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Schlaglichter aus dem Jahr 1913 | Vorkrieg 1913 | bpb.de

Vorkrieg 1913 Editorial Schlaglichter aus dem Jahr 1913 Europa am Abgrund? Großmächte zwischen Krisendiplomatie und Aufrüstung 1913 als Kriegsjahr: Südosteuropa und die Balkankriege Bedingt kriegsbereit. Kriegserwartungen in Europa vor 1914 Die Vereinigten Staaten vor 1914 "Tangomanie". Die erste Tanzwelle

Schlaglichter aus dem Jahr 1913

Florian Illies

/ 16 Minuten zu lesen

Gerade der Mitternachtsschuss. Schreien auf der Gasse und der Brücke. Glockenläuten und Uhrenschlagen." Aus Prag berichtet: Dr. Franz Kafka, Angestellter der Arbeiter-Unfall-Versicherung für das Königreich Böhmen. Sein Publikum sitzt im fernen Berlin, in der Etagenwohnung in der Immanuelkirchstraße 29, es ist nur eine Person, doch es ist für ihn die ganze Welt: Felice Bauer, fünfundzwanzig, etwas blond, etwas knochig, etwas schlaksig, Stenotypistin in der Carl Lindström A.G. Im August, es goss in Strömen, da hatten sie sich kurz kennengelernt, sie hatte nasse Füße bekommen, er sehr schnell kalte. Aber seitdem schreiben sie sich nachts, wenn ihre Familien schlafen, hochtemperierte, zauberhafte, seltsame, verstörende Briefe. Und nachmittags meist noch einen hinterher. Als Felice einmal ein paar Tage nichts von sich hören ließ, da fing er, als er aus unruhigen Träumen erwacht, verzweifelt "Die Verwandlung" an zu schreiben. Er hatte ihr von dieser Geschichte erzählt, kurz vor Weihnachten war sie fertig geworden (sie lag jetzt in seinem Sekretär, gewärmt von den beiden Fotos, die ihm Felice von sich geschickt hatte). Doch wie schnell sich ihr ferner, geliebter Franz selbst in ein schreckliches Rätsel verwandeln konnte, das erfuhr sie erst mit diesem Silvesterbrief. Ob sie ihn wohl, so fragt er aus dem Nichts, mit dem Schirm kräftig schlagen würde, wenn er einfach im Bett liegen bliebe, wenn sie sich für ein Treffen in Frankfurt am Main verabredet hätten, um nach einer Ausstellung ins Theater zu gehen, so also fragt Kafka einleitend in einem dreifachen Konjunktiv. Und dann beschwört er scheinbar harmlos ihre gemeinsame Liebe, träumt davon, dass Felices und seine Hand unlösbar zusammengebunden sind. Um dann fortzufahren: Es sei "immerhin möglich, dass einmal auf solche Weise zusammengebunden ein Paar zum Schafott geführt wurde." Was für ein reizender Gedanke für einen Brautbrief. Man hat sich noch nicht einmal geküsst, da phantasiert der Mann schon vom gemeinsamen Gang zum Schafott. Kafka selbst scheint kurzzeitig erschrocken über das, was da aus ihm herausbricht: "Aber was läuft mir denn da alles durch den Kopf?", schreibt er. Die Erklärung ist einfach: "Das macht die 13 in der neuen Jahreszahl." So also beginnt 1913 in der Weltliteratur: mit einer Gewaltphantasie.

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Die Angst, dass sich 1913 als Unglücksjahr erweisen könnte, sitzt den Zeitgenossen im Nacken. Gabriele D’Annunzio schenkt einem Freund sein "Martyrium des Heiligen Sebastian" und datiert es in der Widmung lieber vorsorglich als "1912 + 1". Und Arnold Schönberg hält den Atem an angesichts der Unglückszahl. Nicht ohne Grund erfand er die "Zwölf-Ton-Musik" – eine Grundlage der modernen Musik, geboren auch aus dem Schrecken ihres Schöpfers vor dem, was danach kommen würde. Die Geburt des Rationalen aus dem Geist des Aberglaubens. In Schönbergs Stücken kommt die Zahl "13" nicht vor, nicht im Takt, kaum einmal als Seitenzahl. Als er mit Entsetzen merkte, dass seine Oper über Moses und Aaron 13 Buchstaben haben würde, strich er Aaron das zweite a, und so heißt sie seitdem "Moses und Aron". Und nun also ein ganzes Jahr im Zeichen der Unglückszahl.

Jahresbeginn und Frühling

Vier Wochen wird Stalin in Wien bleiben. Nie wieder wird er Russland für so lange Zeit verlassen, die nächste längere Auslandsreise wird ihn dreißig Jahre später nach Teheran führen, seine Gesprächspartner heißen dann Churchill und Roosevelt (der eine war 1913 englischer Marineminister, der andere kämpfte als Senator in Washington gegen die Abholzung der amerikanischen Wälder). Stalin verlässt sein geheim gehaltenes Versteck in der Schönbrunner Schloßstraße Numero 30 bei den Trojanowskis nur selten, er ist komplett damit beschäftigt, seinen Aufsatz "Der Marxismus und die nationale Frage" zu verfassen – ein Auftrag von Lenin. Nur ganz manchmal, am frühen Nachmittag, vertritt er sich die Füße im nahen Park von Schloss Schönbrunn, der kalt und wohlgeordnet daliegt im Januarschnee. Einmal am Tag gibt es eine kurze Aufregung, wenn der Kaiser Franz Joseph das Schloss verlässt und mit seiner Kutsche in die Hofburg zum Regieren fährt.

Stalin geht durch den Park, denkt nach, es dämmert schon. Da kommt ihm ein anderer Spaziergänger entgegen, 23 Jahre alt, ein gescheiterter Maler, dem die Akademie die Aufnahme verweigerte und der nun die Zeit totschlägt im Männerwohnheim in der Meldemannstraße. Er wartet, wie Stalin, auf seine große Chance. Sein Name ist Adolf Hitler. Vielleicht haben sich die beiden, von denen ihre Bekannten aus dieser Zeit erzählten, dass sie beide gerne im Park von Schönbrunn spazieren gingen, einmal höflich gegrüßt und den Hut gelüpft, als sie ihre Bahnen zogen durch den unendlichen Park.

Das Zeitalter der Extreme, das schreckliche kurze 20. Jahrhundert, beginnt an einem Januarnachmittag des Jahres 1913 in Wien. Der Rest ist Schweigen. Selbst als Hitler und Stalin 1939 ihren verhängnisvollen "Pakt" schlossen, sind sie sich nicht begegnet. Sie waren sich also nie näher als an einem dieser bitterkalten Januarnachmittage im Park von Schloss Schönbrunn.

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In München arbeitet Oswald Spengler, der dreiunddreißigjährige Misanthrop, Soziopath und Mathematiklehrer außer Dienst am ersten Hauptteil seines Monumentalwerkes "Der Untergang des Abendlandes". Er selbst geht bei diesem Untergang mit gutem Beispiel voran. "Ich bin", so schreibt er 1913 in den Notizen zu seiner Autobiographie, "der letzte meiner Art". Alles gehe zu Ende, in ihm und an seinem Leib würden die Leiden des Abendlandes sichtbar. Negativer Größenwahn. Verwelkende Blüten. Spenglers Urgefühl: Angst. Angst davor, einen Laden zu betreten. Angst vor Verwandten, Angst, wenn andere Dialekt sprechen. Und natürlich: "Angst vor Weibern – sobald sie sich ausziehen." Unerschrockenheit kennt er nur im Denken. Als 1912 die Titanic sank, erkannte er darin eine tiefe Symbolik. In seinen parallel entstandenen Notizen leidet er, lamentiert, klagt über eine schwere Kindheit und eine noch schwerere Gegenwart. Täglich neu notiert er: Es geht eine große Zeit zu Ende, merkt es denn keiner? "Kultur – noch letztes Aufatmen vor dem Erlöschen." Im "Untergang des Abendlandes" formuliert er es dann so: "Jede Kultur hat ihre neuen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren." Aber so eine Kultur gehe langsamer unter als ein Ozeandampfer, keine Sorge.

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Wann geht es endlich los? Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand wird wahnsinnig vor lauter Warten. Seit unfassbaren 65 Jahren sitzt der 83-jährige Kaiser Franz Joseph auf dem Thron und will ihn einfach nicht räumen für seinen Neffen, der nun an der Reihe wäre, nachdem Sissi tot ist, Franz Josephs geliebte Frau, und Rudolf, sein geliebter Sohn. Immerhin hat sein Auto auch goldene Speichen wie die Kutsche des Kaisers. Doch den Titel, den hat seit 1848 nur er: Kaiser Franz Joseph. Oder, um korrekt zu sein: "Seine Kaiserliche und Königliche Apostolische Majestät, von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich, König von Ungarn und Böhmen, von Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien; König von Jerusalem etc. (…) Großwojwode der Wojwodschaft Serbien etc., etc."

Die Schulkinder, die das auswendig lernen müssen, lachen immer am meisten über das "etc., etc.", das klingt, als gehöre dem Kaiser eigentlich die ganze Welt, als hätte man nur einen kleinen Teil davon aufgezählt. Den Thronfolger Franz Ferdinand aber bringen die beiden Wörter genau vor dem "etc., etc." in Wallung: Die "Wojwodschaft Serbien". Dort unten im Balkan tobt ein Krieg, der ihm nicht geheuer ist. Er bittet um einen Termin in Schloss Schönbrunn beim "Großwojwoden der Wojwodschaft Serbien" – dem Kaiser, dessen weiße Koteletten so lang sind wie seine Titel.

Franz Ferdinand springt vor Schönbrunn mehr aus seinem Gräf & Stift Automobil als dass er ihm entsteigt und stürzt in seiner Generalsuniform die Treppen empor zum Arbeitszimmer Franz Josephs. Man müsse dringend etwas tun, um den Serben Einhalt zu gebieten. Zu aufmüpfig agiere das Königreich an der Südostflanke des Reiches, zündele, destabilisiere. Aber man müsse es mit Augenmaß tun. Man dürfe auf keinen Fall einen Präventivkrieg führen, wie das der Generalstabschef in seinem Memorandum vom 20. Januar fordert, weil das unweigerlich Russland auf den Plan rufen werde. Der Kaiser hörte sich seinen polternden, zeternden, bebenden Neffen ungerührt an: "Ich werde darüber nachdenken lassen." Dann ein kühler Abschied. Der Rest ist Schweigen. Franz Ferdinand hastet erregt in sein riesiges Automobil. Der livrierte Fahrer lässt den Motor an und muss, vom Thronfolger angefeuert, in einem Höllentempo die Schönbrunner Schloßstraße herunterbrausen. Wenn Franz Ferdinand schon sein Leben lang warten muss, dann wenigstens nicht im Straßenverkehr.

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Am 4. März gibt es ein großes Diner in der deutschen Botschaft in London. Dort ist natürlich auch Harry Graf Kessler, jener deutsche Snob im weißen, dreiteiligen Anzug, dessen Adressbuch zehntausend Einträge hat, Freund von Henry van de Velde, Edvard Munch und Maillol, der die Cranach-Presse in Weimar begründet hat und wegen zu freizügiger Aquarelle Rodins dort seinen Posten als Museumsdirektor räumen musste. Jener Graf Kessler, der zwischen Berlin, Paris, Weimar, Brüssel, London und München pendelt, als einer der großen Katalysatoren der modernen Kunst und des Jugendstils. Durch ihn lernen wir die englische Königin ein wenig besser kennen. Gerade hatte er bei diesem Empfang dem deutschen Botschafter Karl Max Fürst von Lichnowsky (dessen kunstsinnige, Picassos sammelnde Frau ihn mochte) Bernard Shaw vorgestellt. Nun revanchiert sich diese beim Diner: Kessler wird der englischen Königin vorgestellt. "Diese sah in Silberbrokat mit einer Krone aus Diamanten und großen Türkisen verhältnismäßig gut aus." Ansonsten war es sehr anstrengend: "Ich konnte sie nicht stehen lassen, und sie fand keinen Ausweg aus der Unterhaltung. Jede halbe Minute schläft die Konversation mit ihr ein, und man muss die arme Dame, wie eine abgelaufene Uhr, wieder aufziehen, was aber auch wieder immer nur auf dreißig Sekunden weiterhilft." Kriegsgefahr übrigens, so vertraut er seinem Tagebuch an, bestehe nicht, wie er gehört hat: "Die europäische Lage habe sich seit anderthalb Jahren vollkommen gedreht. Die Russen und Franzosen seien gezwungen, friedlich zu sein, da sie auf die Unterstützung Englands nicht mehr rechnen können." Na dann.

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"Das Alte stürzt, es stürzt, es ändern sich die Zeiten". Dieses Schiller-Zitat aus dem Wilhelm Tell prangt in großen Lettern im "Drogisten-Taschen-Kalender für das Jahr 1913". Steht eine Revolution bevor? Ahnen etwa die deutschen Drogisten etwas von einer kommenden Katastrophe?

Nein. Es gibt nur neue, hübsche Etiketten für Salben und Hustensäfte. Oder, wie es in der Anzeige weiter heißt: "Die in unserem Verlag erschienenen neuen Etiketten u.s.w. wurden durchweg von berufenen Künstlern entworfen und gelten in geschmacklicher Hinsicht als vorbildlich und unerreicht. Sie übertreffen alles bisher Gebotene."

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In der Aprilausgabe der Berliner Zeitschrift "Die Aktion" wird zum Vatermord aufgerufen, ohne dass der Verfasser Otto Gross wissen konnte, dass zeitgleich in Wien Sigmund Freud an seiner Theorie dazu saß. Gross schreibt einen Aufsatz mit Ratschlägen "Zur Überwindung der kulturellen Krise". Und der wichtigste ist: "Der Revolutionär von heute, der mit Hilfe der Psychologie des Unbewussten die Beziehungen der Geschlechter in einer freien und glückverheißenden Zukunft sieht, kämpft gegen die Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und gegen das Vaterrecht." (Am Ende des Jahres wird Gross, kein Witz, von seinem Vater in die Psychiatrie eingewiesen.) Es ist derselbe Zeitpunkt, zu dem Asta Nielsen im Kino mit dem Film "Die Sünden der Väter" zu sehen ist. Und Franz Kafka an seinen neuen Verleger Kurt Wolff in Leipzig schreibt, dass er sich als Titel für seinen ersten Erzählungsband "Söhne" ausgedacht habe. Gottfried Benns zweiter Gedichtband, der in diesem Jahr nicht bei Kurt Wolff erscheint, weil dieser Benns Gedichte nicht mag, sondern in Wilmersdorf bei dem Kleinverleger Meyer, heißt tatsächlich "Söhne". Kein Wunder also, dass am 3. April auf der Hamburger Werft Blohm & Voss das mit 54282 Bruttoregistertonnen und 276 Metern Länge größte Passagierschiff der Welt beim Stapellauf auf den Namen "Vaterland" getauft wird.

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Im Mai rüstet sich Berlin für das größte gesellschaftliche Ereignis des jungen Jahrhunderts: die Hochzeit von Prinzessin Viktoria Luise von Preußen mit Herzog Ernst August von Hannover am 24. Mai. Das Brautpaar fährt durch die Straße Unter den Linden, wo Tausende von Menschen jubeln. Und dann kommt es, wie das "Berliner Tageblatt" vermeldet, zu einem besonderen Moment: Demokratie und Monarchie in ungleichzeitiger Gleichzeitigkeit. Beziehungsweise: "Es ist wahrhaft ein herzzerreißender Anblick zu sehen, wie einmal der demokratische Autobus vor dem vorbeifahrenden aristokratischen Galawagen warten muss, dann aber wieder der Galawagen einhalten muss, um den Autobus passieren zu lassen." Zur Hochzeitsfeier reisen sowohl der russische Zar Nikolaus II. als auch der britische König Georg V. nach Berlin und Potsdam – und daneben ungezählte gekrönte und ungekrönte Häupter aus ganz Europa. Die Hochzeit war vor allem ein diplomatisches Ereignis. So kommentierte das "Berliner Tageblatt" die Zusammenkunft des Königs des Vereinigten Königreichs und des Zaren: "Selbstverständlich war der Besuch nicht politisch. Aber nach den bewegten politischen Vorgängen des letzten Winters musste es als willkommenes Exemplum einer Entspannung des internationalen Situation angesehen werden, dass gleichzeitig die Herrscher Russlands und Großbritanniens, die maßgebenden Monarchen der Tripleentente, beim deutschen Kaiser zu Gast waren. Es liegt in der Natur der Dinge, dass derartige persönliche Berührungen auch auf die politische Haltung der Kabinette abfärben, wenn auch nur in dem Sinne, dass auf allen Seiten der Friedenswille noch etwas schärfer akzentuiert wird."

Sommer

Es würde nie wieder zu einem Krieg kommen können, da war sich Norman Angell sicher. Sein Buch "The Great Illusion" ("Die falsche Rechnung") von 1911 wurde zu einem Weltbestseller. 1913 schreibt er einen vielbeachteten "Offenen Brief an die deutsche Studentenschaft", wodurch seine Thesen eine noch größere Verbreitung erfahren. Parallel erscheint die vierte Auflage seines Buches. Und so dürfen die Intellektuellen in Berlin, in München und Wien in diesem Frühsommer, als vom Balkan immer irritierendere Zwischengeräusche nach Norden dringen, beruhigt in dem Buch des britischen Publizisten lesen. Angell legte dar, dass das Zeitalter der Globalisierung Weltkriege unmöglich mache, da alle Länder längst wirtschaftlich zu eng miteinander verknüpft seien. Und Angell sagt, dass neben den wirtschaftlichen Netzwerken auch die internationalen Verbindungen in der Kommunikation und vor allem auch in der Finanzwelt einen Krieg sinnlos machen. Angell argumentierte so: Selbst wenn das deutsche Militär sich vielleicht an England messen wolle, gebe es "keine bedeutsame Einrichtung in Deutschland, die nicht schweren Schaden leiden" werde. Deshalb werde der Krieg verhindert, weil dann "der Einfluss der gesamten deutschen Finanzwelt gegenüber der deutschen Regierung zum Tragen kommen würde, um eine für den deutschen Handel ruinöse Situation zu beenden". Angells These überzeugte die Intellektuellen in der ganzen Welt. David Starr Jordan, der Präsident der Stanford University, spricht nach der Lektüre von Angell 1913 die großen Worte: "Der große Krieg in Europa, der ewig droht, wird nie kommen. Die Bankiers werden nicht das Geld für solch einen Krieg auftreiben, die Industrie wird ihn nicht in Gang halten, die Staatsmänner können es nicht. Es wird keinen großen Krieg geben."

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Zum 25-jährigen Thronjubiläum schreibt der 15-jährige Bertolt Brecht in sein Tagebuch die folgenden Verse: "Und wenn am Abend wir sinken/u. sterben den Heldentod,/dann soll uns tröstend winken/die Fahne schwarz-weiß-rot." Und noch eine Strophe: "Der Wind soll in ihr singen:/Du hast deine Pflicht getan!/Du starbst im Kampf u. Ringen/als treuer, deutscher Mann." Interessant.

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Am 3. Juli eskaliert der Streit zwischen Serbien und Bulgarien über Gebiete in Mazedonien. Serbien erklärt den Krieg – und die Türken, Griechen und Rumänen stellen sich ebenfalls gegen Bulgarien. Der zweite Balkankrieg ist da. Ständig erreichen neue Depeschen den Kaiser in Bad Ischl. Doch er will nicht gestört werden von diesen Heißblütern im Balkan. Er geht hinüber zu Frau Schratt und trinkt einen Tee.

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In Den Haag wird im September der Friedenspalast eingeweiht, gebaut mit Spenden aus aller Welt, davon etwa 1,25 Millionen Dollar des amerikanischen Multimillionärs Andrew Carnegie. Man beginnt mit den Vorbereitungen für eine neue Haager Friedenskonferenz, die 1915 alle offenen Fragen zwischen den Völkern klären soll.

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Hugo von Hoffmannsthal liegt in seinem Hotelbett im Vier Jahreszeiten in München und träumt, sein Haus sei zu einem Gefängnis der Französischen Revolution geworden – "und ich bin mir bewusst, dass dies der letzte Tag meines Leben ist: ich bin zum Tode verurteilt". Rundherum Schreiber, die mit der Erledigung von Todesurteilen beschäftigt sind. Da erscheint seine Frau: "doch es ist ein Wesen, dessen Gesicht ich nie gesehen habe, doch im Traum mir so vertraut, wie nur die Frau, mit der man zehn Jahre gelebt hat. Blitzschnell sagen wir uns beide, dass wir uns jetzt nicht umarmen dürfen." Seine Frau lässt ihn bei den Schreibern, die das Todesurteil vollstrecken. "Ich fühle, dass ich ihr nicht nachsehen kann, drehe mich gegen das Fenster, durch das die grelle Sonne hereinscheint." Hoffmannsthal wacht auf. Benommen zieht er sich an und versucht, sich durch einen Gang im Englischen Garten von dem Traum zu erholen. Doch die Bilder gehen ihm nicht aus dem Kopf, sein Körper fühlt sich noch immer an, als sei er zum Tode verurteilt. Es ist noch sehr früh, es sind kaum Spaziergänger im Park. Warm scheint die Herbstsonne über die Bäume. Er geht über die kleine Brücke des Eisbachs, da kommt ihm – das ist nun kein Traum mehr – ein Mann entgegen, der aussieht wie der große Traumdeuter Sigmund Freud. Und es ist Sigmund Freud. Der begrüßt den Wiener Bekannten herzlich, fragt nach dem Befinden und ob er denn gut geschlafen habe, er sehe etwas mitgenommen aus. "Alles bestens, verehrter Herr Doktor", sagt Hoffmannsthal. Und als dann auch noch Rainer Maria Rilke um die Ecke kommt, der sich mit Freud hier zum Spazieren verabredet hat, ist Hoffmannsthal endgültig, als träume er noch. Aber es ist, wie alles in diesem besonderen Jahr, wahr.

Herbst und Winter

Nach 15-jähriger Bauzeit wird am 18. Oktober zum hundertjährigen Jubiläum der Schlacht gegen Napoleon in Leipzig das bombastische "Völkerschlachtdenkmal" eingeweiht. Kaiser Wilhelm II. würdigt die Kampfkraft des deutschen Volkes. Das einundneunzig Meter hohe, sechs Millionen Reichsmark teure Monument, das daran erinnert, wie die Preußen gemeinsam mit Russland und Österreich die Franzosen schlugen, ist komplett mit Spenden und aus Lotteriemitteln finanziert worden. Der dunkle Stein ist ein Granitporphyr, der in Beucha bei Leipzig gebrochen worden ist. Für den Bau wurden 26.500 Granitwerkstücke und 120.000 Kubikmeter Beton verwendet. An der Einweihung des Denkmals von Clemens Thieme nehmen neben dem deutschen Kaiser und dem sächsischen König auch alle Fürsten der deutschen Staaten und Vertreter Österreichs, Russlands und Schwedens teil. Die Einweihung wird zu einer nationalen, martialischen Jubelfeier mit einer großen Parade. Würdenträger der drei Siegerländer legen Kränze am Fuß des Monuments ab. Anschließend gibt es im Gewandhaus ein feierliches Diner für 450 Gäste. Es wurde kein Toast auf den Frieden ausgebracht, sondern nur auf die unerschütterliche Waffenbrüderschaft zwischen Preußen und Österreich-Ungarn.

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Die lebenslustige Gräfin von Schwerin-Löwitz, Gattin des Landtagspräsidenten, lädt Mitte November zum Tango-Tee in den Preußischen Landtag. Auf dem Parkett: Tänzerinnen engumschlungen mit Amtsträgern und hohen Militärs. Daraufhin greift Kaiser Wilhelm II. durch, der den Tango für vulgär hält. Am 20. November ergeht ein kaiserlicher Erlass, wonach es Offizieren in Uniform künftig verboten ist, den Tango zu tanzen.

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Im kleinen Garnisonsstädtchen Zabern in Elsaß-Lothringen, das seit 1871 zum Deutschen Kaiserreich gehört, geschieht am 28. Oktober etwas Ungeheuerliches. Am Abend finden sich vor der Kaserne der deutschen Armee ein paar Dutzend Demonstranten ein, die dagegen protestieren, dass der Regimentskommandeur Günter Freiherr von Forstner seinen Rekruten erklärt hat, die Franzosen seien alle "Wackes" und: "Auf die die französische Fahne könnt ihr scheißen". Diese Worte waren an die Lokalzeitung gelangt und hatten für Entsetzen bei der Bevölkerung gesorgt. Als die Demonstranten Plakate hochhalten und um mehr Respekt werben, lässt der Kommandeur des Regiments drei Züge Infanterie mit scharfer Munition und aufgesetztem Bajonett anrücken. Unter den Demonstranten bricht Panik aus, doch die deutschen Soldaten prügeln auf sie ein und nehmen über dreißig Personen fest, darunter etliche unbeteiligte Passanten. Sie werden im Kohlenkeller ohne Licht und Toiletten eingesperrt. Darauf spricht der Regimentskommandeur Günter Freiherr von Forstner die folgenden Worte: "Ich betrachte es als ein Glück, wenn jetzt Blut fließt … Ich habe jetzt das Kommando, ich bin es der Armee schuldig, Respekt zu verschaffen."

Fünf Tage später wird er mit einem Trupp Soldaten erkannt und einige Arbeiter einer Schuhfabrik rufen ihm "Wackes-Leutnant" zu, daraufhin verliert er die Beherrschung und haut einem gehbehinderten Gesellen, der nicht schnell genug fliehen konnte, den Säbel über den Kopf, so dass dieser blutüberströmt zusammensinkt.

Schon einen Tag später debattiert der Reichstag in Berlin über die Vorgänge in Zabern. Die "Zabern-Affäre" bedrohte den Frieden zwischen Frankreich und dem Deutschen Kaiserreich wie kein Ereignis zuvor. Der deutsche Kriegsminister Erich von Falkenhayn lässt sich von dem offenen Rechtsbruch der deutschen Militärs nicht beirren. Er behauptet, "lärmende Tumultanten" und "hetzerische Presseorgane" seien für die Zuspitzung der Situation in Zabern verantwortlich. Daraufhin kommt es zu Tumulten im Landtag, die Opposition verwahrt sich gegen die Rechtfertigung eines Agierens des Militärs außerhalb des Rahmens von Gesetz und Ordnung. Der Zentrumsabgeordnete Konstantin Fehrenbach: "Auch das Militär untersteht dem Gesetz und dem Recht, und wenn wir zu den Zuständen kommen, das Militär exlex zu stellen und die Zivilbevölkerung der Willkür des Militärs preiszugeben, dann, meine Herren: Finis Germaniae! … Es ist ein Desaster für das Deutsche Reich." Das wahre Desaster aber kommt erst noch: Denn dem deutschen Staatsoberhaupt Wilhelm II. sagt das schneidige Auftreten des deutschen Militärs eigentlich zu, und er kann nichts wirklich Dramatisches an der sogenannten "Zabern-Affäre" finden. Zu einem Aufschrei steigert sich die Reaktion der europäischen Presse aber, als das Urteil gegen den Kommandeur Forstner, das zunächst wegen vorsätzlicher Körperverletzung auf 43 Tage Gefängnis lautete, im Berufungsverfahren vom Oberkriegsgericht in einen Freispruch umgewandelt wird. Forstner, so die Richter, habe sich in "Putativnotwehr" befunden und sei folglich unschuldig.

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Am Ende des Jahres 1913 erscheint ein überraschendes Buch. Es heißt "Das Jahr 1913" – darin der Versuch, eine Bilanz der Gegenwart zu ziehen, die "überreich an Kulturwerten" ist, aber zugleich eine "steigende Abstumpfung und Oberflächlichkeit der Massen sieht". Höhepunkt ist der letzte Beitrag von Ernst Troeltsch über die religiösen Erscheinungen der Gegenwart: "Es ist die alte Geschichte, die wir alle kennen, die man eine Zeitlang den Fortschritt genannt hat und dann die Dekadenz, und in der man heute gern die Vorbereitung eines neuen Idealismus sieht. Sozialreformer, Philosophen, Theologen, Geschäftsmänner, Nervenärzte, Historiker signalisieren ihn. Noch aber ist er nicht da." Die alte Geschichte, die man einmal den Fortschritt nannte – so weise also sprach man im Dezember 1913. Aber wer verstand diese Sprache im Stimmengewirr dieses Jahres?

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Es ist der 31. Dezember 1913. Arthur Schnitzler notiert in sein Tagebuch ein paar Worte: "Vormittags die Wahnsinnsnovelle zu Ende dictiert." Nachmittags liest er: Ricarda Huchs Buch "Der große Krieg in Deutschland". Ansonsten: "Sehr nervös tagsüber." Dann Abendgesellschaft: "Es wurde Roulette gespielt". Um Mitternacht stoßen sie an auf das Jahr 1914.

Geb. 1971; Partner des Berliner Auktionshauses "Villa Grisebach", dort zuständig für die Kunst des 19. Jahrhunderts; zuvor unter anderem Leiter des Feuilletons der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".