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Bedingt kriegsbereit. Kriegserwartungen in Europa vor 1914 | Vorkrieg 1913 | bpb.de

Vorkrieg 1913 Editorial Schlaglichter aus dem Jahr 1913 Europa am Abgrund? Großmächte zwischen Krisendiplomatie und Aufrüstung 1913 als Kriegsjahr: Südosteuropa und die Balkankriege Bedingt kriegsbereit. Kriegserwartungen in Europa vor 1914 Die Vereinigten Staaten vor 1914 "Tangomanie". Die erste Tanzwelle

Bedingt kriegsbereit. Kriegserwartungen in Europa vor 1914

Christoph Nübel

/ 16 Minuten zu lesen

Das Jahr 1913 begann, wie 1912 endete: mit Krieg und Krise. Seit dem Herbst 1912 tobten Kämpfe auf dem Balkan und forderten die Interessen der konkurrierenden Mächte Österreich-Ungarn und Russland mitsamt ihrer Bündnissysteme heraus. Europa war erheblichen Spannungen ausgesetzt. In dieser bedrohlichen Situation – in kursierenden Depeschen sprachen die Diplomaten bereits von der Möglichkeit eines Krieges – verfasste der deutsche Generalstab eine Denkschrift, die sich mit den militärischen Zukunftsplanungen des Reiches befasste. Die Militärs hoben die Bedeutung der deutschen Allianzpartner, neben Italien war das vor allem Österreich-Ungarn, hervor. Nur "wenn das gesamte Volk von der Erkenntnis durchdrungen ist, daß mit der Schädigung der Bundesgenossen auch die eigenen Lebensinteressen gefährdet sind, wird die Opferwilligkeit in ihm aufleben, deren jeder Staat (…) bedarf, um einen energischen Krieg führen zu können". Sollte es auf dem Kontinent zum Krieg kommen, müsse man "den casus belli" so "formulieren, daß die Nation einmütig und begeistert zu den Waffen greift".

Das Beispiel ist kein Sonderfall: Es spiegelt Denkweisen und Einstellungen wider, die in allen europäischen Großmächten verbreitet waren, sich auf die Politik auswirkten und uns viel über das Jahr 1913 und die "Vorkriegszeit" verraten. Offensichtlich waren die internationalen Beziehungen um 1913 von Konflikten gekennzeichnet. Sie entstanden, weil das politische Handeln von gefährlichen Ideen geprägt war. Die Großmächte setzten auf eine herausfordernde Machtpolitik, mit der sie nationales Prestige gewinnen und ihre Sicherheit gewährleisten wollten. Dabei spielten die Bündnissysteme eine zunehmend wichtige Rolle. Die Denkschrift verrät weiterhin, dass man im Kriegsfall mit einem zerstörerischen Kampf rechnete, für den die Mobilisierung der ganzen Nation notwendig sein würde. Doch war ein Krieg für die Zeitgenossen überhaupt wahrscheinlich? Konnten Politiker und Militärs in Europa auf eine breite Zustimmung der Bevölkerung hoffen? Gab es womöglich schon vor Kriegsausbruch 1914 Formen einer Propaganda, die den Krieg befürwortete und auf ihn hinarbeitete?

Gefährliche Tendenzen

Nicht nur in der Krise von 1912/1913 lag in Europa Krieg in der Luft. Zwischen Deutschland und Großbritannien gab es wegen der deutschen Flottenpolitik latente Spannungen. 1905/1906 und 1911 beunruhigten zwei Marokkokrisen die internationale Politik, bei denen Deutschland und Frankreich um Einfluss in Nordafrika rangen. Sie führten letztlich zur Festigung der 1908 geschlossenen Triple Entente zwischen Frankreich, Großbritannien und Russland. Ganz ähnliche Auswirkungen hatte die Bosnische Annexionskrise. Sie sorgte im selben Jahr für diplomatische Unruhe, nachdem sich Österreich-Ungarn einige Balkanterritorien einverleibt hatte. Letztlich führten diese Krisen dazu, dass sich in Europa bis 1913 zwei gefestigte Bündnissysteme herausbildeten: Der Dreibund mit Deutschland, der Habsburgermonarchie sowie Italien auf der einen und die Triple Entente auf der anderen Seite. Zwischen 1911 und 1913 ereigneten sich darüber hinaus drei Kriege, in denen zunächst Italien, dann durch das Handeln Italiens ermutigt auch Balkanstaaten wie Bulgarien und Serbien den Machtbereich des wankenden Osmanischen Reiches zurückdrängten. Dazu kamen Unruhen an der Peripherie Europas, in denen Gewalt stets eine naheliegende Option politischen Handelns war. In ihren Kolonien zögerten die europäischen Mächte ohnehin selten, Aufstände mit Waffengewalt zu bekämpfen.

Die zahlreichen kalt und heiß ausgetragenen Konflikte verschafften dem Krieg eine besondere Präsenz in der europäischen Politik. Überhaupt waren politische und militärische Entscheidungsträger, Professoren und Publizisten wie Heinrich von Treitschke oder James Ram davon überzeugt, dass Krieg ein quasi-natürlicher Bestandteil der staatlichen Entwicklung sei. Die Kriegsdenkmäler in den europäischen Hauptstädten – die Siegessäule in Berlin, die Nelsonsäule auf dem Londoner Trafalgar Square, der Arc de Triomphe in Paris oder die Alexandersäule in St. Petersburg –, riefen jedem Passanten die eigene kriegerische Vergangenheit ins Gedächtnis. Krieg und Militär spielten in den Mythen und Symbolen europäischer Nationen eine wichtige Rolle und verschafften den Staaten damit Traditionen und Legitimität. So verwundert es wenig, dass Militär und Krieg auch in der Gesellschaft allgegenwärtig waren.

Die eigenartige Präsenz des Krieges in Europa speiste sich aber nicht nur aus Geschichtsbildern, sondern auch aus zeitgenössischen Mentalitäten und Ideologien. Neben dem Nationalismus und dem Imperialismus ist hier vor allem der Sozialdarwinismus zu nennen, der viel dazu beitrug, dass Staaten als Konkurrenten begriffen wurden. Er erhob Kampf und Macht zu den Leitlinien politischen Handelns, das auf nationale Expansion ausgerichtet sein müsse. Nur wenige Politiker hingen den radikalen Formen des Sozialdarwinismus an, dennoch waren Kampf ums Überleben, lutte pour la vie und struggle for life Schlagworte, die politisches Denken und Handeln beeinflussten. Vor allem die wirtschaftlichen Rivalitäten der Großmächte schienen sozialdarwinistische Annahmen zu bestätigen. In Großbritannien und Deutschland, weniger in Frankreich, ging man um 1900 davon aus, dass in Zukunft große Weltreiche entstehen würden. Man folgerte, dass allein Größe und Ressourcen der nationalen Einflussbereiche dafür entscheidend seien, welche Mächte das 20. Jahrhundert dominieren könnten.

Nationalismus, Imperialismus und Sozialdarwinismus führten zu einem Denken, das die internationale Politik zu einem Wettkampf der Staaten machte, in dem Ansehen, Einfluss und Ehre sowie Raum und Ressourcen bestimmend waren. Als Folge betrieben die europäischen Großmächte eine selbstbezogene Prestige- und Machtpolitik, in der Krieg immer eine mögliche Option darstellte. Es gibt jedoch unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die wichtigsten politischen Entscheidungsträger in Europa um 1913 einen Krieg erwarteten oder nicht.

Bedrohte Sicherheit

Der französische Präsident Raymond Poincaré war sich im Januar 1914 ganz sicher: "In zwei Jahren wird der Krieg stattfinden. All mein Trachten ist darauf gerichtet, um uns dafür zu wappnen." Hierin stimmte er mit seinem Generalstabschef überein, der gegenüber den verbündeten Briten verlauten ließ, "dass es für Frankreich besser sein würde, wenn der Konflikt nicht zu lange herausgeschoben würde". Beide Äußerungen beruhten allerdings nicht auf der Sehnsucht nach einem alles entscheidenden Krieg, vielmehr entsprangen sie einem diffusen Bedrohungsgefühl, das in allen Entente- und Dreibundstaaten verbreitet war. Durch die Zweite Marokkokrise war eine Phase allgemeinen Wettrüstens in Gang gesetzt worden, in dessen Zuge vor allem Deutschland und Frankreich 1913 ihre Armeen vergrößerten. Die Großmächte beäugten sich argwöhnisch.

Ähnlich wie in Deutschland, das Österreich-Ungarn unterstützte, war es 1912/1913 in Frankreich Priorität der Politik, die Bündnispartner an sich zu binden. Frankreich schloss mit Russland zahlreiche Militärkonventionen, da man davon ausging, Deutschland nur in einem Zweifrontenkrieg schlagen zu können. Die Generäle versprachen mit ihrem seit 1913 entwickelten Aufmarschplan "XVII" und der offensive à outrance im Kriegsfall militärischen Erfolg. Sie setzten die Politik unter erheblichen Druck, dem Zarenreich bei seinen Rüstungsbemühungen zur Seite zu stehen. In St. Petersburg fürchtete man um den eigenen Großmachtstatus und akzeptierte daher die Bedingung des Bündnispartners, für die gewährten Kredite die Eisenbahnlinien im deutsch-russischen Grenzgebiet auszubauen. Im Kriegsfall konnten so der russische Aufmarsch erheblich beschleunigt und Frankreichs Offensivpläne realisiert werden.

Auch in Berlin setzte man auf die Offensive, sollte es zum Krieg kommen. Ein 1905 von General Alfred von Schlieffen entwickelter und immer wieder modifizierter Plan sah mit einiger Kühnheit vor, Frankreich zu schlagen, bevor der russische Aufmarsch abgeschlossen sein würde. Dann sollten die Truppen nach Osten geworfen werden. Der Ausbau der russischen Eisenbahnen weckte nun in Deutschland erhebliche Befürchtungen. 1913 schrieb der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: "Am schwersten hat mich der Einblick belastet, den mich die Militärs in unsere Stärkeverhältnisse haben tun lassen. Man muß schon einen guten Teil Gottvertrauen haben, und auf die russische Revolution als Bundesgenossen rechnen, wenn man einigermaßen gut schlafen will." In dieser Situation kamen im deutschen Militär Forderungen nach einem Präventivkrieg auf, solange Deutschland seine Überlegenheit angesichts des europäischen Wettrüstens noch nicht verloren hatte. Generalstabschef Helmuth von Moltke hielt Ende 1912 ähnlich wie der französische Stabschef "einen Krieg für unvermeidlich" und forderte ihn rasch: "je eher, desto besser".

Die bewaffnete Macht verfügte vor allem in Deutschland, Frankreich und Österreich-Ungarn über ein großes Prestige. Sie wurde als Verkörperung der Nation gesehen, was den Einschätzungen der Armeeführung zusätzlichen Einfluss verlieh. Angesichts der krisenbehafteten Lage der internationalen Politik lässt sich bei allen Großmächten ein wachsender Einfluss des Militärs und des militärischen Denkens auf die Politik beobachten. Auch wenn bis 1913 alle politischen Krisen ohne Krieg beigelegt werden konnten, mussten die politischen Entscheidungsträger zumindest damit rechnen, dass es zukünftig dazu kommen könnte. Man war sich einig, dass die absehbaren Folgen dieses Krieges katastrophal sein würden, weshalb vor 1914 keine Macht einen kalten Konflikt zu einem heißen werden ließ. "In einem zukünftigen Krieg, der ohne zwingenden Anlaß unternommen wird, steht nicht nur die Hohenzollernkrone, sondern auch die Zukunft Deutschlands auf dem Spiel", fasste Bethmann Hollweg im November 1913 die möglichen Konsequenzen zusammen.

Krieg war um 1913 zwar ein akzeptiertes Mittel der Politik, das aber keineswegs bedenkenlos ins Kalkül gezogen wurde (die Kolonien bildeten die große Ausnahme). Gleichwohl wollte man gewappnet sein. Allein das Militär, so schien es, könnte die nationale Sicherheit gewährleisten. Deshalb erhielten die Stimmen der Generäle mehr Gewicht, je verfahrener die internationale Lage wahrgenommen wurde. Nicht alle Militärs drängten auf einen Krieg, einige forderten ihn aber vernehmbar ein. Im Krieg sahen sie einen Ausweg aus den europäischen Krisen und auch eine Lösung für gesellschaftliche Probleme.

Den Zeitgenossen war klar, dass der nächste Krieg nicht mehr als ein begrenzter Kabinettskrieg daherkommen würde. 1905 vermutete Moltke: "Es wird ein Volkskrieg werden, der nicht mit einer entscheidenden Schlacht abzumachen sein wird, sondern der ein langes mühevolles Ringen mit einem Lande sein wird, das sich nicht eher überwunden geben wird, als bis seine ganze Volkskraft gebrochen ist, und der auch unser Volk, selbst wenn wir Sieger sein sollten, bis aufs äußerste erschöpfen wird." Im selben Jahr verkündeten die Sozialdemokraten, dass sie bei einem Präventivkrieg des Reiches gegen Frankreich in den Massenstreik treten würden. Das war eine ernste Drohung, denn in einem langen Konflikt war die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung und aller nationalen Ressourcen für den Kriegszweck vonnöten. Die verbreiteten Schlagworte vom Volk in Waffen und der nation en armes spiegeln diese Auffassung wider. In der Tat verfügten die Großmächte auf dem Kontinent im Kriegsfall über Millionenheere, große Teile der männlichen Bevölkerung absolvierten den Wehrdienst (in Deutschland 50 Prozent, im schwächer bevölkerten Frankreich 85 Prozent). Selbst in Großbritannien, das traditionell eine kleine Freiwilligenarmee unterhielt, verbreitete sich die Ansicht, man müsse zu einer nation in arms werden.

Militarismus und Pazifismus

Doch waren die Europäer überhaupt bereit, sich im Kriegsfall in einen entbehrungsreichen und langen Kampf zu werfen? Waren sie gar kriegsbegeistert? Auf den ersten Blick könnte man diesen Eindruck gewinnen: Der Sozialdarwinismus prägte das Denken breiter gesellschaftlicher Kreise, Krieg wurde als Lösung für soziale Missstände gesehen. Mit Sorge stellte die Sozialistische Internationale fest, dass Nationalismus und Militärbegeisterung auch in der Arbeiterschaft um sich griffen. Seit 1900 erschienen zahlreiche Bücher, die einen zukünftigen Krieg zum Thema hatten. Auch Künstler widmeten sich dem Krieg. Das Militär verfügte in den meisten europäischen Staaten über ein hohes Ansehen und diente als Vorbild für Jugendorganisationen. Staatliche Festakte kamen kaum ohne Militärparaden aus, Veteranenverbände hielten die Erinnerung an vergangene Kämpfe aufrecht. Gleichwohl lässt sich diese große Präsenz des Militärischen nicht einfach als Zustimmung zum Krieg werten.

Erstaunlich häufig nahmen die Kriegsromane jene Konstellationen vorweg, die 1914 Wirklichkeit wurden. In den britischen Romanen trafen vor allem Deutschland und Großbritannien aufeinander. Der bekannteste ist sicherlich "The Riddle of the Sands" (1903) des irischen Schriftstellers Robert Erskine Childers. Zuweilen kam es zu publizistischen Auseinandersetzungen, etwa wenn deutsche Autoren auf den erfolgreichen französischen Band "La fin du empire allemand" mit dem Buch "Die Errettung des Deutschen Reichs vom Untergang!" (beide 1912) reagierten – natürlich mit einem ganz anderen Ausgang. Wenn auch viele dieser Bände einen deutlich nationalistischen und militaristischen Unterton hatten, zeigten sie auch die Brutalität eines modernen Krieges und warnten teilweise vor dessen unkalkulierbaren Folgen. Der Kriegsverherrlichung der italienischen Futuristen ("Futuristisches Manifest", 1909) und anderer Künstlergruppen setzten Literaten oder Maler wie Ludwig Meidner bedrückende Kriegsszenarien entgegen ("Die brennende Stadt", 1913).

Militärische Traditionsvereine, die häufig in die lokale Festkultur integriert waren, erinnerten an militärische Werte und die kriegerische Geschichte. Veteranen genossen vor allem in Deutschland und Frankreich ein hohes Ansehen. Auch wenn sie vor einem Krieg warnten, weil sie seine Schrecken kennengelernt hatten, verbreiteten sie populäre Kriegserzählungen. Daneben existierten zwar zahlreiche unabhängige Jugendverbände, die sich vom militaristischen Gedankengut distanzierten. Doch auch sie waren bereit, die Nation zu verteidigen, sollte es zu einem Krieg kommen. In der Tat gehörten große Teile der europäischen Jugend paramilitärischen Verbänden an. Der 1911 gegründete Jungdeutschlandbund erfreute sich der tatkräftigen Unterstützung der Armee. Er gab die "Jungdeutschland-Post" heraus, in der es 1913 hieß: "Still und tief im deutschen Herzen muß die Freude am Krieg und ein Sehnen nach ihm leben, weil wir der Feinde genug haben." Auch in Frankreich erfreuten sich die sociétés de préparation militaire staatlichen Beistands. Beide Staaten banden die Jugendorganisationen um 1910 bei offiziellen Festakten verstärkt ein. In Großbritannien gab es in public schools und Universitäten ein militärisches Training, das auch bei den 1908 vom britischen General Robert Baden-Powell gegründeten boy scouts eine Rolle spielte.

Solche Entwicklungen riefen Kritik hervor. 1913 wurde in Den Haag der "Friedenspalast" eingeweiht, in dem das auf den Haager Friedenskonferenzen ins Leben gerufene Schiedsgericht zur friedlichen Beilegung internationaler Konflikte seinen Sitz nahm. Die Konferenzen hatten 1899 und 1907 stattgefunden und waren von Ideen der Friedensbewegungen inspiriert worden. Norman Angell, Jan Bloch, Ludwig Quidde, Charles Richet und Bertha von Suttner bildeten die publizistische Speerspitze des Pazifismus. Sie widersprachen der Ansicht von Militaristen wie Friedrich von Bernhardi und Gustave Le Bon, der Krieg sei ein natürliches Phänomen und wirke sich positiv auf die Entwicklung der Menschen aus. Die Pazifisten betonten vielmehr seine fatalen Auswirkungen. Der britische Historiker George P. Gooch schlussfolgerte, ihre Schriften hätten gezeigt, dass ein Krieg keinen materiellen Gewinn brächte. "We can now look forward with something like confidence to the time when war between civilised nations will be considered as antiquated as the duel, and when the peacemakers shall be called the children of God." Die internationale Lage ließ jedoch auch gegenteilige Schlüsse zu.

Kriegspropaganda vor dem Krieg?

In den militärischen Planungen aller Großmächte wurde betont, dass der Krieg von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden müsse – anders wäre ein moderner Volkskrieg nicht zu gewinnen. Versuchten also die europäischen Staaten schon frühzeitig, die öffentliche Meinung in diesem Sinne zu beeinflussen? Letztlich waren die Regierungen immer um eine diplomatische Beilegung der internationalen Krisen bemüht. Sie bereiteten keinen Präventivkrieg vor und stachelten vor 1914 auch nicht gezielt die Kriegslust in der Öffentlichkeit an. Kein Staat verfügte über einen Behördenapparat, der es erlaubt hätte, eine durchschlagende Propaganda ins Werk zu setzen. Als der Krieg ausgebrochen war, musste beispielsweise die britische Regierung eng mit dem Presseimperium des Lord Northcliffe zusammenarbeiten, um Meinungspolitik machen zu können. Das war anderswo ähnlich. In Deutschland wurden erst 1916 die Grundlagen für eine effiziente Propagandaarbeit geschaffen. Dennoch waren die Entscheidungsträger bemüht, die "öffentliche Meinung" zu beeinflussen. In Europa hatten sich politische Öffentlichkeiten herausgebildet, gegen die nur schwerlich Politik betrieben werden konnte. Vor allem bei der enorm kostenintensiven Rüstung, für die in Deutschland, Frankreich und Großbritannien immer die Zustimmung der Parlamente erforderlich war, kam es zur "Mobilisierung der öffentlichen Meinung". In Deutschland wurde bereits um 1900 das Flottenbauprogramm mit vonseiten des Staates lancierten Presseartikeln und Vereinsgründungen populär gemacht.

Die französische Regierung versuchte, für die großen Armeerüstungen von 1913 die Unterstützung breiter Bevölkerungsteile zu gewinnen, indem sie die Angst vor einem deutschen Überraschungsangriff, einer attaque brusquée schürte. Da diese Kampagne in Wahrheit hauptsächlich innenpolitische Motive hatte – sie sollte die Exekutive stärken und richtete sich gegen die Linke – trug sie eher zur gesellschaftlichen Spaltung als zur Versammlung der Öffentlichkeit hinter der Rüstungspolitik der Regierung bei. Zudem verschärfte sie den ohnehin erstarkenden Nationalismus und kräftigte die rechtsnationalen Verbände wie die Ligue d’Action française. In Deutschland hatten sich solche Verbände schon früher als gefährlich erwiesen. Sie forderten eine nationale Politik und agitierten offen für den Krieg, zur Not auch gegen die Reichsleitung. Daher war Kanzler Bethmann Hollweg äußerst zurückhaltend, 1913 eine Kampagne für die Aufrüstung zu entfesseln. Gleichwohl war der Geist aus der Flasche. Im Zuge der Rüstungsdebatte gründete sich der Deutsche Wehrverein, der zusammen mit dem Alldeutschen Verband oder dem Flottenverein (mit 1,1 Millionen Mitgliedern) und Teilen der Presse ins nationalistische Horn blies. In Großbritannien propagierten Navy League und National Service League (zusammen 300.000 Mitglieder) weitere Rüstungsanstrengungen und sorgten dafür, dass das Militär an Ansehen gewann. Waren manche dieser Verbände mit Billigung der Regierungen entstanden, wurde die Politik durch deren Agitation nun erheblich unter Druck gesetzt. Indem die nationalistischen Vereinigungen immer wieder die Notwendigkeit eines Krieges betonten, wollten sie die Kriegsbereitschaft erhöhen. Gegen eine solche bellizistische Stimmungsmache bezog vor allem die sozialistische und liberale Presse deutlich Position.

Kriegsbilder, Kriegserwartungen und Militarismus waren schlussendlich nicht allein durch gezielte Propaganda "von oben" entstanden. Sie wurden stattdessen in einer von Staat und Gesellschaft geprägten Öffentlichkeit verhandelt und basierten auf einem weit verbreiteten Gedankengut, das durch die Tätigkeit von Vereinen, bei Paraden oder in der Literatur besonders präsent war. 1913 waren die europäischen Gesellschaften militarisierte Gesellschaften. Die Alltäglichkeit des Militärischen zeugt von einer gewissen Akzeptanz soldatischer Werte und Normen, mochten diese auch von der Friedensbewegung und den Pazifisten kritisiert werden.

Europa 1913: Bedingt kriegsbereit

Die weite Verbreitung militärischer Werte engte den Handlungsspielraum zunehmend ein. Die Großmächte betrieben eine Politik der nationalen Stärke und begriffen das internationale System zunehmend als Konfliktfeld der Bündnissysteme. Die Deutungshoheit der Militärs war gefährlich, denn manche Politiker fühlten sich dazu gedrängt, ihr Handeln auf die Lösungsvorschläge der Generäle auszurichten. Diese rieten vor allem zur Aufrüstung und zur Stärkung der Kriegsbereitschaft, in Deutschland sogar zu einem Präventivkrieg. Doch ein mutwillig vom Zaun gebrochener Angriffskrieg hätte kaum dazu geführt, dass die Bevölkerung "einmütig und begeistert" in den Kampf gegangen wäre, wie von den Militärs erhofft und für nötig befunden. Vielmehr hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Protestwelle hervorgerufen, womit die Mobilisierung für den erwarteten Volkskrieg erschwert worden wäre. Allein das Gefühl, einen Verteidigungskrieg zu führen, konnte gewährleisten, dass viele Europäer bereitwillig in den Krieg zogen.

Dass ein Krieg der Großmächte hohe Opfer fordern würde, hatte der jüngste Balkankrieg gezeigt. 1913 kam eine Untersuchungskommission zu dem Urteil, dieser sei deshalb so verheerend gewesen, weil der Krieg "nicht nur von den Armeen, sondern von den Völkern selbst geführt" worden sei. Das ständige Gerede vom Krieg mochte die Kriegserwartungen in Teilen von Politik und Gesellschaft erhöht haben. Es setzte jedoch keinen Automatismus in Gang, der die Mächte auf den großen Krieg zusteuern ließ. Schließlich war es bislang immer gut gegangen. Unter diesem Eindruck stellte der Kanzlerberater Kurt Riezler 1913 sogar die Theorie auf, dass es in der europäischen Diplomatie eine große Hemmschwelle gebe, einen Krieg zu riskieren. Dies müsse man kaltblütig ausnutzen. Eine solche kalkulierte Sorglosigkeit gepaart mit dem Eindruck, das Dilemma der unsicheren internationalen Politik sei unlösbar, führte zu einem leichtfertigen Umgang mit Krisen und Kriegsgefahren.

1913 endete, wie es begonnen hatte: Mit einer Krise. Diesmal gerieten Deutschland und Russland aneinander. Im Grunde ging es um wenig: Durfte das Reich einen Militärberater, Otto Liman von Sanders, nach Konstantinopel senden, um dort eine Armeereform zu organisieren? Russland sah seinen Zugang zum Mittelmeer in Gefahr und reagierte so harsch, dass Krieg in der Luft lag. Wieder ging es um Allianzen, Macht und Prestige. In diesem Fall hatte eine Personalfrage ausgereicht, um Europa an den Rand eines Krieges zu bringen. Auch wenn Deutschland und Russland den Konflikt letztlich mit Kompromissen beilegen konnten, waren ihre diplomatischen Beziehungen am Nullpunkt angelangt. Ein Krieg blieb weiterhin denkbar. Das war kein gutes Omen für 1914.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach: Erich Ludendorff (Hrsg.), Urkunden der Obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916/18, Berlin 19224, S. 53f.

  2. Vgl. Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation, München 2008; James Sheehan, Kontinent der Gewalt, München 2008, S. 25–29.

  3. Zit. nach: Klaus Hildebrand, "Staatskunst und Kriegshandwerk", in: Hans Ehlert/Michael Epkenhans/Gerhard P. Groß (Hrsg.), Der Schlieffenplan, Paderborn u.a. 2007, S. 21–43, hier: S. 22f.

  4. Vgl. Gerd Krumeich, Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg, Wiesbaden 1980, S. 272f.; Stefan Schmidt, Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914, München 2009, S. 191–194.

  5. Zit. nach: Jost Dülffer, Kriegserwartung und Kriegsbild in Deutschland vor 1914, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg, München–Zürich 1994, S. 778–798, hier: S. 779.

  6. Zit. nach: Stig Förster, Der Sinn des Krieges, in: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hrsg.), "Gott mit uns". Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 193–211, hier: S. 201.

  7. Vgl. Holger Afflerbach/David Stevenson (eds.), An Improbable War?, New York–Oxford 2007; Eric Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt/M. 2004, S. 381.

  8. Zit. nach: Wolfgang J. Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg, in: Jost Dülffer/Karl Holl (Hrsg.), Bereit zum Krieg, Göttingen 1986, S. 194–224, hier: S. 208, Anm. 27.

  9. Zit. nach: S. Förster (Anm. 6), S. 199.

  10. Vgl. Stig Förster, Sicherheitspolitik unter den Bedingungen des staatlichen Gewaltmonopols, 5.11.2012, Externer Link: http://portal.akmilitaergeschichte.de/foerster_sicherheitspolitik_gewaltmonopols (2.2.2013).

  11. Vgl. Jörn Leonhard, Nations in Arms and Imperial Defence, in: Journal of Modern European History, (2007) 5, S. 287–308. Zahlen nach J. Sheehan (Anm. 2), S. 35.

  12. Vgl. J. Dülffer (Anm. 5), S. 788f. Für eine Bibliographie dieser Literatur vgl. Ignatius F. Clarke, Voices Prophesying War 1763–1984, London u.a. 1966.

  13. Zit. nach: Andreas Gestrich, "Leicht trennt sich nur die Jugend vom Leben" – Jugendliche im Ersten Weltkrieg, in: Rolf Spilker/Bernd Ulrich (Hrsg.), Der Tod als Maschinist, Bramsche 1998, S. 32–45, hier: S. 35.

  14. Vgl. Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt, Göttingen 1997, S. 138.

  15. George P. Gooch, History of Our Time. 1885–1911, New York–London 1911, S. 247f.

  16. Vgl. Volker R. Berghahn/Wilhelm Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik, Düsseldorf 1988, S. 191ff.

  17. Vgl. G. Krumeich (Anm. 4), S. 54–72, S. 274f.

  18. Vgl. W.J. Mommsen (Anm. 8).

  19. Vgl. zu diesem erweiterten Propagandabegriff und den Folgen der Mobilisierung: Christoph Nübel, Die Mobilisierung der Kriegsgesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster, Münster u.a. 2008.

  20. Zit. nach: J. Sheehan (Anm. 2), S. 84.

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Dr. phil., geb. 1982; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. E-Mail Link: christoph.nuebel@geschichte.hu-berlin.de