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Prostitution – Das "älteste Gewerbe der Welt"? | Prostitution | bpb.de

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Prostitution – Das "älteste Gewerbe der Welt"?

Romina Schmitter

/ 16 Minuten zu lesen

Die Vorstellung, Prostitution sei "das älteste Gewerbe der Welt" wird – nicht nur am Stammtisch – bis in die Gegenwart hinein kolportiert. Die historische Realität sieht jedoch anders aus. Die ältesten Erscheinungsformen der Prostitution – von der Heiligen Hochzeit über die Hierodulenpaarung bis zur Apotropäischen beziehungsweise Unheilabwehrenden Prostitution – gingen auf sakrale Riten zurück. In der griechischen und römischen Antike waren Prostituierte, von freigelassenen Hetären und Kurtisanen abgesehen, Sklavinnen, in der Neuzeit wurden sie als "Huren" kriminalisiert und seit 1700 als "liederliche Weibspersonen" staatlicherseits reglementiert.

Die sexuelle Dienstleistung meist weiblicher Menschen ist dabei zumindest in der Bundesrepublik Deutschland selbst seit Inkrafttreten des "Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten" am 1. Januar 2002 nur mit Einschränkungen als Gewerbe zu bezeichnen. Dass – wie Monika Heitmann, die Vorsitzende des Bremer Vereins "Nitribitt", im Jahre 1999 sagte – "das älteste Gewerbe … eigentlich gar keins (ist)", soll im Folgenden am Beispiel des 19. und des 20. Jahrhunderts verdeutlicht werden. Im 19. Jahrhundert fand Prostitution ausschließlich, im 20. Jahrhundert vorwiegend in Bordellen statt. Sie waren in der Reformation abgeschafft, aber seit 1700 wieder eingeführt worden, zunächst in Preußen, dann in den unter französischer Herrschaft stehenden Rheinbundstaaten, schließlich auch in den meisten Gebieten des nördlichen und östlichen Deutschland.

1794 legte das Preußische "Allgemeine Landrecht" fest (§999), dass "liederliche Weibspersonen … sich in die unter Aufsicht des Staates geduldeten Hurenhäuser begeben (müssen)". Aber während das Landrecht Prostituierte noch als "Weibspersonen" bezeichnete, "welche mit ihrem Körper ein Gewerbe betreiben wollen", hieß es in den Bordellreglements des 19. Jahrhunderts, dass Prostitution kein Gewerbe im eigentlichen Sinne sei. So besagte das Bremer Reglement von 1852, das auf eine Hamburger Fassung zurückging, dass die "eingezeichneten Mädchen", auch wenn sie Steuern zu zahlen hätten, nicht glauben sollten, "ihr an sich schändliches und verwerfliches Gewerbe (…) sei anderen erlaubten Gewerben gleichzustellen"; die Steuern würden "nur zur Bestreitung der notwendigen Kosten ihrer polizeilichen Beaufsichtigung und der Heilung von Krankheiten erhoben (…), die sich die öffentlichen Mädchen durch ihre liederliche Lebensart selber zuziehen".

"Sittenwidrigkeit"

Hintergrund der strikten Unterscheidung zwischen Prostitution und "erlaubten Gewerben" war das Verdikt der "Sittenwidrigkeit". Die Auffassung, dass Prostitution "sittenwidrig" sei, bestand seit der Reformation. In mittelalterlichen Städten wurde Prostitution – sanktioniert durch die katholische Theologie – als das "geringere Übel" im Gegensatz zu dauerhaftem Ehebruch oder sexuell motivierten Verbrechen von den Stadträten nicht nur geduldet, sondern sogar protegiert. Jedoch forderte Martin Luther in seiner Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation" sowie in einem Brief, der die Abschaffung der "Hurerey" zum alleinigen Gegenstand hatte, deren absolutes Verbot. Denn die "Frauen-" beziehungsweise "Hurenheuser" würden Ehebruch und sexuelle Verbrechen nicht verhindern, sondern erst ermöglichen. Luther ging sogar so weit, Prostitution mit Mord und Diebstahl gleichzusetzen, also mit Straftaten, die zu seiner Zeit mit dem Tode geahndet wurden, wenn er schrieb: Eine Stadt, die "Hurenheuser" dulde, könne ebenso gut "Mörderheuser und Diebeheuser aufrichten".

Noch in Reichstagsdebatten der Kaiserzeit wurde diese Auffassung, wenn auch nur indirekt, vertreten. So plädierte in der Sitzung vom 14. März 1900 ein Abgeordneter für die Schließung aller Bordelle mit der Überlegung, dass in den Zehn Geboten das Verbot des Ehebruchs nicht ohne Grund "mitten drin zwischen dem des Mordes und des Diebstahls" stehe, und "so wenig Sie mit (…) den Sünden gegen das fünfte oder das siebente Gebot paktieren wollen (…), so wenig können Sie mit der Sünde gegen das sechste Gebot paktieren". Schon bald darauf wurde diese religiöse Begründung auch juristisch fundiert. In einem Urteil von 1901 argumentierte das Reichsgericht mit Paragraf 138 des ein Jahr zuvor in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuches, der sich auf "sittenwidrige Rechtsgeschäfte" und "Wucher" bezog und jedes "Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt", als "nichtig" bezeichnete. Da Prostitution als "sittenwidrig" galt, befand sich jede Prostituierte im rechtsfreien Raum. Das bedeutete, dass ihr alle Rechte der Gewerbetreibenden verschlossen waren, sogar das Recht, für ihre sexuellen Dienste bezahlt zu werden.

Die Auffassung von der "Sittenwidrigkeit" der Prostitution überdauerte alle Gesetzesnovellen und politischen Umwälzungen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Obwohl Bordelle und Kontrollstraßen der Weimarer Republik seit 1927 zumindest vorübergehend verboten waren – sie wurden 1933 wieder eröffnet, obwohl "Sexuelle Revolution" und Reformierung des Sexualstrafrechts in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre zur Modernisierung konservativer Wertvorstellungen führten, kam es noch in den 1980er Jahren zu höchstrichterlichen Urteilen, die fast nahtlos an die des Reichsgerichts der Kaiserzeit anknüpften. So stellte das Bundesverwaltungsgericht am 15. Juli 1980 fest, dass "Erwerbsunzucht (…) eine sittenwidrige und in vieler Hinsicht sozialwidrige Tätigkeit" sei und 1993 zog die Bundesregierung aus dem Makel der Sittenwidrigkeit den bewährten Schluss, "daß die Ausübung der Prostitution nicht als Gewerbe im gewerbsrechtlichen Sinne angesehen werden kann".

Gewerberecht

Neben der "Sittenwidrigkeit" war seit Beginn des 19. Jahrhunderts das moderne Gewerberecht ein weiterer Grund dafür, dass Prostitution nicht als Gewerbe galt. In der mittelalterlichen Ständegesellschaft waren die "erlaubten Gewerbe" in Zünften organisiert und entsprechend streng geregelt. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit traten an die Stelle des Zunftzwangs Freizügigkeit und Selbstständigkeit: Im Preußischen Edikt von 1810 sicherte König Friedrich Wilhelm seinen "Unterthanen (…) das Recht" zu, "in dem ganzen Umfang Unserer Staaten, sowohl in den Städten als auf dem platten Lande (…) Gewerbe (…) zu treiben und von den Behörden dabey geschützt zu werden".

Die Reichsgewerbeordnung, die auf die 1869 beschlossene Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes zurückging, befasste sich darüber hinaus mit "Frauen, welche selbständig ein Gewerbe betreiben"; sie konnten "in Angelegenheiten ihres Gewerbes selbständig Rechtsgeschäfte abschließen", und es machte "hierbei keinen Unterschied, ob sie das Gewerbe allein oder in Gemeinschaft mit anderen Personen (…) betreiben". Dass diese Gewerbefreiheit für "liederliche Weibspersonen" keine Gültigkeit besaß, geht aus den Vorschriften des bereits genannten Bordellreglements beispielhaft hervor, unter anderem daraus, dass ihnen die für ihre Arbeit notwendige Anwerbung von Kunden "bei Gefängnisstrafe von 2 bis 8 Tagen (…) bei Wasser und Brot" verboten war. Auch mussten sie sich "alle acht Tage zweimal oder wenn nötig in noch kürzerem Zeitraum (…) der ärztlichen Untersuchung unterwerfen, welche in ihrer Wohnung, und zwar in den Morgenstunden, vorgenommen werden muß", wobei "der Arzt die bei der Untersuchung ausbleibenden Mädchen sogleich der Polizei an(zeigt)".

Reglementierung

Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 wurde die Kontrolle der Prostituierten vereinheitlicht, erweitert und verschärft. Die Vereinheitlichung bestand darin, dass Arbeit, Gesundheit und Lebensführung der Frauen in allen Städten des Reichs sittenpolizeilicher Kontrolle unterlagen, wobei das Recht der jeweiligen Polizeidirektion, eigene Vorschriften zu erlassen, regional bedingte, aber unwesentliche Variationen zuließ. Erweitert wurde die Reglementierung insofern, als sie nicht mehr nur die Bewohnerinnen der Bordelle, sondern auch die Prostituierten betraf, die ihrer Arbeit in der eigenen Wohnung oder auf der Straße nachgingen. Denn die entsprechende Regelung des Reichsstrafgesetzbuches, der Paragraf 361, galt generell für jede Frau, "welche wegen gewerbsmäßiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unterstellt ist". Vom Bordell, dem früheren "Hurenhaus", war nicht mehr die Rede. Stattdessen ging es um die Haftstrafe, mit der eine "Weibsperson" rechnen musste, "wenn sie (…) ohne einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein, gewerbsmäßig Unzucht treibt".

Nach den älteren Bordellordnungen hatten die Prostituierten noch einige Rechte gehabt. So konnten sie über ihren Lohn verfügen, durften weder zum Beischlaf noch anderen sexuellen Handlungen gezwungen werden und der Bordellwirt war verpflichtet, das "Mädchen" zu unterstützen, "das seine Lebensart ändern und sich auf eine rechtliche Weise ernähren will". Diese Rechte waren in den Polizeivorschriften der Kaiserzeit ersatzlos gestrichen. Weiterhin nahmen die Bestimmungen deutlich an Umfang und Detailliertheit zu. So betrafen die Vorschriften der Königlichen Polizeidirektion in München neben der Kontrolle der Gesundheit und des Verhaltens der Prostituierten auch die Pflicht zu polizeilichen An- und Abmeldungen sowie Zeit- und Ortsangaben bei Reisen; sie schränkten die Freiheit der Wohnungswahl ein, verboten Kontakte und Zusammenleben mit bestimmten "Mannspersonen" und steckten – zum ersten Mal in der bayrischen Hauptstadt – zahlreiche Sperrbezirke und -zeiten ab. Jeder Prostituierten war "untersagt":

  • "sich in der Nähe von Kasernen, Militärgebäuden oder sonstigen vom Militär stark besuchten Orten, sowie in der Nähe von Erziehungs- und Bildungsanstalten herumzutreiben;

  • den königlichen Hofgarten nebst den hierzu gehörigen Arkaden überhaupt, den Max-Josef-Platz, Marstallplatz, Odeonplatz, den Platz vor der Feldherrenhalle und der Theatinerkirche, ferner die Residenz-, Maximilian- und Hofgartenstraße, sowie die Briennerstraße zwischen Odeon- und Wittelsbacherplatz zu einer anderen Zeit als von 9 bis 11 Uhr vormittags, den Marienplatz nebst den sog. Bögen und den dort befindlichen Wirtschaften, mittags zwischen 12 und 1 Uhr, den Englischen Garten, die oberen rechtsseitigen und linksseitigen Isar-Anlagen und Auen, die Anlagen am Gasteig und zwischen dem Maximilianeum und Bogenhausen, die Anlagen beim städt. Krankenhaus, am Karls- und Maximilianplatz, in der Zeit vom Eintritt der Straßenbeleuchtung bis Tagesanbruch zu betreten; …".

So oder so ähnlich sahen die Polizeivorschriften in allen fünfundzwanzig Bundesstaaten des deutschen Kaiserreiches aus.

Unzuchtsverdacht

Eine weitere Verschärfung der Reglementierung war das Recht grundsätzlich jeden Mannes, jede beliebige Frau der "Gewerbsunzucht" zu verdächtigen. Vor der Reichsgründung hatte eine Verhaftung den "Nachweis des fleischlichen Gebrauchs gegen Bezahlung" vorausgesetzt. Jetzt reichte es, dass eine Frau sich "nächtlicherweise auf der Straße blicken" ließ, eine Erleichterung des Verfahrens, die in den zuständigen Ministerien ausdrücklich begrüßt wurde. Darüber hinaus aber waren Frauen auch bei Tage nicht sicher. Verhaltensweisen, die als undamenhaft galten, machten sie zu potenziellen Dirnen, und undamenhaft war es schon, sich auf der Straße seit- oder rückwärts zu wenden, statt gesenkten Blickes geradeaus zu gehen. Auch ein zu schneller, noch mehr ein zu langsamer Schritt war bedenklich. Männer konnten ihn als indirekte Aufforderung zur Annäherung verstehen. Und wer als weibliches Wesen gar die Beine blicken ließ, erwies sich eindeutig als Prostituierte. Die Polizei war angewiesen, besonders auf Fabrikarbeiterinnen und Dienstmädchen, Näherinnen und Kellnerinnen, Verkäuferinnen und Frauen am Theater zu achten, also Frauen, die aufgrund ihrer niedrigen Löhne auf einen gelegentlichen oder ständigen "Nebenverdienst" tatsächlich oft angewiesen waren.

Ein Beispiel, das sich um die Jahrhundertwende in Berlin ereignete, erregte als "Fall Köppen" besonders Aufsehen. Es ging um die Tochter eines Pferdekutschers. Sie wollte ihren Verlobten von der Arbeit abholen und wurde auf dem Weg dorthin von einem Passanten angesprochen. Als sie sich seinen Annäherungsversuchen widersetzte, zeigte er sie bei der Polizei als Prostituierte an. Sie wurde ins Gefängnis gebracht, wo sie eine Nacht zusammen mit Prostituierten verbrachte, und wurde am nächsten Tag einer Zwangsuntersuchung zur Feststellung der Jungfräulichkeit unterzogen. Erst nachdem die Untersuchung "zu ihren Gunsten ausgefallen war, bemühte sich die Polizei darum, ihre Identität festzustellen". Auch Frauen des Bürgertums waren vor Übergriffen nicht sicher, wie die Erfahrung einer Kaufmannswitwe aus Wien zeigte. Als sie in München von ihrem Hotel aus den Weg zu einem Restaurant einschlug, wurde sie von einem Herrn angesprochen, der sie zum Abendessen einladen wollte. Auf sein fortgesetztes Drängen hin lud sie ihn ihrerseits ein, mit ihr in ihrem Hotel zu speisen. Daraufhin übergab sie der Betreffende, der sich als Kriminalkommissar erwies, dem nächsten Polizisten "mit dem Befehl, die Dame wegen Verdachts der Gewerbsunzucht der königlichen Polizeidirektion vorzuführen".

Im Ersten Weltkrieg stand schließlich jede Frau unter grundsätzlichem Unzuchtsverdacht. Am 29. Juni 1916 erließ das Königliche Stellvertretende Generalkommando des 9. Armeekorps in Altona eine Verordnung, nach der die Zivilverwaltungen der zuständigen Militärbehörden verfügen konnten, alle Frauen zwangsweise zu untersuchen. Mit dieser Verordnung wollte man gegen die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten vorgehen.

Kasernierung

Nach dem Reichsstrafgesetzbuch musste jeder Bordellwirt damit rechnen, wegen Kuppelei verklagt zu werden, denn – so der Wortlaut des Paragrafen 180 – "Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittlung oder Verschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistet, wird wegen Kuppelei mit Gefängnis bestraft". Auch konnte "zugleich auf Geldstrafe von einhundertfünfzig bis zu sechstausend Mark" und "Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte … erkannt werden". 1883 erklärte das Reichsgericht in Berlin, dass das Bordellhalten – selbst bei polizeilicher Genehmigung – "strafbar" sei. Dass es kaum zur Verhaftung von Bordellbesitzern kam, hing mit ihrer Unterstützung durch Polizei und Gesundheitsbehörden zusammen. Auch Ärzte hielten das Bordell für eine zwar unmoralische, aber doch unverzichtbare Einrichtung. Sie waren mehrheitlich der Meinung, dass junge Männer regelmäßigen Geschlechtsverkehr bräuchten und der war – vor und außerhalb der Ehe – vor allem im Bordell zu haben.

Obwohl es in der Praxis also selten zu Problemen kam, gab es Bestrebungen, die Illegalität zu vermeiden. Als Ausweg erwies sich die sogenannte Kasernierung. Sie bestand darin, die Prostituierten auf "Kontrollstraßen" zu beschränken, wo die betreffenden Frauen nicht nur arbeiteten, sondern auch wohnten. Anders als im Bordell waren sie von keinem Zuhälter abhängig. Sie konnten über ihren Arbeitslohn verfügen und, wenn sie es wollten, die Bordellstraße verlassen, um einer bürgerlichen Tätigkeit nachzugehen. Ein Vertreter der Hamburger Sittenpolizei nannte einen weiteren Vorteil, als er im Jahre 1909 "das System der Lokalisierung und Kasernierung" vor dem deutschen Reichstag rechtfertigte. "Wir haben also Straßen in Hamburg", führte er aus, "welche dazu bestimmt sind, den unter polizeilicher Kontrolle stehenden Frauenspersonen als Wohnstätten zu dienen, und es ist natürlich, daß, wenn (…) die Prostituierten in diese Straßen hineinziehen, die anständige Bevölkerung (…) mehr und mehr verschwindet. Das ist es ja gerade, meine Herren, was mit Hilfe jenes Systems erreicht werden soll: Die Scheidung zwischen der Prostitution und dem anständigen Teil der Bevölkerung".

Für die Prostituierten waren die genannten Vorteile allerdings von nur zweifelhaftem Wert. Das wird am Beispiel der Bremer "Helenenstraße" deutlich, die 1878 eröffnet und weit über die Grenzen des Stadtstaates hinaus als Modell und Vorbild gepriesen wurde. Die Frauen konnten zwar ihren Verdienst für sich behalten, mussten aber täglich mindestens drei Männer bedienen, nur um die Lebenshaltung, Reinigung der Wohnung und die Miete finanzieren zu können. Dabei kostete allein die Miete 12 bis 15 Mark pro Tag. Das war ein Betrag, den eine Fabrikarbeiterin höchstens in einer Woche bekam. Indessen konnte sich der Begründer und Besitzer der "Helenenstraße", ein durch die Krise im Baugewerbe verschuldeter Unternehmer, mit Hilfe der Mieteinnahmen wirtschaftlich sanieren.

Kritik und Widerstand

Spätestens seit den 1880er Jahren wurde gegen den Widerspruch zwischen der öffentlichen Diskriminierung der Prostituierten und der heimlichen Wahrnehmung ihrer Dienstleistungen – vor allem durch Männer des Bürgertums – protestiert. Im Reichstag war es zuerst August Bebel, der Vorsitzende der SPD-Fraktion, der darauf hinwies, dass "wesentlich die sozialen, die wirtschaftlichen Verhältnisse die Ursache" dafür seien, "daß so viele Tausende armer Arbeiterinnen sich der Prostitution in die Arme zu werfen gezwungen waren". Sie sei nichts anderes als "eine notwendige soziale Institution der bürgerlichen Welt (…) wie Polizei, stehendes Heer, Kirche und Unternehmerschaft" und könne daher erst in einer sozialistischen Gesellschaft abgeschafft werden.

Außerhalb des Reichstag kämpften die "Abolitionistinnen", die als Frauen weder das aktive noch das passive Wahlrecht besaßen, in öffentlichen Versammlungen, Reden und Schriften gegen die Doppelmoral der Gesellschaft. Die Gründerin des "Deutschen Kulturbundes" (1880) Getrud Guillaume-Schack warf den Obrigkeiten der Gesellschaft in Ihrem Vortrag "über unsere sittlichen Verhältnisse" 1882 vor "die betreffenden Frauen allein zur Verantwortung ziehen und den vielleicht hauptschuldigen Teil, den Mann, frei ausgehen" zu lassen. Die Polizei verbot den Vortrag bereits nach einer Viertelstunde "wegen groben Unfugs". Nach Guillaume-Schacks Ausweisung aus Deutschland 1886 entstanden neue Vereine: in Hamburg unter der Leitung von Lida Gustava Heymann, in Berlin unter der von Anna Pappritz und in Dresden leitete Katharina Scheven einen Verein des 1904 gegründeten deutschen Dachverbandes der Internationalen Abolitionistischen Föderation. 1903 fuhr Anna Pappritz nach Frankfurt am Main, zum ersten Kongress der ein Jahr zuvor gegründeten Internationalen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Die dort versammelten Ärzte lehnten – wie die Abolitionistinnen – das System der Reglementierung ab. Aber – so die Ärzteschaft – eine Abschaffung der "Gewerbsunzucht" sei nicht möglich. Sexuelle Einschränkung oder gar Enthaltsamkeit schade der Gesundheit des normalen Mannes. "Der Geschlechtstrieb des Mannes verlange nach der Vereinigung mit dem Weibe, die Frau aber kenne diesen Trieb gar nicht, bei ihr wäre der Geschlechtstrieb nur Sehnsucht nach dem Kinde!". Daher forderte "die Majorität (…) mit einer geradezu stürmischen Eindringlichkeit, (…) Staatsbordelle" einzurichten, und zwar "unter der Leitung und Aufsicht gebildeter Frauen".

In ihrem sarkastischen Kongressbericht malte sich Anna Pappritz "die Ausführung dieses herrlichen Planes in der Praxis" aus: "Natürlich müssen diese Häuser so gelegen sein, daß sie keine Gefährdung für die Kinderwelt darstellen, ebenso wenig dürfen sie provozierend auf die männliche Jugend einwirken, denn – das wurde immer wieder und wieder betont – der Mann muß vor der Verführung geschützt werden; außerdem müssen sie, um nicht wirkungslos zu bleiben, die gesamte, also auch die geheime Prostitution, beherbergen. Fassen wir nun einmal die Berliner Zustände ins Auge: Sachverständige taxieren die Zahl der Berliner Prostituierten auf 20.000 (natürlich inklusive der geheimen). Man müßte also vor den Toren Berlins eine Bordellstadt von 20.000 Einwohnerinnen errichten. Ein solches Gemeinwesen bedarf (…) eines Oberhauptes, einer Verwaltung, es muß Läden, Handwerker, Feuerwehr, Schornsteinfeger, Straßenbahnen, ein Krankenhaus usw. haben. Aus der Bordellstadt wird also ein Weiberstaat (denn wegen der ‚Verführung‘ dürfen selbstverständlich Männer diese Posten, Betriebe und Berufe nicht ausfüllen) und somit wäre ja denn auch die Frauenfrage gelöst: alle Berufe, vom Bürgermeister bis zum Schornsteinfeger, stehen der Frau offen – in der Bordellstadt. Abends kommen dann die langen Extra-Züge aus Berlin an, mit dem ‚konsumierenden Publikum‘ (…). Aber – so werden mir meine Leser einwenden – es ist doch ganz undenkbar, daß wissenschaftlich gebildete Männer derartige Absurditäten forderten. Doch, sie forderten wirklich – fast einstimmig – das Staatsbordell (…) unter der Leitung von anständigen, gebildeten Frauen. Ich zog nur die Konsequenz aus dieser Forderung".

Nach Sozialdemokraten und Abolitionistinnen meldeten sich seit den 1970er Jahren erstmals die Prostituierten selber zu Wort. Den Auftakt der sogenannten "Hurenbewegung" bildete eine Kirchenbesetzung von 150 Prostituierten am 2. Juni 1975 im südfranzösischen Lyon, der weitere Besetzungen folgten. Die Frauen sagten, dass ihre Arbeit das "Mittel" sei, "das wir gefunden haben, um mit dem Leben fertig zu werden", und wehrten sich dagegen, dass sie auf der einen Seite gebraucht und deshalb nicht verboten, auf der anderen aber als "schmutzige, anormale" Personen verachtet wurden. Der 2. Juni wurde zum "Internationalen Hurentag" erhoben, es folgten nationale und internationale Kongresse und 1986 erreichten die Frauen eine Resolution des Europäischen Parlaments, in der sich die Mitgliedsstaaten verpflichteten, "die Ausbildung der Prostitution zu entkriminalisieren und den Prostituierten Rechte einzuräumen".

Auf dem europäischen Kongress 1991 in Frankfurt am Main forderten die Teilnehmerinnen – anders als die Sozialdemokraten und die Abolitionistinnen im 19. Jahrhundert – nicht mehr die Abschaffung der Prostitution, sondern ihre Anerkennung als Lohnarbeit oder Gewerbe. Die Prostituierte Cora Molloy trug das Modell "Beruf Hure" vor, das ihre Mitstreiterinnen – gemeinsam mit Juristinnen und Frauen der PDS und der Grünen – entwickelt hatten. Das erste betraf die "abhängig beschäftigte Lohnarbeiterin". Das zweite Beispiel, die "selbständige Unternehmerin", sollte ein Gewerbe angemeldet haben, Steuern zahlen und sich privat kranken- und sozialversichern. Bei dem dritten Beispiel ging es um die "Subunternehmerin", die über eine Agentur arbeitet, die für sie wirbt und ihr die Freier vermittelt. Auch die Subunternehmerin versichert sich eigenständig. 1990 wurde das Modell im Bundestag in einer öffentlichen Anhörung diskutiert; vor dem Hintergrund der rot-grünen Koalition, die im September 1998 die Regierung übernahm, kündigte die Bundesfrauenministerin Christine Bergmann einen Gesetzentwurf an, der im Oktober 2001 in dritter Lesung im Bundestag, im Dezember auch im Bundesrat angenommen wurde und am 1. Januar 2002 als "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten" in Kraft trat.

Damit hatten Prostituierte deutscher Staatsangehörigkeit erstmals in ihrer Geschichte das Recht, sich im Sozial-, Kranken- und Rentenbereich versichern zu lassen, sowie ein einklagbares Recht auf ihren Verdienst, da – wie es in Paragraf 1 des Gesetzes heißt – "ein vorher vereinbartes Entgelt" für "sexuelle Handlungen (…) eine rechtswirksame Forderung" darstellt. Außerdem bekamen die Frauen, die einen offiziellen Beruf ergreifen wollten, einen Anspruch auf eine vom Arbeitsamt zu bezahlende Umschulung.

Trotzdem hat das Prostitutionsgesetz – wie ein Expertengespräch im Oktober 2012 im Bundestag ergab – das Problem der real existierenden Prostitution, deren schlimmste Form die brutale Ausbeutung der Zwangsprostituierten ist, nicht gelöst. Prostitution galt also nicht nur in der Geschichte nicht als "Gewerbe". Selbst seit dem seit 2002 geltenden Prostitutionsgesetz ist sie nur mit Einschränkungen als solches zu bezeichnen. Die Meinung, Prostitution sei das "älteste Gewerbe der Welt", ignoriert die gesellschaftlichen, sozialen, rechtlichen und vor allem wirtschaftlichen Faktoren und verfälscht sie zu einer naturgegebenen und damit nicht zu verändernden Realität.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Angestelltenverhältnisse im Bordell, in: Die Tageszeitung vom 16.8.1999.

  2. Vgl. Romina Schmitter, Prostitution – Das "älteste Gewerbe der Welt"? Fragen der Gegenwart an die Geschichte, Oldenburg 2007²; 2005 vom Bremer Senator für Bildung und Wissenschaft für den Schulunterricht empfohlen. Der Beitrag folgt Teilen des Buchs. Für genauere Erläuterung der religiösen Riten oder der Situation in der Antike vgl. Kapitel 1 und 2.

  3. Hans Hattauer (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 1794, Berlin 1970, Teil I, Titel 20, §999.

  4. Johann-Günther König, Die feine Bremer Art …, Bremen 1982, S. 86.

  5. Martin Luther, Martin Luthers Werke, 120 Bd., Weimar 1967, S. 297.

  6. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Berlin 1900, S. 4682.

  7. Zit. nach: Joachim Riecker, Ware Lust – Wirtschaftsfaktor Prostitution, Frankfurt/M. 1985, S. 37.

  8. Zit. nach: ebd.

  9. Zit. nach: Ute Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1978, S. 243.

  10. Zit. nach: Romina Schmitter, Dienstmädchen, Jutearbeiterinnen und Schneiderinnen – Frauenerwerbsarbeit in der Stadt Bremen 1871–1914, Bremen 1996, S. 353.

  11. Zit. nach: J.G. König (Anm. 4), S. 86.

  12. Zit. nach ebd., S. 87.

  13. Sybille Krafft, Zucht und Unzucht – Prostitution und Sittenpolizei im München der Jahrhundertwende, München 1996, S. 241

  14. Vgl. ebd., S. 31.

  15. Vgl. Eduard Fuchs, Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart in 3 Bänden, Bd. 3, Berlin 1913, S. 117f.

  16. Vera Konieczka, Arten zu sprechen, Arten zu schweigen: Sozialdemokratie und Prostitution im deutschen Kaiserreich, in: Johanna Geyer-Kordesch/Annette Kuhn (Hrsg.), Frauenkörper, Medizin und Sexualität – Auf dem Wege zu einer neuen Sexualmoral, Düsseldorf 1986, S. 118f.

  17. Elisabeth Meyer-Renschhausen, Weibliche Kultur und soziale Arbeit – Eine Geschichte der Frauenbewegung am Beispiel Bremens 1810–1927, Köln/Wien 1989, S. 85.

  18. Elisabeth Meyer-Renschhausen, Die weibliche Ehre. Ein Kapitel aus dem Kampf von Frauen gegen Polizei und Ärzte, in J. Geyer-Kordesch/A. Kuhn (Anm. 16).

  19. Reichsstrafgesetzbuch, RStGB 1896, S. 425.

  20. Vgl. Anna Pappritz, Die Teilnahme der Frauen an der Sittlichkeitsbewegung, in: Helene Lange/Gertrud Bäumer (Hrsg.), Handbuch der Frauenbewegung II. Teil (1901), Weinheim – Basel 1980, S. 159.

  21. Vgl. E. Meyer-Renschhausen (Anm. 18), S. 313.

  22. Zit. nach: S. Krafft (Anm. 13), S. 34.

  23. Vgl. Stenographische Berichte (Anm. 6), S. 2684.

  24. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Berlin 1964 (zuerst 1879), S. 211.

  25. Gertrud Guillaume-Schack, Über unsere sittlichen Verhältnisse und die Bestrebungen und Arbeiten des Britisch-Continentalen und Allg. Bundes, in: Marielouise Janssen-Jurreit (Hrsg.), Frauen und Sexualmoral, Frankfurt/M. 1986, S. 64.

  26. Anna Pappritz (Anm. 20), S. 170.

  27. Anna Pappritz, Herrenmoral, in: M. Janssen-Jurreit (Anm. 25), S. 89.

  28. Anna Pappritz (Anm. 27), S. 86–88.

  29. Pieke Biermann, "Wir sind Frauen wie andere auch" – Prostituierte und ihre Kämpfe, Hamburg 1980, S. 190.

  30. Beruf Hure oder: Annäherung an die Arbeitswelt – Dokumentation, in: Frankfurter Rundschau vom 30.12.1992.

  31. Vgl. ebd.

  32. Bundesgesetzblatt 2001 I Nr. 74, S. 3983.

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Geb. 1939; bis 2001 Lehrerin für Deutsch, Geschichte, Politik; Veröffentlichungen zur Geschichte der Frauenbewegung und -erwerbstätigkeit, Mathildenstr. 12A, 28203 Bremen. E-Mail Link: romina.schmitter@sy-cappuccino.de