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Demokratische Migrationsgesellschaft: Zusammenleben neu aushandeln

Brigitte Hasenjürgen

/ 14 Minuten zu lesen

Noch nie stand so viel Wissen über Migration bereit. Migration ist ein globales Phänomen: Es betrifft Migrierende wie auch diejenigen, die zurückbleiben oder die in der Zielregion leben und neue Nachbarn bekommen. Das Leben in Migrationsgesellschaften verlangt beziehungsweise ermöglicht, sich immer wieder in neuen Kontexten zu orientieren, andere Lebensweisen kennenzulernen und über selbst oder fremd gesetzte Grenzen hinauszudenken. So werden alte und neue Zugehörigkeiten mehr oder weniger konflikthaft markiert. Die jüngeren Kultur- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich explizit mit der Ambivalenz und der Vielschichtigkeit von räumlichen und kulturellen Grenzziehungen. Sie zeichnen die Widersprüchlichkeiten vermeintlich klar definierter Raum- und Kulturkonzepte nach und versuchen, Eindeutigkeiten als Mythen zu entzaubern. Trennlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden werden brüchig – steckt nicht in jedem etwas von einem Migranten, einer Migrantin? Kurz gesagt: Durch Migrationen werden bestehende Grenzbetrachtungen problematisiert.

Die zeitgenössische Rede von Migration, ihre mediale Verarbeitung und der Mainstream des wissenschaftlichen Diskurses wirken jedoch im Vergleich zu den skizzierten grenzüberschreitenden Perspektiven erstaunlich starr. Die Idee einer homogenen Gesellschaft, die sich mit den Ordnungskategorien "Heimat", "Volk", "Nation" oder moderater mit "Kultur" fassen lässt, ist weiterhin lebendig. Zugleich scheint die Wirksamkeit von Zuschreibungen, die Migrantinnen und Migranten als anders verorten, nahezu ungebrochen. Wie wenig diese Bilder von den "Migrationsanderen" mit der Lebenswirklichkeit der Individuen und Gruppen gemein haben, zeigen aktuell die Reaktionen auf die Neuzuwanderung von Frauen und Männern aus Bulgarien und Rumänien – darunter auch Angehörige der bulgarischen und rumänischen Minderheiten der Roma.

Weder die seit Jahrhunderten währende nachbarschaftliche oder berufliche Kommunikation mit deutschen Sinti und Roma noch die Auseinandersetzung mit Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung von europäischen Minderheiten ändern etwas an den Emotionen, mit denen "die Neuen" empfangen werden und die nicht allein die Sorge um Konkurrenzen auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt widerspiegeln. Die Bulgarinnen und Rumänen werden nicht gefragt, ob und wie sie sich selbst zu einer der zahlreichen verschiedenen Rom-Gruppen zugehörig fühlen oder diese repräsentieren möchten. Unabhängig davon, wie sie sich selbst positionieren möchten, werden sie nicht als europäische Bürgerinnen und Bürger, als Handwerker oder Krankenschwestern oder als Teile der Armen in der bulgarischen und rumänischen Bevölkerung auf der Suche nach einem besseren ökonomischen Auskommen, sondern als kulturell Fremde wahrgenommen und damit auf Abstand gehalten. Dabei wird erschreckend häufig an tradierte Vorstellungen von der Figur des "Zigeuners" und der "Zigeunerin" als kriminell veranlagt, ungebildet oder nicht integrierbar angeknüpft.

Grenzen als Aushandlungsräume

Man sollte die gegenwärtige Konstellation – eine Zunahme der Armutswanderung im erweiterten Europa und darüber hinaus – nutzen, um neu über Migration zu denken und zu sprechen: und zwar nicht nur in der Avantgarde der Sozial- und Kulturwissenschaften oder in rassismuskritischen Gruppen und politisch aktiven Selbstorganisationen. In allen gesellschaftlichen Feldern braucht es breite Diskussionen darüber, wie Migrationen nicht in erster Linie als Grenzverletzungen – sei es von nationalen Grenzen, sozialräumlichen Lebensformen oder habituellen Gewohnheiten – interpretierbar sind. Auch die Vorstellungen, dass Wanderungsbewegungen sich wie "Ströme" und mit Pull- und Push-Faktoren berechnen und Integrationsprozesse sich politisch nach einheitlichen Standards kontrollieren ließen, sollten hinterfragt werden.

Die Einfügungen in neue Nachbarschaften, Bildungslandschaften oder soziale Dienstleistungen sind vielmehr auch Prozesse der Aushandlung unter den Migrierten wie den Nicht-Migrierten; sie verlaufen dementsprechend ungleichzeitig, variantenreich und widersprüchlich. Migrationen funktionieren also nicht wie Einbahnstraßen entlang von gesetzten Grenzen, sondern sie gestalten sich als komplexe Aktionsketten, deren Ausgestaltung grundsätzlich ergebnisoffen ist.

Die weltgeschichtliche Entwicklung lässt sich auf keine eindeutige ökonomische, politische oder anthropologische Triebkraft zurückführen. Die Entstehung der heutigen Zentren in Nordamerika, Asien und – zunehmend weniger zentral – Europa, der weltweite Handel mit allen Arten von Gütern und Diensten, die Entwicklung von transnationalen Netzwerken auf der Ebene des Finanzkapitals bis hin zu Verwandtschaftsökonomien sowie die große Vielfalt der Migrations- und Lebensformen lassen sich nicht auf einen Nenner bringen; viele Entwicklungen hätten auch anders verlaufen können.

Nicht nur die dominanten Wirkfaktoren, sondern auch Widerstand hat die globalen Entwicklungen geprägt. Und zwischen den Diskursen und Aktionsformen der weltweiten Widerstandsgruppen lassen sich ebenso Parallelen wie zwischen denen der herrschenden Kräfte feststellen.

Auch das Bild von der "Festung Europa" geht fälschlicherweise von starren nationalen Grenzen um fest umrissene Territorien aus, die sich durch Justiz, Polizei und private Sicherheitsunternehmen kontrollieren lassen. Ein Konzept, das eher die Ungleichzeitigkeiten, das Fragile und Unvollständige von Handlungen und gewachsenen Strukturen betont, sieht in den Verantwortlichen weniger die allmächtigen Behörden, sondern "Institutionen der Improvisation", die dem Migrationsgeschehen hinterherlaufen. Mit dieser Perspektive können dann die institutionellen Praktiken wie die Handlungsstrategien der Individuen und Gruppen als Reaktionen auf ökonomische, politische und soziale Umbrüche und zugleich als Ergebnisse von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums begriffen und analysiert werden.

Im Lichte einer solchen Perspektive, welche die Akteure in den Mittelpunkt rückt, verändern sich auch die Schablonen, die "Migrantinnen und Migranten" als exotische Pflanzen zeichnen, die aus Boden und Heimat entwurzelt in einem gänzlich neuen Lebensraum wieder integriert werden müssen. Kommen doch die Neuankömmlinge mit "entwickelten Persönlichkeiten" und stellen ihre Handlungsfähigkeit nicht zuletzt durch ihre "freie" Migrationsentscheidung – wenn auch unter nicht selbst gewählten Bedingungen – unter Beweis. Dabei unterscheiden sich die Migrationsformen, -ziele und -folgen: von der temporären oder unabsichtlich beziehungsweise gewollt dauerhaften Migration in weit entfernte Regionen bis hin zu geografisch nahen, aber sozial-kulturell fernen Orten – etwa wenn Menschen aus kleinbäuerlichen Dorfmilieus in Großstädte migrieren.

Solche Ortsveränderungen zwischen geografischen und gesellschaftlichen Räumen haben vornehmlich soziale und geschlechtsspezifische Aspekte: Es migrieren Frauen und Männer aus spezifischen sozialen Milieus, die in bestimmten Geschlechter- und Klassenordnungen groß geworden sind. Sie bringen ihre Vorstellungen von "richtiger" Weiblichkeit und Männlichkeit und ihre Ängste und Träume von sozialen Ab- und Aufstiegen mit. In den neuen Orten und Sozialräumen werden sie ebenfalls als Geschlechtswesen klassifiziert und auf der Leiter der sozialen Ordnung positioniert; es ergeben sich neue "alte" Zuordnungen oder auch Chancen zur Überschreitung von Geschlechtergrenzen oder sozialen und weiteren Barrieren.

Nun sind Migrationsentscheidungen von Frauen und Männern nicht mit unbegrenzten Möglichkeiten zu verwechseln. Vielmehr suchen die Akteure das Bestmögliche auf der Basis der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen und Ressourcen. Sie agieren in Netzwerken – oft im Rahmen von Familienökonomien; die Überweisungen von Geld und Wissen wirken auf familiäre und regionale Zusammenhänge in den Herkunftsregionen zurück. Orte, zu denen sich bereits Frauen und Männer aus dem eigenen Nahraum aufgemacht haben, gelten als erreichbar, die Sprachschwierigkeiten verschiedenster Art muten überwindbar an und die gleichwohl nötigen Anpassungsleistungen scheinen machbar.

In ihren "mentalen Karten" verknüpfen sie die bekannten lokalen Räume in ihrer Herkunftsregion mit spezifischen sozialen Räumen in der Zielgesellschaft; das Stadtviertel, die religiöse Landschaft oder das alltägliche Leben wirken so weniger fremd. Menschen, die aus- und einwandern oder zwischen Regionen pendeln, führen in ihrem Gepäck also nicht nationale Kulturen oder Identitäten mit sich, sondern erlernte Haltungen und bewährte Praktiken, an denen sie festzuhalten versuchen, die sie aber auch ablegen können. In jedem Fall gehen und kommen sie mit bislang nicht realisierten Zielen für Lebensprojekte, von denen sie glauben, sie woanders besser verwirklichen zu können. Diese Projekte bieten Chancen für die Individuen wie auch für die kollektive Entwicklung.

Mehrfach war bereits von "Grenzen" die Rede – mit raum-zeitlichen, politisch-ökonomischen oder sozial-kulturellen Bedeutungen. Grenzen sind nicht als offensichtlich und gegeben, sondern als dynamisch und variabel zu begreifen. Ein solches Verständnis fasst Grenzen nicht nur als Begrenzungen (Grenzlinien) oder als Hindernisse (Grenzschranken), sondern auch als Räume, in denen und über die verhandelt werden kann. Damit einhergehende Konflikte um Grenzschließungen und -öffnungen, um Übergänge und Grenzbereiche gehören dann selbstverständlich dazu. Von Interesse ist jedoch, wann und warum, wie und wo gestritten wird und wer sich daran beteiligt.

Wider kulturelle Grenzen

"Kultur" – dieser emotional und normativ aufgeladene Begriff wird häufig genutzt, um Differenzen zu markieren. Soziale Auseinandersetzungen werden als Konflikte zwischen Gruppen beschrieben, die in sich homogen und nach außen klar umgrenzt scheinen. So als würden alle Christinnen und Musliminnen, Deutsche und Türken oder Roma, Kurden und Tuareg aufgrund ihrer Religion, Staatsangehörigkeit und selbst übernommener oder fremdbestimmter Gruppenzugehörigkeiten jeweils ähnlich handeln, denken und fühlen. Mit diesem Verständnis von Kultur als einem stabilen System von Orientierungen und Zwängen – etwa in Form von Sprachen, Symbolen oder Traditionen – sind viele Bürgerinnen und Bürger der Migrationsgesellschaft Deutschland aufgewachsen; das betrifft Migrantinnen wie Nicht-Migranten.

Die Rede von kulturellen Unterschieden ist so vertraut, dass sie ganz natürlich zu sein scheinen; man meint diese Unterschiede quasi selbst fühlen zu können. In der Kommunikation im Kollegium, in der Nachbarschaft und im Verein hat das Deutungsmuster "Kulturdifferenz" denn auch einen hohen Plausibilitätswert. Es erfährt nur selten grundlegenden Widerspruch – weder in den Medien noch in Schule und Wissenschaft. "Interkulturelle Trainings", "Dialoge der Kulturen" oder "Kulturfeste" setzen sich zwar positiv für mehr Toleranz und das friedliche Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft ein; stillschweigend beschwören sie aber Kulturdifferenzen.

Gegenüber diesem gut eingespielten und sich selbst verstärkenden Interpretationsrahmen haben Entwürfe, die das Prozesshafte und Dynamische an "Kultur" betonen, einen schweren Stand. Dabei vermögen sie das Zusammenleben in kulturell komplexen Gesellschaften weit realistischer einzufangen. Blendet doch die Idee, Menschen entlang eindeutiger Kulturgrenzen unterscheiden und in Kulturkästchen einsortieren zu können, aus, wie variantenreich, widersprüchlich und auch eigensinnig gesellschaftliche Praktiken sind. Sozialisierte Frauen und Männer mit verschiedenen Interessen und Vorlieben und unterschiedlichen Machtressourcen werden so auf ihre kulturelle Zugehörigkeit reduziert. Es wird nicht gefragt, ob solche vorgestellten Zugehörigkeiten gewählt, angeboten oder aufgezwungen wurden, ob und wie Individuen in privaten oder öffentlichen Räumen je unterschiedlich auf kulturell geprägte Handlungsmuster zurückgreifen, ob sie sich gleichzeitig mehreren "natio-ethno-kulturellen" (Paul Mecheril) Zusammenhängen verbunden fühlen und schließlich wie sich Zugehörigkeitsgefühle im biografischen Verlauf auch verändern.

Die kritische Auseinandersetzung mit dem herkömmlichen Kulturbegriff verdankt sich wesentlich den sozialen Bewegungen gegen Kolonialismus, Rassismus und patriarchale Ordnungen. Sie konnten verdeutlichen, wie mit kulturellen und geschlechterorientierten Differenzsetzungen immer auch Bewertungen verbunden sind und somit Hierarchien zwischen Kulturen und Geschlechtern bestätigt und erneuert werden. Migrantinnen haben beispielsweise die Gesellschaft Deutschlands aktiv mitgeprägt; dass ihr Beitrag sträflich unterschätzt wird, ist ein Zeichen dafür, wie Machtverhältnisse wirken, in denen Grenzziehungen entlang sogenannter kultureller Unterschiede – hier zwischen den weißen und nicht-weißen Frauen – funktionieren.

Ein anderer, "bedeutungs- und wissensorientierter" Kulturbegriff liest die übliche Unterscheidung zwischen den Kulturen gegen den Strich: Kultur ist nicht einfach, sondern geschieht. Unterschiedliche Praktiken und Wertvorstellungen entstehen, indem soziale Gruppen unter differenten ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen strategisch handeln. Dabei greifen sie auf Kultur als eine Art "Werkzeugkiste" mit Ordnungs- und Deutungsmustern zurück, mit denen sie ihren Handlungen Sinn und Bedeutung verleihen.

Nur auf den ersten Blick liefert der Verweis auf kulturelle Unterschiede einfache Antworten. Das Infragestellen des hohen Stellenwerts von Kultur kann dagegen den Blick auf soziale Konflikte entdramatisieren und helfen, für Alltags- und Strukturprobleme jenseits etablierter Zurechnungen und Abgrenzungen Problemdiagnosen zu verbessern. Verantwortliche in Bildung, Justiz und Medien, in der Sozial- und Integrationspolitik deuten jedoch soziale Probleme allzu schnell als Probleme des kulturellen Unterschieds. "Migrantinnen und Migranten" wird oft so begegnet, als seien sie gerade angekommen, obwohl sie in Deutschland aufgewachsenen oder seit Langem eingebürgert sind und fließend Deutsch sprechen; deutsche Sinti und Roma sind auch 600 Jahre nach ihrer Einwanderung nicht davor geschützt, als Fremde abgewertet und ausgeschlossen zu werden.

An allen gesellschaftlichen Orten, in denen um menschenfreundliche Bildung, humanitäre Arbeitsbedingungen oder Rechte von Flüchtlingen gestritten wird, sind die Beteiligten herausgefordert, diese (un-)heimliche Vorliebe für das Kulturalisieren von Problemen zu überdenken. In Kitas und Schulen sowie in der Kommune müssen sich die Akteure fragen, welche Folgen es hat, wenn Konflikte zwischen Schülern und Lehrerinnen, Kindern und Erziehern oder Jugendlichen und Nachbarn tagtäglich auf kulturelle Differenzen und fehlende Gemeinsamkeiten zurückgeführt werden. Journalistinnen und Journalisten, die komplexe soziale Probleme wie Bildungs- oder Einkommensarmut wider besseres Wissen mit der Kulturzugehörigkeit beziehungsweise der "Bildungsferne" der Betroffenen erklären, sollten sich fragen, ob sie lediglich bewährte Interpretationsmuster bedienen möchten. Politisch Aktive in Parteien, in Vereinen und Nichtregierungsorganisationen, in Glaubens- und Kulturgemeinschaften müssen prüfen, inwiefern sich auch für sie Kulturalisierungen als nützlich erweisen, um an den herrschenden Machtverhältnissen nicht rütteln, ein selektives Bildungssystem nicht reformieren, die eigene Definitionsmacht nicht infrage stellen zu müssen.

Für die Debatte um gerechtere und solidarischere Formen des Zusammenlebens sind die Grenzziehungen entlang von "Kulturen", Staatsbürgerschaften oder Sprachen nicht unbedingt förderlich. Was eine demokratische Migrationsgesellschaft auszeichnet, ist nicht ein national, religiös oder kulturell begründeter Wertekonsens. Eine "Kultur", die von 82 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen in Deutschland kollektiv geteilt wird, wäre ein Horror. Die Propagierung kulturell homogener Nationen mit einer "Leitkultur" bekräftigt lediglich die kulturellen Vorherrschaften und muss als "symbolische Gewalt" (Pierre Bourdieu) gegenüber missliebigen oder randständigen Gruppen verstanden und kritisiert werden.

Migration als Chance, alte Fragen neu auszuhandeln

Grenzüberschreitungen – mit den Füßen wie in den Köpfen – sind charakteristisch für eine Migrationsgesellschaft. Migrationen und transnationale Lebenskonzepte sind als denkbare, erzwungene oder ertrotzte Reaktionen auf Wirtschaftskrisen und soziales Elend, Diskriminierung und Rassismus zu verstehen und als Formen der Ressourcenoptimierung wie der Überlebenskunst wertzuschätzen. Auch die durch Migration ausgelösten oder verstärkten Verteilungs- und Anerkennungskonflikte und die damit einhergehenden Gefühle von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit sind einem Zusammenleben von Individuen nicht abträglich. Migration ist dann kein Problem, wenn durch ein gerechtes Bildungssystem, Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und hinreichende Teilhabemöglichkeiten sichergestellt ist, dass sich alle jenseits ihrer herkunftsbedingten Sozialisationsgeschichten als Bürgerinnen und Bürger selbstverständlich anerkannt fühlen und gleichberechtigt am ökonomischen, politischen und kulturellen Geschehen teilhaben können.

Bildung steht Kindern und Jugendlichen aller Nationen, Sprachen und sozialen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten nur bedingt offen. Jugendliche aus Migrationsfamilien sind in gymnasialen Bildungsgängen deutlich unterrepräsentiert, sie besuchen überproportional häufig die Hauptschule und die Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen und stellen an den Hochschulen eine – nach diesem Bildungsvorlauf nicht verwunderlich – "stark selektierte Gruppe" dar.

Diese Momentaufnahme bedeutet allerdings nicht, dass Jugendliche aus Migrationsfamilien eine homogene soziale Gruppe, geschweige denn eine "Problemgruppe" bilden; sie haben dieselben Lebensbewältigungsstrategien wie die Jugendlichen, die keine persönlichen oder familiären Migrationsgeschichten zu erzählen wissen. Im Generationenverlauf haben höherwertige Bildungsabschlüsse von Jugendlichen aus Migrationsfamilien stetig zugenommen; mit Blick auf die Anhäufung von "Bildungskapital" (Pierre Bourdieu) als Familienprojekt verlaufen ihre Bildungskarrieren erfolgreich. Schließlich spielt der sozio-ökonomische Status der Eltern wie bei allen Jugendlichen in Deutschland eine weit elementarere Rolle für den eigenen Bildungserfolg als der Faktor "Kultur" – ein Kennzeichen für die Handlungsroutinen eines ungerechten Bildungssystems, das vor allem die herrschende soziale Ordnung reproduziert.

Die Diskussionen um Probleme von "Migrantinnen und Migranten" lenkt den Blick auf fortbestehende Ungleichheitsstrukturen: Nicht nur der seit den 1960er Jahren skandalisierte Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungschancen wird durch einen entkulturalisierten Blick auf "Migration und Bildung" wieder zu einem neuen Thema.

Auch von einem Mindestlohn und weniger prekären Beschäftigungsverhältnissen profitieren alle. Familien mit Migrationsbiografien sind zwar überdurchschnittlich armutsgefährdet, primäre Ursache ist jedoch für alle von Armut Betroffenen die Erwerbslosigkeit; die Nichtanerkennung von Qualifizierungen, Arbeitsverbote für Flüchtlinge und weitere Diskriminierungen können dann erschwerend hinzukommen. So ist auch schwer nachvollziehbar, wieso sich ausgebildete Handwerker und Handwerkerinnen – der türkische Schlosser, die bulgarische Friseurin oder der deutsche Koch – nicht auch ohne den Meistertitel selbstständig machen können.

Ebenso kann das Thema "Migration und Religion" dazu ermutigen, nach Lösungen für lange bestehende Probleme mit kirchlichen Tendenzbetrieben zu suchen. Davon profitieren auch nicht christliche wie konfessionslose, geschiedene, lesbische und schwule Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Über ein breites Angebot preiswerter und infrastrukturell erschlossener Wohnungen freuen sich nicht nur "Migrantinnen und Migranten" – soziale Gettos und "Parallelwelten" sind vor allem Folgen der Verdrängung von Armut an die Stadtränder und von raumgreifendem Reichtum in geografisch günstiger Lage. Auch die Frage der (Wahl-)Beteiligung von Ausländern und Ausländerinnen bietet einen Anlass, Beteiligungsstrukturen im politischen Raum zu überdenken. Mehr Rechte auf Freizügigkeit über Grenzen hinweg würden eine unnötige Kriminalisierung von Migration, die Elend und Unsicherheit für Betroffene, aber auch bürokratischen Aufwand und enorme Kosten bedeuten, verhindern. Schließlich sollten die 182 von zivilgesellschaftlichen Organisationen dokumentierten Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt seit 1990 als Zäsur begriffen werden, um deutlicher als bislang den Widerstand gegen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus auf die politische Agenda zu setzen.

Die Neuaushandlungen von Anerkennungs- und Teilhabefragen beispielsweise im Bildungs- und Arbeitsbereich berühren Machtfragen und verlaufen daher nicht konfliktlos. Sie bergen aber Chancen für alle. Es sind Lernfelder, in denen kreativ und fehlerfreundlich, selbstreflexiv und rassismuskritisch mit Positionierungen und Grenzerfahrungen experimentiert wird.

Wie kann es gelingen, dass zum einen menschliche Wünsche nach Orientierung und Sinngebung mittels kultureller oder religiöser Deutungsmuster respektiert werden, ohne dass diese Anerkennung von Kulturalität und Religiosität determinierende Haltungen weiter stabilisiert? Wie können kulturelle Gemeinschaften und Selbstorganisationen, die für Individuen einen haltgebenden oder aktivierenden Handlungsrahmen bieten, unterstützt werden, ohne dass damit Gruppensprecher und -sprecherinnen gefördert werden, die stellvertretend für ihre Anhänger und Anhängerinnen kulturelle Identitätspolitik betreiben und dabei primär ihre eigenen Interessen im Auge haben?

Kurzum: Nicht ein gemeinsam geteilter Kultur- und Wertehimmel, sondern die immer wieder neu auszuhandelnde Verständigung darüber, wie alle Beteiligten zusammenleben wollen, ist tragend für eine demokratische Migrationsgesellschaft. Migration wurde im vorliegenden Artikel als Anlass für überfällige Neuaushandlungen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Problemen skizziert. Ist doch die Re-Thematisierung "alter" Ungleichheitsstrukturen, die der Veralltäglichung anheimgefallen sind, für alle Bürgerinnen und Bürger von Gewinn.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Dirk Hoerder, Migrationen und Zugehörigkeiten, in: Emily S. Rosenberg (Hrsg.), Geschichte der Welt 1870–1945, München 2012, S. 433–588.

  2. Vgl. Gerald Lamprecht/Ursula Mindler/Heidrun Zettelbauer (Hrsg.), Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne, Bielefeld 2012; Peter Geschiere, The Perils of Belonging. Autochthony, Citizenship, and Exclusion in Africa and Europe, Chicago–London 2009; Transit Migration Forschungsgruppe (Hrsg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007².

  3. Das Kunstwort "Migrationsandere" zeigt das Problem der pauschalisierenden Zu- und Unterordnungspraktiken einer "Wir-Gruppe" gegenüber den "Nicht-Wir" an. Vgl. Paul Mecheril et al., Migrationspädagogik, Weinheim–Basel 2010, S. 17.

  4. Vgl. zur sozialen Konstruktion der "Zigeuner": Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Frankfurt/M. 2011; Alexandra Bartels et al. (Hrsg.), Antiziganistische Zustände 2. Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse, Münster 2013.

  5. Vgl. zu dieser Art einer dynamischen Geschichtsbetrachtung: E.S. Rosenberg (Anm. 1).

  6. Vgl. zu den europäischen "Institutionen der Improvisation" und zu "Grenzen als Aushandlungsräumen": Transit Migration (Anm. 2). Wie eine Anekdote liest sich beispielsweise der Hinweis in dem jüngsten Migrationsbericht, dass die geringen Zuwanderungszahlen im Dezember vermutlich auch den geänderten Öffnungszeiten der Meldeämter geschuldet seien. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Migrationsbericht 2011. Zentrale Ergebnisse, Berlin 2013, S. 25.

  7. Ich folge weitgehend der Perspektive des Historikers D. Hoerder (Anm. 1), S. 441.

  8. Vgl. ebd., S. 469, S. 480.

  9. Vgl. für einen differenzierten Blick auf die Frauenbewegungen: Ilse Lenz (Hrsg.), Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2010².

  10. Vgl. zur Entwicklung eines "bedeutungs- und wissensorientierten" Kulturbegriffs: Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Göttingen 2006; vgl. für einen Überblick über die Kulturdiskussion: Brigitte Hasenjürgen, Kultur, Transkultur, Demokratische Kultur, in: Marianne Genenger-Stricker/dies./Angelika Schmidt-Koddenberg (Hrsg.), Transkulturelles und interreligiöses Lernhaus der Frauen. Ein Projekt macht Schule, Opladen 2009, S. 37–54.

  11. Vgl. Deutsches Jugendinstitut e.V. (Hrsg.), Schulische und außerschulische Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Jugend-Migrationsreport. Ein Daten- und Forschungsüberblick, München 2012, S. 168f.; Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld 2012; Ländervergleich der OECD, International Migration Outlook 2012, Paris 2012; Lebenslagen in Deutschland. Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, Berlin 2012, S. 119.

  12. Vgl. Amadeu Antonio Stiftung et al., Mut gegen rechte Gewalt. Das Portal gegen Neonazis, 23.11.2011, Externer Link: http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990 (17.2.2013).

  13. Vgl. den hervorragenden Entwurf einer "Migrationspädagogik" von P. Mecheril et al. (Anm. 3).

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Dr. phil., geb. 1954; Professorin für Soziologie an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster, Piusallee 89, 48147 Münster. E-Mail Link: b.hasenjuergen@katho-nrw.de