich von ‚uns‘ unterscheidet",
Von hieraus die gesellschaftlichen Zusammenhänge in ihrer Historizität in den Mittelpunkt zu rücken und den Fokus auf die Stärkung selbstreflexiver Prozesse mit einer "Wendung aufs Subjekt"
Dieses Bildungsverständnis ist auf die Stärkung des Selbstbewusstseins und der Reflexionsfähigkeit in Selbstaufklärungsprozessen ausgerichtet. Die Stärkung subjektiver Bedürfnisse und Bildungsprozesse bedeutet auch, in der politischen Bildungsarbeit einfachen Zuschreibungen, polarisiertem und dichotomem Denken ein vielfältiges Identitätskonzept entgegenzusetzen. Die Auseinandersetzung mit den eigenen biografischen Entwicklungen und deren Einflüsse auf die eigene Identität ist hier zentral, um das von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als wesentliche Voraussetzung für Rassismus und Antisemitismus stehende stigmatisierende und schablonenhafte "Ticketdenken"
Für subjektorientiertes Arbeiten in der Bildungsarbeit gibt es zahlreiche Methoden, die versuchen, individuelle Erfahrungen der Teilnehmenden aufzugreifen und in den Kontext antisemitischer Einstellungsformen zu stellen. Durch Rollenspiele und Simulationen von exemplarischen Situationen, die im Zusammenhang mit Antisemitismus stehen, können Perspektiven gewonnen werden, die sich dann gemeinsam reflexiv bearbeiten lassen.
Eine Möglichkeit stellt in diesem Kontext das Arbeiten mit Biografien dar. Indem eigene und andere Lebensläufe in Beziehung zueinander gesetzt werden und die Teilnehmenden sich mit anderen Lebensrealitäten beschäftigen, können Selbst- und Fremdwahrnehmungen reflektiert werden. Durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denk- und Handlungsansätzen können pauschale Urteile über eine bestimmte Gruppe thematisiert und infrage gestellt werden. Zudem ist es notwendig herauszuarbeiten, dass die Zuordnung eines Individuums zu bestimmten Verhaltensweisen einer Gruppe immer auch autoritäre Züge trägt, da dies in der Regel ohne die Zustimmung des Einzelnen geschieht.
Die Rassismusforscherin Annita Kalpaka hat ein Theaterseminar entworfen, das gezielt Macht-Ohnmacht-Verhältnisse und pauschale Zuschreibungsprozesse von Verhaltensweisen auf bestimmte Gruppen in den Mittelpunkt rückt. Zwar thematisiert diese Methode vor allem rassistische Ausgrenzungen, sie bietet jedoch die Möglichkeit der Übersetzung für die politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Durch die Entwicklung von Alltagssituationen und Alltagserfahrungen können im Rollentausch die unterschiedlichen Erfahrungsebenen verschiedener Teilnehmenden thematisiert werden. So können Ungleichheit, Diskriminierung und Ausgrenzung aufgegriffen und nicht nur als akademisch-theoretische Beschäftigung, sondern als sinnlich-konkrete Alltagserfahrung durchlebt werden.
Mit dieser Methode wird ein ganzheitlicher, selbstreflexiver Lernbegriff angestrebt. Im Zentrum steht die Erforschung der eigenen Emotionen, die vis-à-vis der antisemitischen Zuschreibungen aufkommen, denen man je nach eingenommener Rolle ausgesetzt ist.
Ein bedeutendes Ziel wäre dann erreicht, wenn in gemischt-ethnischen Seminaren die Individualisierung von Beziehungsformen deutlich würde. Eine solche Pädagogik könnte auf die Anforderungen der Einwanderungsgesellschaft insofern reagieren, als dass zwar zum einen auf die Besonderheiten der eigenen kulturellen Geschichten Rücksicht genommen wird, aber auch die einzelnen Personen als Individuen in ihrem historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang und eben nicht nur als Angehörige ethnischer Gruppen angesehen werden.
Allerdings hilft die beste Pädagogik nicht, wenn Erkenntnisse keinen strukturellen Eingang in Bildungsinstitutionen finden. Politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus ist als Querschnittsaufgabe zu verankern, die nicht nur in diesem Themenbereich die klassischen Bildungsangebote für Pädagogen erweitert – die ohnehin meist nur von fachkundigen Interessierten besucht werden. Eine wirksame Auseinandersetzung mit den Facetten des Antisemitismus kann nur vorangetrieben werden, indem, etwa für die Referendarausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, didaktische und pädagogische Bausteine zum Thema Antisemitismus in der notwendigen Ausführlichkeit entwickelt werden. Alle angehenden Pädagogen müssten sich also in der gebotenen Intensität mit den Fragen des Rassismus und Antisemitismus an Schulen auseinandersetzen und sich mit den geeigneten Methoden hierzu vertraut machen.
Eine Pädagogik gegen die unterschiedlichen Facetten des Antisemitismus steckt noch in den Kinderschuhen – und sollte in den nächsten Jahren dringend konzeptionell weiterentwickelt werden.