Als im Frühjahr 2012 Zehntausende deutschlandweit auf die Straße gingen, um gegen das Piraterie-Abkommen ACTA
Hintergründe der Diskussion
Es ist unklar, wann genau die Begriffe "Pirat" und "Piraterie" zu allgemein gebräuchlichen Bezeichnungen für die Verletzung von Immaterialgüterrechten
Die Parallelen sind deutlich: Wie das Plündern von Schiffen kann Kopieren in großer Zahl zu volkswirtschaftlichen Schäden führen und die internationalen Handelsbilanzen zugunsten von Ländern verzerren, die dem Treiben tatenlos zuschauen. Mit diesem Argument wurde das Thema in den 1980er Jahren auf die Agenda internationaler Handelsgespräche gesetzt und führte zum erwünschten Erfolg: Mit dem Abkommen über handelsrelevante Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPS), das im April 1994 als Anhang zum Welthandelsabkommen (WTO) abgeschlossen wurde, ist erstmals ein international verbindlicher Mindeststandard für die Durchsetzung von Schutzrechten festgelegt worden.
Auf der anderen Seite wurden auch die Befürworter eines verstärkten Schutzes ihrer Erfolge auf internationaler Ebene nicht recht froh: Nach wie vor weisen die Statistiken der OECD und der internationalen Handelskammer
Dies ruft jedoch eine Reihe von Fragen hervor: Kann die Verschärfung von Sanktionen der richtige Weg sein, um das internationale Schutzsystem und damit indirekt den Welthandel in eine sinnvolle Balance zu bringen? Ist die Verschärfung von Auseinandersetzungen, die vordergründig über ACTA oder die Freiheit des Internets geführt werden, Zeichen einer Krise des gesamten Rechtsgebiets, die sich im internationalen Kontext, aber eben auch in den traditionell schutzfreundlichen Industrieländern auswirkt? Und: Wer ist überhaupt ein "Pirat", dessen Treiben durch verschärfte Sanktionen bekämpft werden muss?
Tücken der Terminologie
Dass die Gleichsetzung von "Piraterie" und "Schutzrechtsverletzung" verfehlt wäre, zeigt sich besonders deutlich im Markenrecht: Wenn ein Unternehmen eine neue Marke entwickelt, muss es stets damit rechnen, wegen Verletzung der Rechte anderer in Anspruch genommen zu werden. Zum einen ist in vielen Produktbereichen die Kennzeichendichte sehr hoch, sodass die Spielräume für die Entwicklung von Marken, die keinerlei Ähnlichkeiten mit bereits geschützten Kennzeichen aufweisen, extrem eingeschränkt sind. Hinzu kommt, dass die Beurteilung einer Verwechslungsgefahr, wie sie dem Vorwurf der Markenverletzung regelmäßig zugrunde liegt, komplexe Überlegungen erfordert und auch von erfahrenen Praktikern nicht mit Sicherheit vorherzusagen ist. Markenverletzungen zählen daher sowohl auf der aktiven als auch auf der passiven Seite zum normalen Geschäftsrisiko, das jeder Marktteilnehmer notwendigerweise eingehen muss. Um damit umzugehen, bedarf es lediglich einer effizient funktionierenden Zivilgerichtsbarkeit oder behördlichen Praxis;
Ähnliche Überlegungen gelten für das Patentrecht: Es ist gerade Sinn des Patentschutzes, dass Wettbewerber aus dem in der Patentschrift offengelegten Wissen Inspiration für eigene Erfindungen beziehen. Ob dadurch im Einzelfall die "rote Linie" überschritten wird, die schutzwürdige Alternativlösungen von einer zu weitgehenden Übernahme des fremden Gedankenguts trennt, kann auch für Fachleute schwer zu beurteilen sein. Wird die Abschreckung möglicher Verletzungen zur einzig maßgeblichen Räson für die Bemessung von Sanktionen erhoben, ist dies nicht nur unangemessen, sondern auch schädlich: Der Wettbewerb um Innovationen, den das Patentrecht anregen soll, kann nur dann sinnvoll funktionieren, wenn für die Mitbewerber das Risiko, mit ihren eigenen Folgeerfindungen unter Umständen in den Verletzungsbereich des Patents einzugreifen, nicht zu existenzbedrohenden Konsequenzen führt.
Im Urheberrecht schließlich bestehen die gleichen Probleme, wenn es darum geht, Plagiate von nachschaffenden Werken zu unterscheiden oder die Reichweite von Schrankenbestimmungen zuverlässig einzuschätzen. Es ist daher dringend notwendig, solche Fälle systemimmanenter Verletzungen von gezieltem Abkupfern oder gar der Fälschung von Produkten zu unterscheiden. Im TRIPS-Abkommen finden sich immerhin Ansätze für eine solche Differenzierung: Grenzbeschlagnahmen und strafrechtliche Sanktionen müssen nur im Fall von (trademark) counterfeiting und (copyright) piracy
"(a) 'counterfeit trademark goods' shall mean any goods, including packaging, bearing without authorization a trademark which is identical to the trademark validly registered in respect of such goods, or which cannot be distinguished in its essential aspects from such a trademark, and which thereby infringes the rights of the owner of the trademark in question under the law of the country of importation; (b) 'pirated copyright goods' shall mean any goods which are copies made without the consent of the right holder or person duly authorized by the right holder in the country of production and which are made directly or indirectly from an article where the making of that copy would have constituted an infringement of a copyright or a related right under the law of the country of importation."
Das Fehlen angemessener Differenzierungen schafft Unsicherheiten für die Marktteilnehmer und belastet nicht zuletzt den politischen Diskurs. So werden gesetzgeberische Maßnahmen, die die Durchsetzung und inhaltliche Verstärkung von Schutzrechten betreffen, regelmäßig damit begründet, dass die Innovationskraft der Gemeinschaft sowie die Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher auf dem Spiel stehen. Hingewiesen wird ferner zumeist auf die Verbindungen zur organisierten Kriminalität, die entschlossen bekämpft werden müsse. So richtig diese Hinweise im Hinblick auf bestimmte Formen der Produktpiraterie – vor allem im Arzneimittelbereich – auch sind: Sie sind fehl am Platz, wenn es um die Begründung von Maßnahmen geht, die sich unterschiedslos auf alle Formen von Schutzrechtsverletzungen erstrecken. Zweierlei Risiken ergeben sich aus einer solchen Argumentation: Zum einen führt die inhaltliche Ausrichtung von Maßnahmen am Worst Case betrügerischer, krimineller Produktfälschungen leicht zu gesetzgeberischer Überreaktion, die die Schutzinteressen anderer Marktteilnehmer vernachlässigt.
Dabei sind Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit des Anliegens, den Schutz vor schädlichen oder gar lebensbedrohenden Waren zu verstärken und das Bewusstsein der Verbraucher für die damit verbundenen Gefahren zu schärfen, in keiner Weise zu bezweifeln. Erhebliche Zweifel sind jedoch an der Klugheit politischer Strategien angebracht, die diese Anliegen immer wieder zum Vehikel für Forderungen nach einer generellen Verstärkung des Schutzes gegen Immaterialgüterrechtsverletzungen machen: Dies kostet Vertrauen und schadet dem verfolgten Ziel. Es sollte klar sein, dass der Vertrieb unwirksamer oder schädlicher Substanzen als Arzneimittel unabhängig davon eine Bedrohung für die Gesundheit der Verbraucher darstellt, ob zugleich eine geschützte Marke verletzt wird, oder ob das Produkt als no name oder sogar unter einer eigenen Marke des Herstellers vertrieben wird. Im Fokus von Gesetzgeber, Polizei und Behörden sollte daher die Schädlichkeit oder die mangelnde Wirksamkeit des Produkts stehen, und nicht die gegenüber der Gesundheitsgefährdung eher zweitrangige, zumindest aber von jener klar zu unterscheidende Verletzung eines fremden Schutzrechts. Das Immaterialgüterrecht ist nicht der richtige Ort, um spezifisch gesundheits- oder sicherheitsrelevante Anliegen zu verfolgen.
Rechtsgebiet in der Sinnkrise?
Die Pirateriediskussion im Immaterialgüterrecht hat aber noch eine weitere, inhaltlich sehr viel komplexere Komponente. Zuvor wurde vorausgesetzt, dass es sich bei den vom Pirateriebegriff erfassten Handlungen um prinzipiell zu verbietende Eingriffe handelt, die allerdings von unterschiedlicher Art und Schwere sein können. Damit wurde zunächst die vorgelagerte – und ungleich wichtigere – Frage ausgespart, ob Inhalt und Reichweite der einzelnen Rechte sinnvoll ausgestaltet sind, oder ob sie in mehr oder weniger starkem Maße reformiert (oder sogar gänzlich abgeschafft) werden sollten. In diesem Fall würden "Piraten" – also diejenigen, die das Befolgen der alten Spielregeln verweigern – zwar den Buchstaben des Gesetzes verletzen, in der Sache jedoch Vorreiter einer notwendigen und überfälligen Entwicklung sein.
Diese Fragen werden mit wachsender Dringlichkeit im Hinblick auf das Urheberrecht diskutiert. Dass damit ein Nerv getroffen wird, zeigt sich in den politischen Erfolgen der Piratenpartei sowie in der heftigen Gegenreaktion derjenigen, die ihre derzeitige Position durch Forderungen nach einer Neuorientierung des Urheberrechts bedroht sehen. Bevor auf diese Diskussion näher eingegangen wird, ist anzumerken, dass nicht allein zum Urheberrecht, sondern auch zu anderen Bereichen des Immaterialgüterrechts kritische Stimmen vernehmbar sind. Noch am wenigsten betroffen ist dabei das Markenrecht, obwohl auch dort der konsumanheizende Effekt von Marken sowie die weitgehenden Verbotsrechte gegenüber Verhaltensweisen, durch die die Strahlkraft von bekannten Marken beeinträchtigt oder ausgenutzt werden könnte, kritisch kommentiert werden. Wesentlich stärker im Fokus steht dagegen das Patentrecht, dessen ursprüngliche Bestimmung, als Anreiz für Innovationen zu dienen, in vielen Bereichen zweitrangig geworden ist oder sich – bei pessimistischer Betrachtung – sogar in ihr Gegenteil verkehrt hat. So werden insbesondere im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie kleine und kleinste Komponenten einzelner Geräte durch eine Vielzahl von Patenten geschützt. Dies legt die Befürchtung nahe, dass erfinderische Aktivitäten eher gehemmt als gefördert werden. Tatsächlich zeigt sich die Wirkung von Patenten in diesem Sektor vorwiegend darin, dass jegliche Produktentwicklung multipler, vielfach gestaffelter Nutzungserlaubnisse bedarf, die zumeist auf Gegenseitigkeitsbasis mit Wettbewerbern ausgehandelt werden. Versagen diese Mechanismen und kommt es zu Streitigkeiten, kann dies im Hinblick auf die sich im Spiel befindlichen Summen und die enormen Kosten solcher Verfahren ruinös werden. Auf ganz anderer Ebene tragen ferner auch die Auseinandersetzungen um die ethische Dimension der Gentechnologie, die Ausnutzung genetischer Ressourcen von Ländern der "Dritten Welt"
Obwohl diese Fragen auf den ersten Blick mit der urheberrechtlichen Diskussion nichts gemein haben, liegt ihnen doch derselbe Kern zugrunde, der zugleich an das Wesen des immaterialgüterrechtlichen Schutzes rührt: Zurückführen lassen sich die kritisierten Effekte regelmäßig auf den Aspekt der Exklusivität, also die alleinige Zuweisung der Nutzungsmöglichkeit an den Rechtsinhaber, die es ihm erlaubt, andere von der Nutzung auszuschließen und dadurch für sich den größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Im Urheberrecht traditioneller Prägung wird dieses Grundmotiv allerdings von einem anderen Gedanken überlagert: Danach geht es auch oder vor allem darum, die persönlichen, ideellen Interessen des Urhebers an seinem Werk möglichst umfassend zu schützen. Genau bei diesem Punkt setzt jedoch die Kritik an: Nutznießer des heutigen Systems seien in Wahrheit keineswegs die Urheber, sondern die Verwerterindustrien. Unter dem Druck der Verhältnisse würden die Urheber – soweit sie nicht zur kleinen Gruppe hochbezahlter Stars gehören – ihre Rechte häufig vollständig und gegen geringe Honorarleistung an die Verwerter abtreten, die wiederum die Interessen der Kreativen gegenüber der Öffentlichkeit nur als Camouflage benutzten, um ihre Geschäftsmodelle abzusichern und die Gewinne in die Höhe zu treiben.
Ein naheliegender Einwand gegen das erste dieser Argumente lautet, dass zwar die gängige Praxis der Vertragsgestaltung zwischen Urhebern und Kreativen durchaus Anlass zur Kritik bietet, dies jedoch nichts daran ändert, dass das Urheberrecht auch für letztere eine einigermaßen gesicherte Einkommensbasis darstellt, deren Wegbrechen zu fühlbaren Einbußen führen würde. Zumindest ein Teil der Urheber wehrt sich daher auch vehement gegen die Vereinnahmung durch Protagonisten der uneingeschränkten Kopierfreiheit und erklärt sich stattdessen mit den Verwertern solidarisch.
Umdenken – aber wie?
Dass zumindest die Kreativen in gewissem Umfang vergütet werden sollten, gehört inzwischen wohl auch zum Grundkonsens, auf den sich nach den ersten aufgeregten Stellungnahmen viele gemäßigte Stimmen einigen können. Tatsächlich ist die Umwandlung des Rechts auf Ausschluss anderer in einen Anspruch auf Vergütung für den Fall der Nutzung einer geschützten Leistung nichts, was dem Urheberrecht grundsätzlich fremd wäre. Dies gilt vor allem für sogenannte Sekundärnutzungen sowie im Bereich der Schrankenbestimmungen: Ist ein Tonträger mit Zustimmung der Rechteinhaber veröffentlicht worden, darf er von jedermann öffentlich abgespielt werden, auch wenn dies zu kommerziellen Zwecken erfolgt. Allerdings werden in diesem Fall Gebühren fällig, die in Deutschland von der GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) eingezogen und verwaltet werden; dieser Fall bildet den Hintergrund für die Streitigkeiten zwischen der GEMA und den Betreibern von Clubs und Diskotheken. Ähnlich ist es bei der Privatkopie oder bei anderen Formen der Vervielfältigung zu privilegierten Zwecken: Auch insoweit ist das Verbotsrecht zugunsten eines Anspruchs auf angemessene Vergütung zurückgenommen worden, wobei letztere in der Form einer pauschalen Abgabe auf die zur Vervielfältigung genutzten Geräte erhoben wird. An solchen Modellen orientiert sich die Idee, Zugang und Nutzung digitaler Inhalte auf der Grundlage einer "Kulturflatrate" zuzulassen und damit alle Probleme aus der Welt zu schaffen: Aus den Geldern, die durch eine solche Vergütung – die beispielsweise im Zusammenhang mit dem Internetzugang erhoben werden könnte – generiert werden, könnten sowohl die Kreativen als auch die Produzenten
So einfach könnte die Lösung sein – solange man sich nicht in die Details vertieft. Denn auch wenn man dem Modell einer Kulturflatrate betont positiv gegenübersteht, lässt sich nicht übersehen, dass die Umsetzung eine Reihe von "Pferdefüßen" mit sich bringen würde. So würden die Verwaltung und die Verteilung der eingezogenen Mittel enormen Verwaltungsaufwand mit sich bringen. Auch die inhaltlichen Fragen dürften sehr schwer zu lösen sein: Wie sollte ein fairer, sinnvoller Verteilungsschlüssel aussehen? Wer sollte für dessen Festlegung zuständig sein? Ferner würde auch eine Kulturflatrate kaum etwas daran ändern, dass bestimmte Formen der Nutzung – etwa die Vervielfältigung zu kommerziellen Zwecken – unzulässig wären,
Was ist zu tun?
Heißt dies also, dass alles beim Alten bleiben muss? Sicher nicht. Bei allen Überspitzungen und polemischen Untertönen hat die Pirateriediskussion um das Urheberrecht im Internet ein sehr wichtiges Thema in die öffentliche Diskussion getragen und ihm so die nötige Aufmerksamkeit verschafft. Möglicherweise ist die entscheidende Frage auch schon nicht mehr, ob das System des Urheberrechts verändert werden sollte, sondern eher, wie wir mit den bereits eingetretenen Veränderungen umgehen und – soweit möglich – weitere Entwicklungen steuern können. Dass die einzelnen Schritte, die es zu unternehmen gilt, schwierig und kontrovers sein werden, steht auf einem anderen Blatt.
Wer ist also "Pirat"? Wie zu erwarten war, gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Für diejenigen, die für die Anwendung und Entwicklung des Urheberrechts ebenso wie des Immaterialgüterrechts insgesamt die Verantwortung tragen, lässt sich nur das Fazit ziehen, dass genau hingeschaut werden muss und die Lösung weder in einfachen Formeln noch in der Verwendung suggestiver Begriffe liegen kann.