Die Frage, was eine Gesellschaft "zusammenhält", wird im Zusammenhang mit liberalen Rechtsordnungen besonders intensiv diskutiert. Das mag angesichts des Scheiterns der Großtotalitarismen des 20. Jahrhunderts, die sich stets ihres "sozialen Zusammenhalts" rühmten, erstaunlich erscheinen. Andererseits besteht in der Tat ein Erklärungsbedarf, warum ausgerechnet eine der individuellen Freiheit verpflichtete Gesellschaft tatsächlich in vielen Fällen äußerst stabil sein kann – stabiler jedenfalls als die meisten Kritiker ihr zugestehen. Die klassische Erklärung, warum dies so ist, hat der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde in dem berühmten Diktum zusammengefasst: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann."
Zusammenhalt entsteht in der Regel in überschaubaren Gruppen oder in Solidargemeinschaften mit gemeinsamen Zielen und Werten. Dem steht allerdings entgegen, dass eine moderne freie Gesellschaft gerade dies nicht ist. Der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek hat in diesem Zusammenhang von einer extended order gesprochen.
Religion und Konflikt
Die Frage, ob und wie das auch für Religionsgemeinschaften gilt, ist eine, die empirisch beantwortet werden müsste. Religionsgemeinschaften bilden in diesem Zusammenhang insofern einen Sonderfall, als dass aus der Universalität ihres Gültigkeitsanspruchs häufig ein Ausschließlichkeitsanspruch einhergeht. In der Praxis erfahren diese Ansprüche häufig Modifikationen und Abschwächungen. Wahrscheinlich enthält auch jede Religion einen humanitären Kern, der sie von bestimmten gewalttätigen Durchsetzungsstrategien abhält. Dieser scheint je nach Religion unterschiedlich deutlich ausgeprägt zu sein. Empirisch scheint auch belegt zu sein, dass ein religiös pluralistisches Umfeld die Wahrung eines religiös freiheitlichen Ordnungsrahmens begünstigt, während eine "monopolistische" Religion ihn tendenziell gefährdet.
Zumindest im Konfliktfall scheint Religion daher kein Garant sozialer Kohäsion zu sein. Stattdessen könnte sich der innere Zusammenhalt der einzelnen Gemeinschaften verschärft gegen den consensus juris der Gesamtgesellschaft richten. Der Konfliktforscher Jo-Eystein Lindberg hat hierzu entscheidende Erkenntnisse gesammelt:
Religion und Rechtsordnung
Dies wirft die Frage auf, welchen Einfluss Religion im "Normalfall", außerhalb von Bürgerkriegssituationen auf die Rechtsordnung im Allgemeinen und die freiheitliche Rechtsordnung im Speziellen ausübt. Auch hier liegen empirische Daten vor. Dazu gehört vor allem der regelmäßige World Values Survey, der unter anderem die Religiosität von Gesellschaften (den Anteil der Menschen, die Religion persönlich für unwichtig, wichtig oder sehr wichtig halten) misst. Diese Daten kann man mit dem Failed States Index korrelieren.
Das Bild, das sich hier ergibt, ist eindeutig. Der Durchschnittsanteil der sehr Religiösen im instabilsten Drittel der Staaten dieser Welt liegt bei 80,1 Prozent, während er bei den stabilsten Rechtsordnungen 26,8 Prozent beträgt. Eine sehr starke und anteilsmäßig dominante Religiosität geht also tendenziell mit einem großen Moment der Destabilisierung einher. In Deutschland halten 11,2 Prozent Religion für sehr wichtig, 22,7 immerhin für einigermaßen wichtig. Dem stehen 66 Prozent gegenüber, die Religion für wenig oder gar nicht wichtig in ihrem Leben halten.
Religion und Freiheit
Diesem Verhältnis kann man sich ebenfalls empirisch-vergleichend nähern. Dabei hilft das Cingranelli-Richards (CIRI) Human Rights Data Set,
Es ist offensichtlich, dass die freiesten Gesellschaften (6–8 Punkte auf der CIRI-Skala) auch die säkularsten sind. Mit 26,8 Prozent ist der Anteil derer, denen Religion sehr wichtig ist, vergleichsweise gering. In unfreiesten Ländern (0–2) ist der Anteil mit 51,1 Prozent rund doppelt so hoch. Allerdings ist der Anteil beim "Mittelfeld" (3–5), in dem sich besonders viele Transformationsländer befinden, mit einem Durchschnitt von 62,2 Prozent noch höher. In dem Index gibt es auch eine Subkomponente zur Religionsfreiheit selbst. In ihr werden die erfassten Staaten dieser Welt auf einer Skala von 0 (keine Religionsfreiheit) bis 2 (volle Religionsfreiheit) eingestuft. Auch hier ist der hohe Anteil der sehr Religiösen in den Ländern, welche die Religionsfreiheit grob missachten, mit einem Durchschnitt von 62,2 Prozent signifikant größer als in den Ländern, die sie teilweise (31,2 Prozent) oder ganz (38,7 Prozent) achten.
Natürlich darf man sich durch solche Korrelationen – die man nicht einfach mit Kausalitäten gleichsetzen kann – nicht zu vereinfachten Interpretationen hinreißen lassen. Eindeutig ist jedoch, dass Religion nicht per se als Voraussetzung oder Garant liberal-säkularer Staatswesen gelten kann, ja dass sie sogar in "hoher Konzentration" eine große Gefährdung sein kann. Wirklich kompatibel scheinen Religionen und liberale Ordnungen vor allem dort, wo der Säkularismus als gesellschaftliches Leitbild über beträchtliche Stärke verfügt, das heißt mehrheitsfähig ist. Das stellt nicht generell die These infrage, dass Religionsgemeinschaften als gesellschaftliche Ligaturen zum Zusammenhalt liberaler Gesellschaften beitragen.
Sie sind aber offensichtlich nicht die dominante Form Kohärenz stiftender Ligaturen. Die offene Gesellschaft definiert sich nicht mehr über einen verbindlichen religiösen Kern. Zudem deutet der Befund zumindest an, dass sich nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Ligaturen in einer stabilen freien Gesellschaft insofern verändert, als dass sie deren Pluralismus, der sich aus dem freiheitlich-säkularen Staat ergibt, akzeptiert und verinnerlicht. Der Grad, in dem dies geschieht, dürfte bei verschiedenen Religionsgemeinschaften unterschiedlich ausgeprägt sein. Internationale Daten über Länder mit unterschiedlichen vorherrschenden Religionen zeigen markante Differenzen in der Akzeptanz von Menschenrechten und (Religions-)Freiheit auf.
So liegt der Befund nahe, dass das Böckenförde-Diktum nur dann funktionieren kann, wenn es auch umgedreht wird: Dass die Religion in einem freien und säkularen Staat überhaupt als gesellschaftliche Kohäsion fördernde Kraft fungieren kann, liegt auch an Voraussetzungen, die sie selbst nicht geschaffen hat. Das wiederum bedeutet, dass der säkular-freiheitliche Staat wohl doch über nicht-religiöse Voraussetzungen verfügen muss, die ihm selbst eigen sind.