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Wer ist Pirat? Probleme des Immaterialgüterrechts

Annette Kur

/ 19 Minuten zu lesen

Als im Frühjahr 2012 Zehntausende deutschlandweit auf die Straße gingen, um gegen das Piraterie-Abkommen ACTA zu protestieren, war die Stoßrichtung klar: Das Abkommen würde zu permanenter Überwachung jeglicher digitaler Kommunikation führen und dadurch die Freiheit des Internets bedrohen – dagegen wollten sich die Demonstranten zur Wehr setzen. Die Botschaft der Befürworter von ACTA war hingegen eine ganz andere: Ziel des Abkommens sei es, die ständig steigende Flut gefälschter Waren einzudämmen und dadurch den Schutz von Gesundheit und Sicherheit von Verbrauchern zu verbessern. Nicht allein im Hinblick auf die positive oder negative Einschätzung von ACTA wurden daher völlig unterschiedliche Standpunkte vertreten; es gab auch keine Übereinstimmung darüber, wo der Schwerpunkt des Abkommens zu sehen ist: Nach Auffassung der "Netzgemeinde" sind dies die Regelungen zur Verbreitung und sonstigen Nutzung urheberrechtlich geschützter Inhalte – ACTA wurde daher in der Presse auch häufig als "Urheberrechtsabkommen" bezeichnet – , während offizielle Stellen und die Industrie in erster Linie die Bekämpfung der Markenpiraterie als Ziel des Abkommens herausstellten. Dies zeigt, dass sich die Diskussion um das Für und Wider verstärkter Rechtsdurchsetzungsmaßnahmen im Bereich des "geistigen Eigentums" nicht auf eine bestimmte Rechtsfrage – oder auch ein bestimmtes Rechtsgebiet – verengen lässt. In diesem Beitrag frage ich daher nicht allein nach dem rechtlichen Hintergrund der in jüngerer Zeit besonders heftig aufgeflammten Auseinandersetzungen um die fortdauernde Berechtigung des Urheberrechtsschutzes im digitalen Zeitalter. Ich befasse mich darüber hinaus auch mit anderen Bereichen des Immaterialgüterrechts – Markenrecht, Patentrecht – wobei der Begriff der Piraterie und seine undifferenzierte, unreflektierte Verwendung auf allen diesen Feldern den Ausgangspunkt der Überlegungen und ihre gemeinsame Klammer bildet.

Hintergründe der Diskussion

Es ist unklar, wann genau die Begriffe "Pirat" und "Piraterie" zu allgemein gebräuchlichen Bezeichnungen für die Verletzung von Immaterialgüterrechten geworden sind. Fest steht jedoch, dass es sich um einen Begriff von hoher Suggestivkraft handelt: Er ruft das Bild anarchischer Freibeuter wach, die fremde Schiffe plündern und ihre Angriffe auf hoher See unternehmen, wo sie sich vor Verfolgung und Strafe sicher fühlen. Nicht ganz zufällig klingt dabei auch an, dass die historischen Freibeuter nicht allein private Eigner um ihren Besitz brachten, sondern dass erfolgreiche Kaperungen in der Regel zugleich die Staatskasse trafen, da ein Teil der entwendeten Reichtümer in den Staatshaushalt (oder die Taschen des Souveräns) geflossen wäre. Umgekehrt behielten die Piraten ihre Beute häufig nicht allein für sich, sondern leisteten Regierungen Tribut, von denen sie sich einen gewissen Schutz und Rückendeckung für Ihre Taten erhofften.

Die Parallelen sind deutlich: Wie das Plündern von Schiffen kann Kopieren in großer Zahl zu volkswirtschaftlichen Schäden führen und die internationalen Handelsbilanzen zugunsten von Ländern verzerren, die dem Treiben tatenlos zuschauen. Mit diesem Argument wurde das Thema in den 1980er Jahren auf die Agenda internationaler Handelsgespräche gesetzt und führte zum erwünschten Erfolg: Mit dem Abkommen über handelsrelevante Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPS), das im April 1994 als Anhang zum Welthandelsabkommen (WTO) abgeschlossen wurde, ist erstmals ein international verbindlicher Mindeststandard für die Durchsetzung von Schutzrechten festgelegt worden. In der Zivilgesellschaft der westlichen Industrieländer hat diese neue Dimension des internationalen Rechts zunächst keine nennenswerten Reaktionen ausgelöst. Ebenso ruhig blieb es anfangs um die beiden 1996 unter der Ägide der Weltorganisation für Geistiges Eigentum (WIPO) abgeschlossenen Verträge zum Schutz von Urhebern und darbietenden Künstlern sowie Tonträgerproduzenten gegen digitale Nutzungen (WIPO-Verträge; WCT und WPPT), in denen unter anderem das Recht auf Gewährung von Online-Zugang sowie das Verbot der Umgehung technischer Schutzmaßnahmen festgeschrieben wurde. Die Proteste regten sich erst, als die WIPO-Verträge in Europa und den USA zu Gesetzgebungsmaßnahmen führten, die über das international verbindliche Minimum hinausgingen.

Auf der anderen Seite wurden auch die Befürworter eines verstärkten Schutzes ihrer Erfolge auf internationaler Ebene nicht recht froh: Nach wie vor weisen die Statistiken der OECD und der internationalen Handelskammer sowie anderer Organisationen einen jährlich steigenden Anteil von gefälschten und nachgeahmten Waren am Welthandel aus. Die wachsende Flut illegaler Downloads ist ebenfalls nicht zu stoppen. Ungeachtet der zunehmenden Widerstände dringen die betroffenen Industrien daher auf eine weitere Verstärkung des Sanktionsarsenals und finden damit Gehör bei den politischen Instanzen. Dies gilt sowohl für den Erlass europäischer Rechtsakte wie die sogenannte Durchsetzungsrichtlinie als auch für das Verhältnis zu Drittstaaten: Sowohl die USA wie auch die EU sind dazu übergegangen, auf bilateraler Ebene von ihren Handelspartnern die Einhaltung strikterer Regeln als in TRIPS als Gegenleistung für die Einräumung besserer Handelskonditionen zu verlangen. ACTA bildete die aus der Sicht seiner Befürworter folgerichtige Fortschreibung dieser Tendenzen: Indem sich die am meisten betroffenen Nationen auf einen gemeinsamen "Gold-Standard" für die Durchsetzung von Schutzrechten einigen, lassen sich die fragmentierten Bemühungen um eine Anhebung des internationalen Schutzstandards bündeln sowie den Forderungen im Rahmen bilateraler Verhandlungen größerer Nachdruck verleihen.

Dies ruft jedoch eine Reihe von Fragen hervor: Kann die Verschärfung von Sanktionen der richtige Weg sein, um das internationale Schutzsystem und damit indirekt den Welthandel in eine sinnvolle Balance zu bringen? Ist die Verschärfung von Auseinandersetzungen, die vordergründig über ACTA oder die Freiheit des Internets geführt werden, Zeichen einer Krise des gesamten Rechtsgebiets, die sich im internationalen Kontext, aber eben auch in den traditionell schutzfreundlichen Industrieländern auswirkt? Und: Wer ist überhaupt ein "Pirat", dessen Treiben durch verschärfte Sanktionen bekämpft werden muss?

Tücken der Terminologie

Dass die Gleichsetzung von "Piraterie" und "Schutzrechtsverletzung" verfehlt wäre, zeigt sich besonders deutlich im Markenrecht: Wenn ein Unternehmen eine neue Marke entwickelt, muss es stets damit rechnen, wegen Verletzung der Rechte anderer in Anspruch genommen zu werden. Zum einen ist in vielen Produktbereichen die Kennzeichendichte sehr hoch, sodass die Spielräume für die Entwicklung von Marken, die keinerlei Ähnlichkeiten mit bereits geschützten Kennzeichen aufweisen, extrem eingeschränkt sind. Hinzu kommt, dass die Beurteilung einer Verwechslungsgefahr, wie sie dem Vorwurf der Markenverletzung regelmäßig zugrunde liegt, komplexe Überlegungen erfordert und auch von erfahrenen Praktikern nicht mit Sicherheit vorherzusagen ist. Markenverletzungen zählen daher sowohl auf der aktiven als auch auf der passiven Seite zum normalen Geschäftsrisiko, das jeder Marktteilnehmer notwendigerweise eingehen muss. Um damit umzugehen, bedarf es lediglich einer effizient funktionierenden Zivilgerichtsbarkeit oder behördlichen Praxis; scharfe, abschreckende Sanktionen oder gar die Kriminalisierung solchen Verhaltens sind fehl am Platz.

Ähnliche Überlegungen gelten für das Patentrecht: Es ist gerade Sinn des Patentschutzes, dass Wettbewerber aus dem in der Patentschrift offengelegten Wissen Inspiration für eigene Erfindungen beziehen. Ob dadurch im Einzelfall die "rote Linie" überschritten wird, die schutzwürdige Alternativlösungen von einer zu weitgehenden Übernahme des fremden Gedankenguts trennt, kann auch für Fachleute schwer zu beurteilen sein. Wird die Abschreckung möglicher Verletzungen zur einzig maßgeblichen Räson für die Bemessung von Sanktionen erhoben, ist dies nicht nur unangemessen, sondern auch schädlich: Der Wettbewerb um Innovationen, den das Patentrecht anregen soll, kann nur dann sinnvoll funktionieren, wenn für die Mitbewerber das Risiko, mit ihren eigenen Folgeerfindungen unter Umständen in den Verletzungsbereich des Patents einzugreifen, nicht zu existenzbedrohenden Konsequenzen führt.

Im Urheberrecht schließlich bestehen die gleichen Probleme, wenn es darum geht, Plagiate von nachschaffenden Werken zu unterscheiden oder die Reichweite von Schrankenbestimmungen zuverlässig einzuschätzen. Es ist daher dringend notwendig, solche Fälle systemimmanenter Verletzungen von gezieltem Abkupfern oder gar der Fälschung von Produkten zu unterscheiden. Im TRIPS-Abkommen finden sich immerhin Ansätze für eine solche Differenzierung: Grenzbeschlagnahmen und strafrechtliche Sanktionen müssen nur im Fall von (trademark) counterfeiting und (copyright) piracy vorgenommen werden. Die entsprechenden Definitionen lauten:

"(a) 'counterfeit trademark goods' shall mean any goods, including packaging, bearing without authorization a trademark which is identical to the trademark validly registered in respect of such goods, or which cannot be distinguished in its essential aspects from such a trademark, and which thereby infringes the rights of the owner of the trademark in question under the law of the country of importation; (b) 'pirated copyright goods' shall mean any goods which are copies made without the consent of the right holder or person duly authorized by the right holder in the country of production and which are made directly or indirectly from an article where the making of that copy would have constituted an infringement of a copyright or a related right under the law of the country of importation." Das Patentrecht bleibt in TRIPS sogar zur Gänze von den entsprechenden Regelungen ausgenommen; Patentrechtsverletzungen müssen daher nicht mit Strafe bedroht werden und sind auch nicht notwendigerweise Gegenstand von Grenzbeschlagnahmen. Auch das europäische Recht beschränkt sich im Fall der Grenzbeschlagnahme markenverletzender Waren auf identische oder praktisch nicht unterscheidbare Nachahmungen. Im Übrigen sind jedoch weder im internationalen noch im europäischen Recht klare Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Arten von Verletzungen verankert.

Das Fehlen angemessener Differenzierungen schafft Unsicherheiten für die Marktteilnehmer und belastet nicht zuletzt den politischen Diskurs. So werden gesetzgeberische Maßnahmen, die die Durchsetzung und inhaltliche Verstärkung von Schutzrechten betreffen, regelmäßig damit begründet, dass die Innovationskraft der Gemeinschaft sowie die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher auf dem Spiel stehen. Hingewiesen wird ferner zumeist auf die Verbindungen zur organisierten Kriminalität, die entschlossen bekämpft werden müsse. So richtig diese Hinweise im Hinblick auf bestimmte Formen der Produktpiraterie – vor allem im Arzneimittelbereich – auch sind: Sie sind fehl am Platz, wenn es um die Begründung von Maßnahmen geht, die sich unterschiedslos auf alle Formen von Schutzrechtsverletzungen erstrecken. Zweierlei Risiken ergeben sich aus einer solchen Argumentation: Zum einen führt die inhaltliche Ausrichtung von Maßnahmen am Worst Case betrügerischer, krimineller Produktfälschungen leicht zu gesetzgeberischer Überreaktion, die die Schutzinteressen anderer Marktteilnehmer vernachlässigt. Zum anderen verlieren die teilweise inflationär gestreuten Warnungen vor gefälschten Medikamenten, Ersatzteilen und sonstigen sicherheitsrelevanten Produkten an Wirkung, wenn sich beim Publikum ein gewisser Überdruss einstellt und letztlich der Eindruck verfestigt wird, dass die Sorge um die Gesundheit der Verbraucher nur vorgeschoben ist, um handfeste wirtschaftliche Interessen der betroffenen Unternehmen zu fördern.

Dabei sind Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit des Anliegens, den Schutz vor schädlichen oder gar lebensbedrohenden Waren zu verstärken und das Bewusstsein der Verbraucher für die damit verbundenen Gefahren zu schärfen, in keiner Weise zu bezweifeln. Erhebliche Zweifel sind jedoch an der Klugheit politischer Strategien angebracht, die diese Anliegen immer wieder zum Vehikel für Forderungen nach einer generellen Verstärkung des Schutzes gegen Immaterialgüterrechtsverletzungen machen: Dies kostet Vertrauen und schadet dem verfolgten Ziel. Es sollte klar sein, dass der Vertrieb unwirksamer oder schädlicher Substanzen als Arzneimittel unabhängig davon eine Bedrohung für die Gesundheit der Verbraucher darstellt, ob zugleich eine geschützte Marke verletzt wird, oder ob das Produkt als no name oder sogar unter einer eigenen Marke des Herstellers vertrieben wird. Im Fokus von Gesetzgeber, Polizei und Behörden sollte daher die Schädlichkeit oder die mangelnde Wirksamkeit des Produkts stehen, und nicht die gegenüber der Gesundheitsgefährdung eher zweitrangige, zumindest aber von jener klar zu unterscheidende Verletzung eines fremden Schutzrechts. Das Immaterialgüterrecht ist nicht der richtige Ort, um spezifisch gesundheits- oder sicherheitsrelevante Anliegen zu verfolgen.

Rechtsgebiet in der Sinnkrise?

Die Pirateriediskussion im Immaterialgüterrecht hat aber noch eine weitere, inhaltlich sehr viel komplexere Komponente. Zuvor wurde vorausgesetzt, dass es sich bei den vom Pirateriebegriff erfassten Handlungen um prinzipiell zu verbietende Eingriffe handelt, die allerdings von unterschiedlicher Art und Schwere sein können. Damit wurde zunächst die vorgelagerte – und ungleich wichtigere – Frage ausgespart, ob Inhalt und Reichweite der einzelnen Rechte sinnvoll ausgestaltet sind, oder ob sie in mehr oder weniger starkem Maße reformiert (oder sogar gänzlich abgeschafft) werden sollten. In diesem Fall würden "Piraten" – also diejenigen, die das Befolgen der alten Spielregeln verweigern – zwar den Buchstaben des Gesetzes verletzen, in der Sache jedoch Vorreiter einer notwendigen und überfälligen Entwicklung sein.

Diese Fragen werden mit wachsender Dringlichkeit im Hinblick auf das Urheberrecht diskutiert. Dass damit ein Nerv getroffen wird, zeigt sich in den politischen Erfolgen der Piratenpartei sowie in der heftigen Gegenreaktion derjenigen, die ihre derzeitige Position durch Forderungen nach einer Neuorientierung des Urheberrechts bedroht sehen. Bevor auf diese Diskussion näher eingegangen wird, ist anzumerken, dass nicht allein zum Urheberrecht, sondern auch zu anderen Bereichen des Immaterialgüterrechts kritische Stimmen vernehmbar sind. Noch am wenigsten betroffen ist dabei das Markenrecht, obwohl auch dort der konsumanheizende Effekt von Marken sowie die weitgehenden Verbotsrechte gegenüber Verhaltensweisen, durch die die Strahlkraft von bekannten Marken beeinträchtigt oder ausgenutzt werden könnte, kritisch kommentiert werden. Wesentlich stärker im Fokus steht dagegen das Patentrecht, dessen ursprüngliche Bestimmung, als Anreiz für Innovationen zu dienen, in vielen Bereichen zweitrangig geworden ist oder sich – bei pessimistischer Betrachtung – sogar in ihr Gegenteil verkehrt hat. So werden insbesondere im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie kleine und kleinste Komponenten einzelner Geräte durch eine Vielzahl von Patenten geschützt. Dies legt die Befürchtung nahe, dass erfinderische Aktivitäten eher gehemmt als gefördert werden. Tatsächlich zeigt sich die Wirkung von Patenten in diesem Sektor vorwiegend darin, dass jegliche Produktentwicklung multipler, vielfach gestaffelter Nutzungserlaubnisse bedarf, die zumeist auf Gegenseitigkeitsbasis mit Wettbewerbern ausgehandelt werden. Versagen diese Mechanismen und kommt es zu Streitigkeiten, kann dies im Hinblick auf die sich im Spiel befindlichen Summen und die enormen Kosten solcher Verfahren ruinös werden. Auf ganz anderer Ebene tragen ferner auch die Auseinandersetzungen um die ethische Dimension der Gentechnologie, die Ausnutzung genetischer Ressourcen von Ländern der "Dritten Welt" sowie die Kosten von Pharmapatenten zur wachsenden Kritik am Patentsystem bei.

Obwohl diese Fragen auf den ersten Blick mit der urheberrechtlichen Diskussion nichts gemein haben, liegt ihnen doch derselbe Kern zugrunde, der zugleich an das Wesen des immaterialgüterrechtlichen Schutzes rührt: Zurückführen lassen sich die kritisierten Effekte regelmäßig auf den Aspekt der Exklusivität, also die alleinige Zuweisung der Nutzungsmöglichkeit an den Rechtsinhaber, die es ihm erlaubt, andere von der Nutzung auszuschließen und dadurch für sich den größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Im Urheberrecht traditioneller Prägung wird dieses Grundmotiv allerdings von einem anderen Gedanken überlagert: Danach geht es auch oder vor allem darum, die persönlichen, ideellen Interessen des Urhebers an seinem Werk möglichst umfassend zu schützen. Genau bei diesem Punkt setzt jedoch die Kritik an: Nutznießer des heutigen Systems seien in Wahrheit keineswegs die Urheber, sondern die Verwerterindustrien. Unter dem Druck der Verhältnisse würden die Urheber – soweit sie nicht zur kleinen Gruppe hochbezahlter Stars gehören – ihre Rechte häufig vollständig und gegen geringe Honorarleistung an die Verwerter abtreten, die wiederum die Interessen der Kreativen gegenüber der Öffentlichkeit nur als Camouflage benutzten, um ihre Geschäftsmodelle abzusichern und die Gewinne in die Höhe zu treiben. Ferner wird argumentiert, dass der Ausschließlichkeitscharakter des Urheberrechts unabhängig von seiner historischen Berechtigung nicht mehr in eine Zeit passe, in der digitale Inhalte "flüssig" geworden sind: Die Vorstellung, dass jede einzelne Nutzung grundsätzlich die Zustimmung des Rechtsinhabers voraussetzt, muss den digital natives geradezu grotesk unrealistisch erscheinen.

Ein naheliegender Einwand gegen das erste dieser Argumente lautet, dass zwar die gängige Praxis der Vertragsgestaltung zwischen Urhebern und Kreativen durchaus Anlass zur Kritik bietet, dies jedoch nichts daran ändert, dass das Urheberrecht auch für letztere eine einigermaßen gesicherte Einkommensbasis darstellt, deren Wegbrechen zu fühlbaren Einbußen führen würde. Zumindest ein Teil der Urheber wehrt sich daher auch vehement gegen die Vereinnahmung durch Protagonisten der uneingeschränkten Kopierfreiheit und erklärt sich stattdessen mit den Verwertern solidarisch. Ferner sollte nicht unterschätzt werden, welch hohen Anteil die Investitionsleistungen von Verwertern – Print- und Musikverlage, Filmhersteller – an der Aufbereitung und Herstellung geschützter Inhalte haben. Dass sie für diese Leistung eine Vergütung beanspruchen, ist daher normal. Allerdings ist dies nicht so zu verstehen, dass das Urheberrecht einen Anspruch auf Gewinnmaximierung zugunsten der Verwerter begründet; ebenso wenig lässt sich daraus eine Bestandsgarantie für bestimmte Branchen oder Geschäftsmodelle herleiten. Auf der anderen Seite ist jedoch auch kein genereller, naturgegebener Anspruch darauf begründbar, ohne jede Gegenleistung Zugang zu den von anderen geschaffenen oder produzierten Inhalten zu erhalten.

Umdenken – aber wie?

Dass zumindest die Kreativen in gewissem Umfang vergütet werden sollten, gehört inzwischen wohl auch zum Grundkonsens, auf den sich nach den ersten aufgeregten Stellungnahmen viele gemäßigte Stimmen einigen können. Tatsächlich ist die Umwandlung des Rechts auf Ausschluss anderer in einen Anspruch auf Vergütung für den Fall der Nutzung einer geschützten Leistung nichts, was dem Urheberrecht grundsätzlich fremd wäre. Dies gilt vor allem für sogenannte Sekundärnutzungen sowie im Bereich der Schrankenbestimmungen: Ist ein Tonträger mit Zustimmung der Rechteinhaber veröffentlicht worden, darf er von jedermann öffentlich abgespielt werden, auch wenn dies zu kommerziellen Zwecken erfolgt. Allerdings werden in diesem Fall Gebühren fällig, die in Deutschland von der GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) eingezogen und verwaltet werden; dieser Fall bildet den Hintergrund für die Streitigkeiten zwischen der GEMA und den Betreibern von Clubs und Diskotheken. Ähnlich ist es bei der Privatkopie oder bei anderen Formen der Vervielfältigung zu privilegierten Zwecken: Auch insoweit ist das Verbotsrecht zugunsten eines Anspruchs auf angemessene Vergütung zurückgenommen worden, wobei letztere in der Form einer pauschalen Abgabe auf die zur Vervielfältigung genutzten Geräte erhoben wird. An solchen Modellen orientiert sich die Idee, Zugang und Nutzung digitaler Inhalte auf der Grundlage einer "Kulturflatrate" zuzulassen und damit alle Probleme aus der Welt zu schaffen: Aus den Geldern, die durch eine solche Vergütung – die beispielsweise im Zusammenhang mit dem Internetzugang erhoben werden könnte – generiert werden, könnten sowohl die Kreativen als auch die Produzenten eine Bezahlung ihrer Leistungen erhalten. Zugleich würde der freie Fluss von Informationen und sonstigen Inhalten im Internet sichergestellt und es entfiele die Sanktionierung oder sogar Kriminalisierung von Verhaltensweisen, die von weiten Teilen der Bevölkerung als normal empfunden werden und die letztlich auch im Interesse der Kreativen liegen, da sie eine möglichst weite Verbreitung ermöglichen.

So einfach könnte die Lösung sein – solange man sich nicht in die Details vertieft. Denn auch wenn man dem Modell einer Kulturflatrate betont positiv gegenübersteht, lässt sich nicht übersehen, dass die Umsetzung eine Reihe von "Pferdefüßen" mit sich bringen würde. So würden die Verwaltung und die Verteilung der eingezogenen Mittel enormen Verwaltungsaufwand mit sich bringen. Auch die inhaltlichen Fragen dürften sehr schwer zu lösen sein: Wie sollte ein fairer, sinnvoller Verteilungsschlüssel aussehen? Wer sollte für dessen Festlegung zuständig sein? Ferner würde auch eine Kulturflatrate kaum etwas daran ändern, dass bestimmte Formen der Nutzung – etwa die Vervielfältigung zu kommerziellen Zwecken – unzulässig wären, sodass auch weiterhin eine gewisse Kontrolle der Datenflüsse erfolgen müsste. Schließlich wird man dem Urheber das Recht einräumen müssen, gegen Nutzungen einzuschreiten, durch die seine ideellen Interessen verletzt werden – wie etwa dann, wenn eine andere Person sich als Urheber des Werkes ausgibt. Ganz erhebliche Bedenken ergeben sich schließlich daraus, dass Regelungen, die sich mit der Verbreitung digitaler Inhalte befassen, notwendigerweise eine internationale Dimension besitzen. Nationale Alleingänge ergeben hier wenig Sinn: Würde beispielsweise eine neu gewählte Bundesregierung beschließen, in Deutschland eine Kulturflatrate einzuführen, dann würde jemand, der im Vertrauen auf diese Regelung in Deutschland ein französisches Chanson oder einen amerikanischen Film hochlädt und damit im Internet zugänglich macht, in Frankreich oder den USA wegen Urheberrechtsverletzung belangt werden können, weil dort deutsches Recht nicht gilt und die Inhalte weltweit geschützt sind. Solange der Schritt zu einer Vergütungslösung daher nicht von allen oder jedenfalls einer größeren Anzahl von Ländern getan wird, wären die aktiven Nutzer dieser Lösung außerhalb des eigenen Landes nur dann sicher, wenn die Verbreitung der Inhalte durch technische Maßnahmen auf das eigene Land beschränkt würde – es müsste somit eine Re-Territorialisierung des Internets stattfinden, die gerade nicht im Interesse der "Netzgemeinde" liegt.

Was ist zu tun?

Heißt dies also, dass alles beim Alten bleiben muss? Sicher nicht. Bei allen Überspitzungen und polemischen Untertönen hat die Pirateriediskussion um das Urheberrecht im Internet ein sehr wichtiges Thema in die öffentliche Diskussion getragen und ihm so die nötige Aufmerksamkeit verschafft. Möglicherweise ist die entscheidende Frage auch schon nicht mehr, ob das System des Urheberrechts verändert werden sollte, sondern eher, wie wir mit den bereits eingetretenen Veränderungen umgehen und – soweit möglich – weitere Entwicklungen steuern können. Dass die einzelnen Schritte, die es zu unternehmen gilt, schwierig und kontrovers sein werden, steht auf einem anderen Blatt.

Wer ist also "Pirat"? Wie zu erwarten war, gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Für diejenigen, die für die Anwendung und Entwicklung des Urheberrechts ebenso wie des Immaterialgüterrechts insgesamt die Verantwortung tragen, lässt sich nur das Fazit ziehen, dass genau hingeschaut werden muss und die Lösung weder in einfachen Formeln noch in der Verwendung suggestiver Begriffe liegen kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Anti-Counterfeiting and Piracy Agreement". ACTA wurde am 10.12.2010 von der EU und sieben Nationen unterzeichnet und soll nach seiner Ratifizierung durch sechs Mitglieder in Kraft treten. Bisher sind die innerstaatlichen Vorbereitungen für die Ratifizierung von ACTA nur in Japan abgeschlossen worden; in der EU wurde die Ratifizierung im Juli 2012 vom Europäischen Parlament abgelehnt.

  2. Im Englischen bezieht sich piracy allerdings nur auf Urheberrechtsverletzungen, während Markenfälschungen als counterfeiting bezeichnet werden.

  3. Für weitere Einzelheiten zur Vorgeschichte siehe auch den Beitrag von Hannes Siegrist in diesem Heft (Anm. d. Red.).

  4. Vgl. z.B. die Webseite der BASCAP (Business Action to Stop Counterfeiting and Piracy), Externer Link: http://www.original-ist-genial.de/dokumentenservice/studien.html (19.10.2012). BASCAP ist eine Initiative der Internationalen Handelskammer, ICC.

  5. Dabei handelt es sich notwendigerweise um Schätzungen, die in der Regel auf Umfragen bei den betroffenen Industrien sowie auf Hochrechnung auf der Grundlage der bei der Zollkontrolle beschlagnahmten Waren beruhen. Die Verlässlichkeit der Statistiken ist daher keineswegs so groß, wie dies durch die häufig unbesehene Aufnahme dieser Zahlen in offizielle Dokumente, z.B. der Europäischen Kommission, suggeriert wird. Stark auseinander gehen die Schätzungen ferner im Hinblick auf das Ausmaß der durch die Produktpiraterie verursachten volkswirtschaftlichen Schäden. Solche Berechnungen überzeugen vor allem dann nicht, wenn die (geschätzte) Anzahl gefälschter Waren mit einer gleichen Anzahl nicht verkaufter Originalprodukte gleichgesetzt und daraus der Gesamtschaden berechnet wird: Zumindest dann, wenn es sich um billige Nachahmerprodukte handelt, die sich an eine ganz andere Käuferschicht als das Original wenden, ist eine solche Gleichstellung unrealistisch. Um verlässliche Zahlen zu erhalten, hat die EU eine Beobachtungsstelle für Produktpiraterie eingerichtet, deren Aufgaben seit 2012 vom Gemeinschaftsamt in Alicante wahrgenommen werden. Vgl. Externer Link: http://ec.europa.eu/internal_market/iprenforcement/observatory/index_en.htm (30.10.2012). sowie die Stellungnahme des MPI, Externer Link: http://www.ip.mpg.de/files/pdf2/Observatory_Stellungnahme_MPIIP1.pdf (30.10.2012).

  6. Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. L 157 vom 30.4.2004); häufig mit dem englischen Akronym "IPRED" (Intellectual Property Rights Enforcement Directive) bezeichnet.

  7. Bei Neueintragungen von Marken besteht für den Inhaber einer älteren Marke oder eines Geschäftskennzeichens die Möglichkeit, Widerspruch gegen die Eintragung einzulegen. Solche Verfahren werden vom Deutschen Patent- und Markenamt als Eintragungsbehörde entschieden.

  8. Dabei wird der vom Strafrecht erfasste Bereich im Urheberrecht noch weiter eingeschränkt, da strafrechtliche Sanktionen nur bei Verletzungen von "gewerblichem Ausmaß" ("commercial scale") vorgesehen.

  9. Externer Link: www.wto.org/english/docs_e/legal_e/27-trips.doc (30.10.2012). Erfasst werden daher nur identische oder praktisch ununterscheidbare Nachahmungen (Markenrecht) oder glatte Kopien (Urheberrecht).

  10. Vgl. Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des Rates vom 22. 7. 2003 über das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren, die im Verdacht stehen, bestimmte Rechte geistigen Eigentums zu verletzen, und die Maßnahmen gegenüber Waren, die bekanntermaßen derartige Rechte verletzen; ABl. L 196 vom 2.8.2003, S. 7–14.

  11. Sichtbar wird dies etwa daran, dass die Gesetzgebung der EU in der Durchsetzungsrichtlinie zwar die Sanktionen und Verfahren auf hohem Niveau harmonisiert, soweit es um die Verfolgung von Verletzungen geht (wobei den nationalen Gesetzgebern ausdrücklich die Möglichkeit freigestellt wird, zugunsten von Schutzrechtsinhabern über diesen Mindeststandard hinauszugehen), die Regelung der Gegenrechte des Beklagten hingegen weitgehend dem Ermessen der Mitgliedsländer überlässt. Im Bereich der digitalen Kommunikation wird diese "Schieflage" jedenfalls teilweise dadurch ausgeglichen, dass andere europäische Rechtsakte – die Datenschutzrichtlinien, aber auch die Grundrechte-Charta – eine Interessenabwägung erzwingen. Vgl. die Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen C-275/06 – Promusicae./.Telefonica, Slg. 2008, I-271 und C-70/10 – Scarlet Extended./.SABAM (noch nicht in der Amtl. Sammlung veröffentlicht).

  12. In diesem Sinne auch der EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-446/09 – Philips./.Lucheng Meijing und C-495/09 – Nokia./.HMRC, Rdnr. 77.

  13. Siehe auch den Beitrag von René Kuppe in diesem Heft (Anm. d. Red).

  14. Dass dies nicht völlig von der Hand zu weisen ist, hat u.a. die Debatte um die Verlängerung des Schutzrechts für ausübende Künstler und Tonträgerproduzenten durch die Änderung der Schutzdauerrichtlinie in plakativer Weise gezeigt: In der Begründung des Richtlinienvorschlags sowie in den öffentlichen Stellungnahmen dazu wurde praktisch ausschließlich betont, dass die Schutzrechtsverlängerung das Ziel hat, den Künstlern an ihrem Lebensabend den weiteren Zufluss von Vergütungen für ihre in jungen Jahren getätigten Tonaufnahmen zu sichern. Dabei war völlig klar, dass das Gros dieser Zuflüsse nicht die Künstler erreichen, sondern allein den Tonträgerproduzenten zusätzliche Einnahmen bescheren würde. Vgl. Stellungnahme des MPI zum Richtlinienvorschlag, 10.9.2008, Externer Link: http://www.ip.mpg.de/files/pdf1/Stellungnahme-RichtlinieSchutzdauerUrheberrecht1.pdf (19.10.2012).

  15. Vgl. exemplarisch die "Wutrede" von Sven Regener im "Zündfunk" des Bayerischen Rundfunks: Erich Renz, Eine Gesellschaft, die so mit ihren Künstlern umgeht, ist nichts wert, 21.3.2012, Externer Link: http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/regener_interview100.html (19.10.2012).

  16. Bereits bei diesem Punkt dürfte sich bei der praktischen Umsetzung des Vorschlag allerdings Widerstand regen.

  17. Diese Einstellung scheint Teil des Konsenses zu sein und bildet auch die Basis für die bereits bestehenden Modelle der offenen Lizenzierung, wie Open Source und Creative Commons.

  18. Dies ist eine Mindestvoraussetzung, wenn ein solches Modell "konventionsverträglich" gestaltet werden soll: Art. 6bis der Revidierten Berner Übereinkunft (RBÜ) billigt dem Urheber ein unabdingbares Recht auf Achtung seiner ideellen Interessen zu. Abgesehen vom Anspruch auf Anerkennung der Urheberschaft zählt dazu auch das Recht, sich "jeder Entstellung, Verstümmelung, sonstigen Beeinträchtigung oder Änderung des Werkes zu widersetzen, die seiner Ehre oder seinem Ruf nachteilig werden können". Entsprechendes gilt für ausübende Künstler nach Art. 5 des WIPO-Vertrages über Darbietungen und Tonträger, WPPT.

  19. Der weltweite Schutz folgt daraus, dass das Urheberrecht ohne förmlichen Rechtsakt in allen Mitgliedstaaten der RBÜ und damit der WTO wirksam wird; die Anwendbarkeit des Rechts des Landes, für das der Schutz jeweils in Anspruch genommen wird, ergibt sich aus dem sogenannten Schutzlandprinzip (für die EU vgl. Art. 8 der Verordnung (EG) 684/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, Rom II-VO). Ob von diesem Grundsatz im Fall weltweiter Kommunikation Ausnahmen gemacht werden sollten und wie diese gegebenenfalls zu gestalten wären, ist derzeit Gegenstand akademischer Diskussionen, hat jedoch bisher noch nicht zu konkreten Maßnahmen geführt.

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Dr. jur., geb. 1950; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Marstallplatz 1, 80539 München. E-Mail Link: annette.kur@ip.mpg.de