Moderne Piraterie
Obwohl Piraterie eng verflochten ist mit der Seefahrt, war es lange Zeit ein vernachlässigtes, beinah vergessenes Phänomen. Erst einige spektakuläre Entführungsfälle vor Somalia im Jahr 2008 lenkten den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit auf diese Form der Kriminalität – obwohl auch in den Jahren zuvor weltweit Schiffe angegriffen wurden. Der geografische Schwerpunkt hatte sich nur aus den scheinbar fernen Gewässern Südostasiens vor die "Haustür Europas" in die Hauptverkehrsader im globalen Handel verlagert: in den Golf von Aden und den Indischen Ozean. Gleichzeitig erfolgte eine Neuausrichtung der Piraterie: Während in Südostasien vornehmlich Schiffe und Yachten überfallen werden, um Waren und Bargeld zu erbeuten, und nur in seltenen Fällen Handelsschiffe samt Besatzung entführt werden, veränderte das somalische "Geschäftsmodell" die Perzeption
In diesem Beitrag umreißen wir die Entwicklungslinien der Piraterie im Kontext der politischen Situation Somalias, zeigen Hintergründe und aktuelle Trends auf und weisen darauf hin, dass die Bekämpfung der Piraterie nicht nur rein militärischer Maßnahmen und der Unterstützung der Zentralregierung in Mogadischu bedarf, sondern vielmehr regionale und lokale Regime beziehungsweise Autoritäten eingebunden werden müssen.
Politischer Kontext – Somalia
Seit dem Kollaps der Regierung Siad Barre 1991 gilt das Land am Horn von Afrika gemeinhin als zerfallender Staat.
Der politische Kontext bietet nur teilweise einen Anhaltspunkt für die Entwicklung der somalischen Piraterie. Bestimmende Faktoren fragiler Staatlichkeit wie mangelnde Durchsetzungskraft politischer Institutionen, ein schwacher Sicherheitssektor, Korruption, ein hoher Grad an Gewalt oder geringe Einkommensmöglichkeiten unterstützen das Entstehen krimineller Strukturen generell. Treffen diese Faktoren auf Bedingungen, die speziell die Kriminalität auf See begünstigen (insbesondere die Nähe zu stark befahrenen Seewegen, lange, leicht zugängliche Küstenstreifen, Bevölkerungsteile mit Kenntnissen in der Seefahrt), dann ist das Vorkommen von Piraterie sehr wahrscheinlich.
Piraterie als lokales Phänomen
Aber obwohl all die genannten Faktoren auf einen Großteil Somalias zutreffen, ist Piraterie keineswegs ein gesamtsomalisches Phänomen. Während sich den Piraten fast die gesamte nördliche und östliche Küstenlinie als Ausgangspunkt anbietet, gibt es doch nur einige wenige Regionen, die ihnen als Rückzugsorte dienen und in deren vorgelagerten Gewässern sie entführte Schiffe bis zur Lösegeldübergabe festhalten können. Besonders die Dörfer entlang der Küstenlinie Puntlands am geografisch auffälligen "Horn" im Nordosten des Landes sowie einige Küstendörfer im Mudug in Zentralsomalia gelten als ihre Rückzugsbasen. Diese Regionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie erstens weder durch staatliche noch durch teilstaatliche Administrationen umfassend kontrolliert werden, zweitens kaum von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen betroffen sind, drittens infrastrukturell kaum erschlossen sind, viertens eine homogene Clanstruktur aufweisen und fünftens die Anwohner auf maritime Kenntnisse – etwa resultierend aus der Fischerei beziehungsweise in Puntland zudem die Mitarbeit bei Küstenwachen – zurückgreifen können. Die Entwicklung der Piraterie vor den Küsten Somalias lässt sich grob in drei Phasen zusammenfassen: Von Überfällen in Küstennähe, ausgeführt durch kleinere, lose organisierten Gruppen – der low scale piracy – über eine Phase der Professionalisierung zu Beginn des neuen Jahrtausends hin zur Phase der Eskalation und Expansion seit 2008.
Low Scale Piracy
Bis in das neue Jahrtausend hinein wurden seit 1991 jährlich rund 10 bis 20 Überfälle registriert, wobei gerade in dieser Zeit die Dunkelziffer als hoch gilt.
Phase der Professionalisierung
Seit 2002 operierten einige Piratengruppen vorrangig aus dem Grenzgebiet zwischen Somaliland und Puntland sowie aus der Bari-Region in Puntland heraus. Dass ihre Aktivitäten dabei kaum etwas mit der Abwehr illegaler Fischerei zu tun haben, sondern primär auf finanziellen Motiven beruhen, wird anhand der Entwicklungen zwischen 2003 und 2004 deutlich: Damals wurden von bis dato vor allem an Land aktiven Warlords mehrere Piratengruppen aufgebaut, die durchaus als Syndikate bezeichnet werden können. Diese Gruppen zeichneten sich durch klare Hierarchien und Zuständigkeiten aus und waren einzig darauf ausgerichtet, Schiffe anzugreifen und gegen Lösegelder wieder freizugeben. Unterstützung erhielten diese Gruppen von erfahrenen Piraten.
Phase der Eskalation und Expansion
Infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen 2006 ging die Piraterie entlang der gesamten Küste drastisch zurück, um dann über die Jahre 2007/2008 in die Phase der Eskalation zu münden. Vor allem zwei Faktoren waren hierfür entscheidend: Erstens begünstigte der Rückzug der Islamisten und das 2006/2007 entstandene Machtvakuum in Süd-Zentralsomalia die Reorganisation der Piratengruppen um verschiedene Warlords in Hobyo, Harardhere und Merka in Zentralsomalia. Denn dort entstanden Räume, die weder von gravierenden kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen waren noch irgendeiner staatlichen oder regionalstaatlichen Kontrolle unterlagen. Einhergehend mit einer politischen und wirtschaftlichen Krise in Puntland kam es zweitens zu einer Hyperinflation und zu Auflösungserscheinungen der dortigen staatlichen Sicherheitskräfte – auch der Küstenwache – mit der Folge eines massiven Anstiegs der Kriminalitätsrate. Der puntländischen Regierung entglitt weitgehend die Kontrolle über den nordöstlichen Küstenstreifen, insbesondere über die Regionen Bari, Nugaal und Mudug mit den Piratendörfern Eyl, Hafuun und Garacad. Die Piraten konnten sich entsprechend reorganisieren und erhielten zudem Zulauf aus dem Süden. Auch ehemalige Küstenwächter und Milizionäre schlossen sich den Piraten an.
Mit der zunehmenden Präsenz von Marinestreitkräften zum Schutz der Schifffahrt vor Piraterie seit Ende 2008 etwa im Rahmen der EU-Operation ATALANTA
Motivationen und Organisationsstrukturen
Dieser Überblick über die Entwicklung der somalischen Piraterie verdeutlicht einmal mehr, dass diese ein zunehmend organisiertes Verbrechen ist, getrieben durch Lösegeldeinnahmen. Diese haben sich in den vergangenen Jahren rapide erhöht: Wurden in den 1990er Jahren noch einige Hunderttausend US-Dollar pro Schiff bezahlt, so waren es 2009 im Durchschnitt rund 3,4 Millionen und 2010 bereits mehr als 5 Millionen US-Dollar.
Aktuelle Trends
Blieben die Zahlen 2010 auf nahezu gleichem Niveau wie im Vorjahr (219 Angriffe, 49 Schiffsentführungen und 1016 entführte Crewmitglieder), ist seit 2011 ein Rückgang bei den erfolgreichen Angriffsversuchen festzustellen: Zwar wurden immer noch 237 Attacken registriert, diese verliefen jedoch mit 28 entführten Schiffen in lediglich 12 Prozent der Fälle aus Sicht der Piraten erfolgreich. Dieser rückläufige Trend setzt sich seitdem fort und schlägt sich seit Frühjahr 2012 erstmals auch in den Angriffszahlen nieder: Für das gesamte erste Halbjahr 2012 wurden "nur" 69 Angriffe und 13 Schiffsentführungen registriert, während im gleichen Vorjahreszeitraum bereits 163 Angriffe und 21 Entführungen erfolgt waren.
Neben dem Druck von See sehen sich die Piraten auch an Land mit zunehmender Gegenwehr konfrontiert, was sich gerade auf lange Sicht als effizienter und effektiver erweisen könnte: Puntland ging im Frühjahr 2012 erstmals mit eigenen, neu aufgestellten Sicherheitskräften – den Puntland Maritime Police Forces (PMPF) – gegen einige bekannte Stützpunkte der Piraten vor und es gelang ihnen, ehemalige Piratendörfer wie Eyl zu sichern. Auch die lokale Bevölkerung entlang der nordöstlichen Küste setzte sich teilweise gegen Piratengruppen zur Wehr und verweigerte ihnen den Zugang zu ihren Dörfern. Innerhalb der Piratengruppen ist ebenfalls ein Wandel erkennbar. Der Verlust von Rückzugsbasen durch landgestützte militärische und polizeiliche Maßnahmen hat sie zur besseren Zusammenarbeit gezwungen. Zudem haben einige Piratengruppen nicht nur ihren Operationsradius erweitert, sondern auch ihre Angriffstaktik an die verschärften Gegenmaßnahmen auf den Schiffen angepasst: Sie greifen vermehrt mit mehreren Skiffs gleichzeitig an, um den Besatzungsmitgliedern und etwaigen privaten Sicherheitsteams die Abwehr zu erschweren und verfügen über bessere technische Ausrüstung wie Satellitentelefone oder GPS-Geräte.
Durch die zurückgehende "Erfolgsquote" sind die Piraten obendrein gezwungen, immer höhere Lösegelder zu akquirieren, um ihre eigenen Investitionen zu decken. Dies führte dazu, dass sich die Dauer der Lösegeldverhandlungen seit 2008 erheblich verlängerte. Wurde 2008 und 2009 noch relativ selten von gewaltsamen Übergriffen der Piraten auf ihre Geiseln berichtet, so wenden die Gruppen nun auch deutlich häufiger Gewalt an, um den Druck auf die Reeder im Zuge der Verhandlungen zu erhöhen. Zudem werden auch nach einer Lösegeldzahlung teilweise einige Besatzungsmitglieder zur Erfüllung weiterer Forderungen zurückbehalten. Und nicht zuletzt haben einige Gruppen aufgrund des eingegrenzten Handlungsspielraums auf hoher See ihr "Geschäftsmodell" auf die Entführung von westlichen Urlaubern aus kenianischen Luxusressorts und Mitarbeiter internationaler und nationaler Hilfsorganisationen ausgeweitet.
Fazit
Die Entwicklung der somalischen Piraterie seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 basiert auf einer regionalen und lokalen Gemengelage soziopolitischer und ökonomischer Faktoren sowie der Initiative krimineller Akteure zur Etablierung eines lukrativen "Geschäftsmodells" zur See. Das internationale politische Engagement zur Pirateriebekämpfung stützt sich bislang vorrangig auf seeseitige, militärische Abschreckungsmaßnahmen, den Aufbau beziehungsweise Ausbau von Strafverfolgungsmechanismen in der angrenzenden Region sowie, mit der Unterstützung der Übergangsregierung in Mogadischu, auf einen state-first Ansatz. Sicherlich kann vor allem militärisches Engagement abschreckend auf die Piraten wirken und hat auch bereits zu einer Verbesserung der Lage geführt. Ein langfristiger Erfolg im Sinne einer tatsächlichen Unterbindung der somalischen Piraterie ist damit jedoch nicht gesichert. Die schiere Größe des Einsatzgebietes, Priorisierungen im Mandat sowie nationale Vorbehalte setzen den Militärkräften bereits enge Grenzen. Vor allem aber gilt sowohl ihr als auch der Einsatz der privaten Sicherheitskräfte allein der Abwehr von Angriffen, während die Ursachen des Problems an Land nach wie vor kaum angegangen werden: Lokale Sicherheitsstrukturen und Initiativen zur Bekämpfung der Aktivitäten von Piraten wurden bisher entweder kaum wahrgenommen oder kritisch beäugt statt aktiv gefördert.
Gleichwohl bietet die derzeitige Situation mit einer rückläufigen Angriffs- und Entführungsquote Chancen, die politisch genutzt werden können: Da die Übergangsregierung bislang in keiner der Regionen Einfluss entfalten konnte, aus denen heraus die Piraten operieren, sollte nun – im Sinne einer Somalisierung – verstärkt in einem Mehrebenenansatz mit regionalen und lokalen Autoritäten und Gemeinschaften vor allem in Puntland und im Mudug zusammengearbeitet werden. Dabei könnte die Bildung landbasierter Küstenwachen und Milizen zur Sicherung der Küstendörfer ebenso unterstützt werden